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wissen, daß Ihr Glaube Ihnen heilig ist." Es entspricht dieser| Werthung, daß der offizielle Vertheidiger unserer Genossin vor dem Kriegsgericht, ein Lieutenant, es in schärfster Form als eine un­würdige Beleidigung und Verdächtigung einer edlen Frau" zurück­wies, als der Staatsanwalt offenbar im Banne des Prostitutions­geistes stehend, der die bürgerliche Auffassung von den Beziehungen der Geschlechter beherrscht von Andreina als der vorgeblichen Tochter Costas" sprach.

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Hand in Hand mit der aufreibenden Berufsthätigkeit Anna Kulischoffs ging ein nie rastendes Wirken für die sozialistische Bewegung, und zwar vorwiegend für deren innere Entwicklung, Klärung, Vertiefung und Festigung. Mit ihrem Gatten zusammen schuf und leitete sie das wissenschaftliche Organ der italienischen  Sozialisten, La Critica Sociale". Jahre lang haben die Beiden die größten materiellen Opfer gebracht von den Opfern an Zeit und Kraft abgesehen um das Erscheinen der Zeitschrift zu ermöglichen, und auch jetzt konnte sich dieselbe nur halten, weil Filippo und Anna alle Redaktions- und Expeditionsarbeiten selbst besorgten und noch einen sehr großen Theil der veröffentlichten Artikel selbst verfaßten. Die Critica Sociale  " hat unter den schwierigsten inneren und äußeren Umständen mit rühmenswerther Klarheit und Festigkeit den modernen wissenschaftlichen Sozialismus vertreten. Es ist ganz wesentlich mit ihr Verdienst, wenn heutigen Tages in der industriell hochentwickelten Lombardei   die sozialistische Arbeiterbewegung theoretisch und praktisch auf dem Boden steht, in dem die deutsche   Sozialdemokratie wurzelt, und wenn die Prinzipien und die Taktik der lombardischen Kerntruppe mehr und mehr maß­gebend für die sozialrevolutionären Strömungen von ganz Italien  . werden. Denn die Critica" hat in unablässiger und oft recht harter Arbeit ungeheuer viel dazu beigetragen, daß der Generalstab der sozialistischen   Armee des Landes aus anarchistelnd- kleinbürgerlichen Ideologen zu überzeugten und flaren Anhängern des wissenschaft­lichen Sozialismus erzogen worden ist. Unserer Genossin Kulischoff aber fällt ihr reichlich Theil an diesem Verdienst zu. Die Redaktion der Critica", ihre Haltung beruhte auf dem innigsten geistigen 3u­sammenarbeiten von Filippo und Anna. Frau Kulischoff zeichnete nur ganz ausnahmsweise einen Artikel mit ihrem Namen. Aber jeder Artikel, den Turati schrieb oder der von der Redaktion" ver­öffentlicht wurde, war die Frucht der gemeinsamen Ueberlegung und Berathung, sehr oft auch der gemeinsamen Abfassung. So innig und ergänzend griff das Denken und Arbeiten der Gatten ineinander, so fest fügte es sich zur geistigen Einheit zusammen, daß es meist un­möglich ist, festzustellen, was das persönliche Werk des Einen oder des Anderen ist.

Mehrere Umstände befähigten Frau Kulischoff ganz vorzüglich, die innere Entwicklung der italienischen   Sozialistenpartei mächtig zu fördern. Sie besaß treffliche Sprachkenntnisse. Außer der Sprache ihrer Heimath und der ihres Adoptivvaterlandes beherrschte sie treff­lich das Französische, Deutsche   und Englische. Dazu eignete ihr ein gediegenes, geschichtliches und nationalökonomisches Wissen, sie war mit der sozialistischen   Literatur der verschiedenen Länder aufs Beste vertraut und verfolgte aufmerksam nicht blos die einschlägigen wissen­schaftlichen Erscheinungen, sondern auch die innere und äußere Ent­wicklung des proletarischen Klassenkampfs in allen Kulturstaaten. Eine besonders eingehende und liebevolle Beachtung widmete sie der deutschen Bewegung, für welche sie die größte Hochachtung und Be­wunderung hegte. Frau Kulischoff hat zusammen mit Turati und einigen Anderen sehr viel dazu beigetragen, der deutschen Sozial­demokratie das Verständniß und die Sympathie der Italiener zu ge­winnen, und sie als Musterpartei des Klassenkampfs erscheinen zu lassen. Keine Kleinigkeit, wenn man des romanischen Nationalcharakters der Leute, jenseits der Berge" gedenkt, der so weit von deutscher Eigen­art abweicht, dazu der rückständigen wirthschaftlichen Entwicklung des Landes, die zusammen mit dem nationalen Wesen die Hinneigung zu Kleinbürgerlich- ideologischer Revolutionsromantik begünstigen muß.

