Das passive Wahlrecht ist ihnen allerdings vorenthalten: sie können nicht zu Mitgliedern der Gewerbegerichte gewählt werden. Am 26. Juni fanden in Reichenberg   die Wahlen zu dem errichteten Gewerbegerichte statt. Die Betheiligung der Arbeiterinnen an diesen Wahlen war trok verschiedener ungünstiger Umstände eine sehr rege. Es wurde nämlich von 10 Uhr Vormittags bis 2 Uhr Nachmittags gewählt, also in einer Zeit, wo die Arbeiterinnen die Pause in ihrer Berufsthätigkeit zu dringenden Hausgeschäften nüßen müssen. Dazu kam, daß der weitaus größte Theil der Wahlberechtigten außerhalb Reichenbergs wohnt und ein bis zwei Stunden zum Wahlorte zu gehen hatte. Trotzdem warteten schon vor 10 Uhr Hunderte von Arbeiterinnen auf die Eröffnung der Wahllokale. Von den ihr Stimmrecht ausübendenden Wählern der einen Sektion waren gute zwei Drittel Arbeiterinnen. Hunderte von Arbeiterinnen mußten wieder nach Hause gehen, ohne gewählt zu haben, weil es ihnen unmöglich war, stundenlang zu warten. Dichte Schaaren von Frauen und Mädchen standen fest eingeteilt vor dem Eingang zu den Wahl­lokalen. In Brünn  , wo gleichfalls die Wahlen zu dem Gewerbegerichte stattfanden, stimmten ebenfalls die Arbeiterinnen in großer Zahl ab. Mit rothen Nelken geschmückt zogen sie in Schaaren zur Wahlurne. In Wien  , wo die Wahlen noch nicht erfolgt sind, wird seitens der Genossinnen eine rührige Agitation entfaltet, damit die Masse der Arbeiterinnen Gebrauch von dem Wahlrecht macht. Die bis jetzt in Desterreich vorliegenden Erfahrungen zeigen, wie unstichhaltig das Gerede ist, die Arbeiterinnen würden das Wahlrecht zu den Gewerbe­gerichten nicht zu schäßen wissen und nicht gebrauchen. Diese Er fahrungen vermehren die Gründe, mit denen die deutschen   Ge­nossinnen ihre Forderung stützen: Her mit dem Wahlrecht für die Gewerbegerichte.

Frauenbewegung.

