Frauenrechtlerinnen stehen dem Antrag Argeliès nicht müßig gegen­über. In Vorträgen und Artikeln treten sie dafür ein, daß den Frauen das Stimmrecht zu dem kommunalen Referendum durch das Gesetz gesichert werde. Der Kammer soll eine auf die Forderung bezügliche Petition zugehen, welche schon zahlreiche Unterschriften aufweist.

Die, National Union of Women's Suffrage Societies"( Landes­verband der Vereine zur Erringung des Frauenstimmrechts) hielt Mitte Juli in London   ihre Jahresversammlung ab. Dem Verband gehören sechzehn Organisationen an, darunter auch irische, welche den verschiedensten politischen Parteien anhängen, aber in der Forde­rung des Frauenwahlrechts übereinstimmen. Die Jahresversammlung wurde von Lady Frances Balfour, der Tochter des Herzogs Argyll, geleitet, welche die Vorsitzende des Verbandes ist. Mrs. Fawcett, eine der energischsten und rührigsten bürgerlichen Vorkämpferinnen für die volle politische Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts, sprach über das Vorgehen behufs Eroberung des Frauenstimmrechts. Ihre Ausführungen über die Aussichten der Bewegung für die nächste Zukunft flangen nicht sehr hoffnungsvoll. Die konservative, fast reaktionäre Majorität im jetzigen Parlament ist ihrer Ansicht nach der Erringung des Frauenstimmrechts nicht günstig. Es sei deshalb eventuell räthlich, diesbezügliche Eingaben und Anträge einstweilen zu unterlassen, bis die liberale Strömung wieder die Oberhand ge­wonnen habe. Der Glanzpunkt der Jahresversammlung war der Bericht des Mr. Cockburn aus Süd- Australien   über die Erfah­rungen, die man daselbst bezüglich des Frauenstimmrechts gemacht hat, und die durchaus dazu ermuthigen müssen, dem weiblichen Ge­schlecht in allen Staaten das Wahlrecht zuzuerkennen. Seine sehr interessanten Ausführungen, die wir weiter unten wiedergeben, wurden mit begeistertem Beifall aufgenommen. Der neugewählte Vorstand des Verbandes besteht aus 21 Damen und 10 angesehenen Parlaments mitgliedern. Zehn leibhaftige und obendrein angesehene Parlaments­mitglieder im Ausschuß eines Verbandes für Erringung des Frauen­stimmrechts! Wir wetten, ob dieser greuelhaften Thatsache sträubt sich der Zopf, der schwer und lang fast allen unseren bürgerlichen Reichstagsabgeordneten im Nacken baumelt. Offenbar nicht aus be­schränktem Vorurtheil, bewahre, lediglich zur Bekundung der innigen Geistesverwandtschaft mit unseren angepachteten" lieben Volts­genossen" in Riautschou.

Keine frauenrechtlerische Unterstützung für Parlaments­kandidaten ohne deren Eintreten für das Frauenstimmrecht, so lautet ein Beschluß, den die Zweigvereine von Lancashire  und Cheshire   der Women's Liberal Federation"( Libe­ralen Frauenverbandes) auf ihrer Jahresversammlung zu Manchester   annahmen. Im Lager der englischen Frauenrecht­lerinnen ist man nicht einig über die folgende Frage: Sollen die Frauen im Wahlkampf ihren sehr geschätzten und manchmal aus­schlaggebenden Einfluß nur für Kandidaten in die Wagschale werfen, welche für die volle politische Gleichberechtigung der Ge­schlechter sind oder auch für solche Bewerber um ein Mandat, welche zwar im Allgemeinen den frauenrechtlerischen Forderungen sym­pathisch gegenüberstehen, aber für das Frauenstimmrecht nicht ein­treten? Die in Manchester   tagenden Frauenrechtlerinnen waren der radikaleren Ansicht. Sie gaben ihrer Auffassung durch die Annahme einer Resolution Ausdruck, die von der Gruppe Southport   ein­gebracht worden war und von vielen anderen Zweigvereinen unter­stützt wurde. Sie lautet: Die Versammlung bekennt sich zu der Ansicht, daß feine, Women's Liberal Association'( Liberaler Frauen­verein) für die Parlamentswahl eines Kandidaten wirken sollte, welcher Gegner des Frauenstimmrechts ist. Sie ist nämlich der Ueber­zeugung, daß das Frauenstimmrecht, dieser höchste Ausdruck der Ge­rechtigkeit gegen die Frau, nur erlangt werden kann, wenn Abge­ordnete in das Parlament entsendet werden, welche der Forderung günstig gesinnt sind." Im Gegensatz zu dieser Resolution steht leider ein Beschluß der Hauptversammlung der Women's Liberal Federation"( Liberalen Frauenverbandes), die in London   statt fand. Auf dieser Tagung überwog das gemäßigte" frauenrechtlerische Element. Eine starke Majorität entschied, daß die Stellungnahme der Kandidaten dem Frauenstimmrecht gegenüber nicht ausschlaggebend sein soll für die Unterstützung von Seiten der Frauenorganisationen.