Auch innerhalb der Parteiorganisation wirkte Anna Kulischoff unmittelbar und mittelbar für Klärung und Zusammenschluß. Mancher wichtige Beschluß der Partei über Prinzipien und Tattit ist auf ihre Anregung oder ihren Einfluß zurückzuführen; ihrer energischen Initiative ist die Jnangriffnahme mehr als einer Aktion zu danken. Die Schärfe und Unbeugsamkeit, mit der sie ihre Ueberzeugung auch gegenüber den Parteigenossen vertrat, schufen ihr manche offene und heimliche Gegnerschaft. Ihre durch Wissen verstärkte geistige Ueber­legenheit, die scharfe echt russische Logik ihrer Beweisführung, ihr frischer Spott, der sich zur beißenden Jronie steigern konnte, und der sich besonders oft über die Ritter der ideologisch rührseligen Re­volutionsphrase ergoß: machten sie zu einer gefürchteten Gegnerin. Die Lauterkeit ihres Charakters und ihres Strebens zwang jedoch auch dem Gegner volle Hochachtung ab. Zahlreiche italienische   Ge­

nossen sind durch den Verkehr im gastfreien Hause am Mailänder Domplatz im besten Sinne des Wortes die Schüler von Frau Kulischoff gewesen. Mit unerschöpflicher Liebenswürdigkeit, ohne jede schul­meisterliche Pedanterie und Ueberhebung theilte sie von den Schätzen ihres Wissens und ihrer Erfahrung mit, zu ernsten Studien an­regend, unklare Schwärmerei zum flaren Erfassen des wissenschaft­lichen Sozialismus läuternd, zu einem steten Vorwärts und Aufwärts der Entwicklung und Bethätigung aneifernd.

Das Schwergewicht von Anna Kulischoffs Wirken in der sozia­ listischen   Bewegung liegt unstreitig nach Innen. Aber auch als Agitatorin in Wort und Schrift hat sie sich bethätigt. Ihr agitato­risches Wirken, das besonders in die letzten Jahre fällt, galt in erster Linie den proletarischen Frauen. Ihr trauriges Loos zu erleichtern durch die Gewerkschaftsorganisation und durch eine wirksame Schutz­gesetzgebung, sie zu zielbewußten Kämpferinnen im Klassenstreit zu erziehen: das war das Ziel, das Anna Kulischoff in dieser Beziehung erstrebte. Die färglich entlohnten Spinnerinnen und Weberinnen der Lombardei  ; die bis aufs Blut ausgesaugten Reisarbeiterinnen der Poebene  ; die verhungernden Strohflechterinnen von Florenz  : sie alle, die in trostloser Verzweiflung dem Kapital frohnden, fanden in unserer Genossin eine mitfühlende, kundige und energische Sachwalterin. In Mailand   wirkte Frau Kulischoff unablässig für die Erweiterung und den Ausbau der gewerkschaftlichen Arbeiterinnenorganisation, welche der Arbeiterkammer   angegliedert war. Ueber die von ihr eingeleitete Aktion zu Gunsten des gesetzlichen Arbeiterinnen- und Kinderschutzes hat die Gleichheit" seinerzeit berichtet. Nur wenig Männer haben in Italien  gleichviel wie Anna Kulischoff für die sozialistische Bewegung geleistet. Es war deshalb nicht ein Akt der Höflichkeit gegen die Frau, es war der Ausdruck der Anerkennung, welche der erprobten Kämpferin ge­schuldet ist, als 1893 der internationale Kongreß zu Zürich   in seiner letzten Sitzung die Genossin Kulischoff zur Vorsitzenden bestimmte.