In Sachen des medizinischen Studiums und der ärzt­lichen Berufsthätigkeit der Frauen hat jüngst der 26. Deutsche Aerztetag in Wiesbaden   einen Beschluß gefaßt, der in seiner Vor­sintfluthlichkeit sich würdig den bekannten Auslassungen im preußischen Abgeordnetenhause anreiht, diese aber in der Hervorkehrung gehässiger und eigennütziger Motive weit übertrifft. Man hat dort zur Frage mit allen gegen eine Stimme folgende Thesen angenommen und sich mit den entsprechenden Ausführungen des Referenten einverstanden erklärt: I. Wenn vorläufig die Zulassung der Frauen zum ärztlichen Beruf auf Grund der gleichen Bedingungen, wie beim Mann, nur gestattet, aber nicht( z. B. durch staatliche Mädchengymnasien) er­leichtert wird, so ist zunächst kaum ein stärkerer Zudrang der Frauen und deshalb weder besonderer Nutzen noch Schaden zu erwarten. II. Wenn aber auf Grund weiterer Zugeständnisse und bisher nicht übersehbarer Verhältnisse ein größerer Zudrang entstehen würde, so wird 1. fein erheblicher Nußen für die Kranken, 2. mehr Schaden als Nutzen für die Frauen selbst, 3. mindestens kein Nußen für die deutschen   Hochschulen und die Wissenschaft, 4. eine Minderung des ärztlichen Ansehens, 5. keine Förderung des allgemeinen Wohles zu erwarten sein. Aus diesen Gründen ist es nicht zweckmäßig, gerade mit der Medizin den ersten Versuch einer Zulassung der Frauen zu den gelehrten Berufsarten zu machen. Speziell vom Standpunkt der ärztlichen Standesvertretung aus ist mindestens eine gleichzeitige Zu­lassung zu allen gelehrten Berufszweigen zu verlangen." In den Erläuterungen zu diesen Thesen wußte der Herr Referent, Professor Penzoldt- Erlangen, wieder einmal gar erbaulich davon zu reden, daß sich aus der Zulassung der Frauen zum medizinischen Studium und zur ärztlichen Praxis, weder ein besonderer Nutzen für die Kranken, noch für die Frauen selbst, noch für die Wissenschaft konstatiren lasse". Den Anforderungen des ärztlichen Berufes an körperlichen Leistungen, geistiger Energie und Verantwortung werde die Frau nicht genügen fönnen. Die Thätigkeit der Aerztinnen werde deshalb zu einer Minde­rung des ärztlichen Ansehens führen. Dagegen sei es angezeigt, einen höheren Heilgehilfenstand zu schaffen, zu dem die medizinisch aus­gebildeten Frauen zuzulassen seien. Auch der Beruf als Apothekerin, Hebamme und Zahnärztin könne dem weiblichen Geschlecht offen stehen. Die Wohlfahrt des Volkes verlange weniger geistreiche und gebildete, als gesunde und gute Frauen. Die Frau in Küche und Haus werde dem Arzte immer sympathischer sein, als die Medizinstudirende. Zwei Kongreßtheilnehmer, Sachs- Breslau und Reich- Breslau, formulirten drei Thesen, in denen sie gleiche Vorbildung, Ausbildung und Prü­fung für männliche wie weibliche Aerzte forderten. Diese Thesen, die an und für sich als selbstverständlich und gerecht erscheinen, zeigen ihre gegen die Frauen gerichtete Tendenz, wenn man eines festhält: in Deutschland   fehlen entweder ganz oder zum größten Theile die Vorbedingungen, welche es den Frauen ermöglichen, diesen Forde rungen zu genügen. Frauen werden z. B. nicht zum medizinischen Staatsexamen zugelassen. Herr Professor Dr. Penzer- Berlin trat für

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Verantwortlich für die Redaktion: Fr. Klara Zetkin  ( Eißner) in Stuttgart  .

die Ablehnung aller Thesen und für freie Bahn für Frau und Mann ein. Es hieße Eulen nach Athen tragen, wollte man immer wieder darthun, daß die Frau für kaum einen anderen Beruf so viel Eig­nung besitzt, wie für den des Arztes. Eine stattliche Anzahl von Aerztinnen   hat das übrigens in den verschiedensten Ländern glänzend bewiesen. Wahrlich, wem gegenüber der in Wiesbaden   wiederum beliebten einseitigen und kurzsichtigen Behandlung der Frage, dem Hervorkehren des plattesten Interessenstandpunktes und der blassen Furcht vor dem Wettbewerb der Frau, einer Furcht, die sich unter der heuchlerischen Maske der Besorgniß für die Gesundheit, die Weiblichkeit, das allgemeine Glück des Weibes versteckt, die Augen nicht darüber aufgehen, was die bürgerlichen Frauenrechtlerinnen von ihren männlichen Klassengenossen zu erwarten haben, dem kann nicht geholfen werden. Die Zeit des Petitionirens, außer etwa zu demonstrativen Zwecken, ist vorüber. Es gilt für alle Frauen, im Kampfe der Parteien klar und unzweideutig Stellung zu nehmen und im Kampfe sich ihre Rechte zu erringen.