Ueber die Erfahrungen mit dem Frauenstimmrecht in Süd- Australien   berichtete in sehr interessanter Weise Mr. Cockburn auf der Jahresversammlung der ,, National Union of Women's Suffrage" in London  . Mr. Cockburn war zur Zeit der Bewegung zu Gunsten des Frauenstimmrechts Minister in Süd- Australien   und gehörte zu den eifrigen Befürwortern der geforderten Reform. Was er betreffs der Erfahrungen mit dem Frauenstimmrecht berichtete, beruht auf eigener persönlicher Anschauung. Mr. Cockborn widerlegte zuerst die

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Berantwortlich für die Redaktion: Fr. Klara Zetkin  ( Eißner) in Stuttgart.  -

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vielverbreitete Befürchtung, daß durch das Wahlrecht der Frau Zwie­tracht in die Familien getragen werde. In Süd- Australien   habe man allgemein beobachtet, daß alle wahlberechtigten Glieder einer Familie für die nämliche Partei stimmten. Nicht immer indessen hätten die Frauen sich der politischen Ansicht des Gatten, der Brüder 2c. angeschlossen. Sehr oft wäre das flare politische Urtheil der Frauen von ausschlaggebendem Einfluß auf die Abstimmung der männlichen Familienmitglieder gewesen. Anfangs habe man den verheiratheten Frauen nicht das Stimmrecht verleihen wollen, doch sei es der Majo­rität schließlich als unfair"( unbillig) erschienen, irgend eine Frau von dem Besitz der politischen Gleichberechtigung auszuschließen. Der politische Einfluß der Frauen habe die folgenden Wirkungen gezeitigt: 1. Die Gesetzgebung trage mehr den kulturellen Aufgaben Rechnung. 2. Die Sittlichkeitsbestrebungen seien gefördert worden. Das Wohl des gesammten Volkes finde größere Berücksichtigung, und es werde nach Uebereinstimmung zwischen Politik und Moral gestrebt. 3. Die Ar­beiterschutzgesetzgebung sei bedeutend gefördert worden. Mr. Cockburn sprach die Ueberzeugung aus, daß nach Neu- Seeland   und Süd­Australien auch die anderen englischen Kolonien des Erdtheils in naher Zukunft das Frauenstimmrecht einführen würden. Schon jetzt sei unter den Frauen von Viktoria eine lebhafte Bewegung für die Erringung ihrer politischen Gleichberechtigung im Gange. Er schloß seine Ausführungen mit dem Ausspruch, daß der Besitz des Stimm­rechts die Frauen nicht ärmer, die Gesammtheit aber reicher gemacht habe.

Frauenbewegung.

* Ihr philosophisches Doktoreramen hat eine Amerikanerin, Miß Denio, fürzlich mit größter Auszeichnung an der Universität Heidelberg   bestanden. Die Dame war vorher achtzehn Jahre lang Lehrerin an einem amerikanischen   Gymnasium gewesen; der in Deutsch­ land   erworbene Doktorhut wird ihr jedoch eine weit umfassendere Thätigkeit sichern, da er im Ausland besonders viel gilt.

* Einen weiblichen Arzt, Dr. Katharina Farsenbroek, hat die holländische Regierung in die medizinische Examinationskommis­sion berufen.

* Einen weiblichen Kreisarzt hat der nordamerikanische Staat Utah   in der Salt Lake City   angestellt.

* Als Schulinspektor ist eine Aerztin, Miß Belle Grimmel, in Philadelphia   angestellt worden. Sie hat hauptsächlich die hygienischen Schulverhältnisse zu beaufsichtigen.

* Ein weiblicher Kriegsberichterstatter ist während des spanisch- amerikanischen Krieges   in Ruba thätig gewesen. Es war dies Frau Clara Colby, die Herausgeberin einer Frauenzeitung und Gattin eines amerikanischen   Generals. Was wohl die preußischen Generalsfrauen zu diesen Berufen ihrer Kollegin sagen würden?!

* Zum Schulinspektor der Indianerschulen Amerikas   ist Miß Estelle Reel, die bisherige Oberinspektorin für Schulwesen in Wyoming  , vom amerikanischen   Senat ernannt worden. Ihre Be­rufung in diese schwierige und verantwortungsvolle Stellung ist eine große Anerkennung ihrer Verdienste, denn noch keine Frau hat vor ihr dies Amt bekleidet.

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* Weibliche Juristen in Nordamerika  . Der große Rechts­schutzverein von New York  , dessen Leiter Karl Schurz   ist, stellte türzlich den ersten weiblichen Rechtsanwalt, Miß Rosalie Löw, an, der sich sehr bewähren soll. In Denver  , Colorado  , führt Miß Mary Lathrop die Prozesse großer industrieller Gesellschaften mit so viel Glück, daß sie zu den gesuchtesten Advokaten gehört. In Chicago   bestand ein Ehepaar, John und Terra Whipple, das juristische Doktorexamen zusammen, nachdem sie vorher schon das medizinische bestanden hatten.

Das medizinische Doktorexamen und die Prüfung für den Apothekerberuf hat eine Französin, Mme. Gaboriau, bestanden. Das Studium der Medizin erfordert in Frankreich   sechs, die Aus­bildung für den pharmazeutischen Beruf fünf Jahre. Frau Gaboriaus Bildungsgang steht also im schroffsten Gegensatz zu dem landläufigen Gerede, daß es der Frau an Begabung, Willenskraft und Ausdauer fehle. Als Kondukteurinnen von Tramways sollen französischen Zeitungen nach neuerdings Frauen in mehreren großen Städten der Vereinigten Staaten   beschäftigt werden.

Als Küster und Todtengräber des Kirchspiels Lewes   in England ist eine Frau angestellt, Mrs. Steel. Die jetzt sechzig­jährige Frau begräbt seit 32 Jahren ihre Mitbürger und Mitbürge­rinnen, seit 25 Jahren versieht sie das Amt eines Küsters. Wie die Trappisten, so gräbt sie jeden Tag an ihrem eigenen Grabe, das sie jede Woche mit frischen Blumen schmückt. Sie rühmt sich, ein Grab schneller herzustellen und zu schließen als ihre Kollegen vom starken Geschlecht aus der Umgegend von Lewes  .

Druck und Verlag von J. H. W. Diez Nachf.( G. m. b. H.) in Stuttgart  .