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Kein Wunder, daß die vielseitige und anstrengende Thätigkeit die Entwicklung der Krankheit begünstigte, die sich Frau Kulischoff in der Studierzeit geholt. Vor etwa drei Jahren war unsere Ge­nossin gezwungen, ihre ärztliche Praxis aufzugeben, weil die Knochen­tuberkulose die fast völlige Gebrauchsunfähigkeit der einen Hand herbei­geführt hatte. Mit verdoppeltem Eifer wirkte die edle Frau seither für die sozialistische Idee.

Das Bild von Anna Kulischoffs Persönlichkeit wäre unvollständig ohne einige Striche, welche die Frau und Mutter charakterisiren. Nichts in Frau Kulischoffs Wesen und Lebenshaltung entsprach der gruseligen, traditionellen Spießbürgervorstellung von der kämpfenden Politikerin, der Petroleuse". Nur die Zigarette, die weder bei der Unterhaltung, noch bei der Arbeit ausging, erinnerte an die typische Nihilistin  ". Als treffliche Hauswirthin waltete Frau Anna in dem eleganten, mit geläutertem künstlerischen Geschmack eingerichteten Heim, wo alles jederzeit blizblank und in schönster Ordnung war. Mit größter Pünktlichkeit ging unsere Genossin ihren vielseitigen Geschäften nach. Ordnung und gute Zeiteintheilung verlängern den Tag um die Hälfte", pflegte sie zu sagen.

Ihrer Tochter war Frau Kulischoff die verständigste und liebe­vollste der Mütter. Mit größter Gewissenhaftigkeit überwachte sie die körperliche, geistige und sittliche Entwicklung ihrer Andreïna, eines begabten, ideal veranlagten Mädchens, das in schwärmerischer Ver­ehrung an der Mutter wie an dem Stiefvater hängt. Die Mutter nahm ebenso lebhaften Antheil an den Freundschaften und Freuden der Tochter, wie an ihren Studien, ihrer Lektüre, ihren Schulaufgaben. Eine tiefe und innige Harmonie verbindet die Gatten, die in gegen­seitiger Förderung und miteinander strebten, arbeiteten und kämpften. Was die Liebe, die Wahlverwandtschaft des Geistes und Charakters zusammengeführt, das schmiedete die Gemeinsamkeit der Ideale zu einer unlösbaren sittlich schönen Einheit zusammen. Es giebt wenig Ehen, die sich an wahrhaft sittlichem Gehalt neben die Ehe stellen dürfen, welche die Frau geführt, von der die moralisch unsauberen Lands­fnechte der bürgerlichen Presse als von Turatis Maitresse" sprachen. Wir schreiben von Frau Kulischoff in der Vergangenheit, fast wie von einer theueren Todten, denn die italienische   Klassenjustiz hat sie für zwei Jahre zu einer lebendig Begrabenen gemacht, ja höchst wahrscheinlich zu einer Gemordeten. Das bösartige Leiden, das an unserer Genossin Lebensmark zehrt, verwandelt die zweijährige Ge­fängnißstrafe so gut wie in ein Todesurtheil. Unter den günstigsten Bedingungen verschlechterte sich der Zustand der Kranken im Winter regelmäßig in besorgnißerregender Weise. Welchen mörderischen Ein­fluß muß da nicht der Aufenthalt in dem falten, düsteren, sonnenlosen Kerker ausüben?

Aber nicht die körperlichen Leiden und die Qualen der Haft sind es, die Frau Kulischoff die schwerste Pein schaffen. Es ist der die Seele der Mutter wie ein Schwert durchbohrende Gedanke an die zurückgelassene Tochter, die gerade während der Untersuchungs­