H. F.

Wie man in Rußland   über den zopfigen und eigennützigen Beschluß des Wiesbadener Aerztetags in Sachen des medizi nischen Frauenstudiums urtheilt, das erhellt aus folgenden Aeuße­rungen der Now. Wremja". Das Blatt schreibt: Mit lebhaftem Interesse haben die russischen Aerzte von Anfang an das medizinische Studium der Frauen verfolgt, und es bedarf kaum noch der Auf­zählung derjenigen Koryphäen der Medizin, die selbst für das Frauen­studium eingetreten sind. Die Frauenärztinnen haben sich durch be­scheidene Ansprüche und durch einen ungemein pflichttreuen Umgang mit den Kranken, wozu sie ganz besonders prädestinirt zu sein scheinen, in der Praxis glänzend bewährt. Die Opferfreudigkeit der weiblichen Aerzte ist keineswegs geringer als die der männlichen; dafür bieten ihre Leistungen im Kriege Beweise, denen Niemand die vollste Werth­schätzung versagen konnte. Auch innerhalb ihrer großstädtischen Wirksamkeit während verheerender Epidemien haben die Aerztinnen in den verworfensten Spelunken eine sympathische, ja menschlich rüh­rende Mühewaltung entfaltet, so daß es eine schreiende Ungerechtig­keit wäre, den Nutzen der frauenärztlichen Thätigkeit in Frage zu stellen. Wer das versucht, will sich auf gewisse französische   Theorien und nicht auf die überzeugende Praxis stützen! Um so überraschender aber ist das Resultat der Verhandlungen auf dem Wiesbadener   Aerzte­tag betreffs Zulassung der Frauen zum Studium der Medizin! Die Presse hat überall ihre Verwunderung zum Ausbruch gebracht über die von berufener Seite vertretene Meinung über eine der wichtigsten Fragen. Frauen und Kinder fordern dringend die Hilfeleistung weib­licher Aerzte, und wer sie als nuzlos kennzeichnet, urtheilt zum min­desten leichtfertig. Der ganze Protest der Aerzte gegen das medizi­nische Studium der Frauen ist lediglich der Furcht vor der Konkur­renz zuzuschreiben. Die deutschen   Aerzte sind augenscheinlich bemüht, die Stufe der medizinischen Frauenbildung herabzudrücken und den Frauen nur die untergeordneten Rollen der Massagistinnen, Hebammen und der barmherzigen Schwestern zuzuerkennen." Die besitzende und gebildete Männerwelt Deutschlands   erweist sich rückständiger wie die betreffenden Kreise im barbarischen Rußland  ". Welche beschämende Thatsache!

Weibliche Aufsicht über die von der Stadt Stuttgart   in Pflege gegebenen Mädchen soll eingeführt werden. Die Anregung dazu ist auf die Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins zurückzuführen, die im Herbste letzten Jahres in Stuttgart   tagte. Frl. Mellien- Berlin hielt damals über die Ver­wendung von Frauen bei der Fürsorge für jugendliche weibliche Gefangene und in Pflege gegebene Mädchen einen Vortrag, der wohl höherer sozialer Gesichtspunkte ermangelte, aber die Frage an und für sich", innerhalb eines beschränkten Rahmens trefflich behandelte. Die Stuttgarter   Stadtgemeinde hat nun der gegebenen Anregung ent­sprechend beschlossen, dem Stuttgarter Frauenverein zur Ver­sorgung verwahrloster Kinder die Kontrolle und Aufsicht über die in Anstalten und bei Privatpersonen untergebrachten sittlich ge­fährdeten Mädchen zu übertragen. Die Armenpfleger, denen diese Aufgabe bisher zugewiesen war, waren nicht immer im Stande, ihr mit Erfolg gerecht zu werden. Die Heranziehung der Frauen zu dem neuen öffentlichen Wirkungskreise soll also einem dringenden Bedürfniß abhelfen. Die Aufsicht des Frauenvereins erstreckt sich über einige Hundert sittlich gefährdeter Kinder.

Die Zulassung der Frauen zur Ausübung der Advokatur im Kanton Zürich   wurde am 3. Juli in der Volksabstimmung mit 21717 gegen 20046 Stimmen angenommen. Das ganze Gesetz, die Neuregelung der rechtsanwaltlichen Praxis betreffend, gelangte mit 24283 gegen 17595 Stimmen zur Annahme. Bekanntlich wurde über § 5 des Gesetzes, der die Advokatur der Frauen vorsieht, getrennt abgestimmt.

Drud und Verlag von J. H. W. Die Nachf.( G. m. b. H.) in Stuttgart  .