der Würdigung, die z. B. Goethes und Heines Werke, die klassischen Statuen 2c. seitens muckerischer Gemüther erfahren, deren Sittlichkeit offenbar auf schwachen Füßen steht. Eine freie Kunstentfaltung ist in unserem Polizeireich auch ohne" lex Heinze III" nicht möglich, nicht Beschränkung, sondern Erweiterung der fünftlerischen Bewegungsfreiheit muß die Losung sein. Zulegt und nicht am wenigsten: mit etwas Lust und Liebe zur Sache kann die oder jene der vorgesehenen Bestimmungen auch auf das politische Leben Anwendung finden. Die vollendetsten Rechtsgarantien" des Herrn von Posadowsky schüßen nicht davor, daß z. B. unter Umständen die politische, die soziale Karikatur unter den Begriff dessen fällt, was ohne unzüchtig zu sein, das Schamgefühl gröblich verlegt". Man denke des peinlich fein entwickelten„ Schamgefühls " der Behörden im Punkte einer unverlogenen Kritik an sozialen Einrichtungen, an fürstlichen Personen, an fapitalistischen Tugenden! Geht der Gesezentwurf durch und das Zentrum hilft ihn sicher mit Begeisterung unter Dach und Fach bringen so wird nicht blos die schwache Tugend muckerischer Kreise die Freude erleben, daß„ heidnische" Statuen mit sittlichen Feigenblättern und sitt lichsten Bauchbinden bekleidet werden. Politischen Reaktionären fann eventuell die Genugthuung blühen, daß behördliche Aichung das„ Schamgefühl" nur dann nicht gröblich verlegt" steht, wenn Blätter und Schriften ausschließlich Lobeshymnen auf Herrn von Stumm veröffentlichen, die sozialen Zustände über den grünen Klee preisen und wenn die Arbeiterinnen in ihren Versammlungen Strümpfe als Weihnachtsgeschenke für kapitalistische Wohlthäter stricken.
Der Sittlichkeitspudel birgt einen durch und durch reaktionären Kern. Ein Quentchen Reform, ein Zentner Reaktion ist das Wesen der lex Heinze III".
Aus der Bewegung.
Von der Agitation. Eine Reihe von Agitationsversammlungen haben die Berliner Genossinnen im Januar und der ersten Hälfte Februar abgehalten. Im Moabiter Gesellschaftshaus sprach Reichstagsabgeordneter Baudert über„ Die soziale Gesetzgebung im Deutschen Reiche." Sein Ueberblick über die soziale Gesetz gebung schloß mit der Mahnung, daß Männer und Frauen der Arbeiterklasse im politischen Kampfe danach streben müssen, die politische Macht zu erringen, um die nöthigen Reformen durchsetzen zu können. In der Diskussion forderte Genossin Mesch mit zündenden Worten die Frauen auf, mit den Männern zusammen für die Erringung menschenwürdiger Zustände zu kämpfen. Reichstagsabgeordneter Rosenow referirte im Rösliner Hof über das Thema:" Der Kampf der Frau um ihre wirthschaftliche und soziale Befreiung." Der Redner legte die Unterschiede zwischen bürgerlicher und proletarischer Frauenbewegung dar und wies nach, daß die völlige Be freiung der Frau erst mit dem Siege des Sozialismus möglich sei. Genossin Mesch zeigte an wirkungsvollem Thatsachenmaterial, wie nothwendig die Betheiligung der Frauen am proletarischen Klassenkampf ist. Genossin Dr. Rosa Luxemburg sprach in Charlotten burg über„ Der jezige Kurs und die Sozialdemokratie." In beredten Worten forderte sie Frauen wie Männer zur Geltendmachung ihrer Rechte und zum organisirten Kampfe für ihre Befreiung auf. Das Thema„ Die Militärvorlage und die Frauen" erörterte Genossin Zetkin in einer öffentlichen Volksversammlung in der Hasenheide. Die Referentin bekämpfte scharf die Militärvorlage vom Standpunkt der Interessen der proletarischen Frau aus. Des Weiteren legte sie die Gründe dar, welche die prinzipielle Gegnerschaft der Proletarierinnen zum Militarismus bedingen. Die Versammlung nahm eine den Ausführungen entsprechende Resolution an, welche sich gegen die Militärvorlage und den Militarismus überhaupt erklärt. In der Diskussion wies unter Anderem Genossin Wengels auf den Kampf gegen den„ Berliner Lokalanzeiger" hin und forderte die Frauen auf, in diesem Kampfe, wie in jeder Hinsicht ihre Pflicht zu thun. Sämmtliche Versammlungen waren sehr gut besucht, zum Theil überfüllt; die Frauen waren sehr zahlreich anwesend.
In einer von den Genossinnen einberufenen Volksversamm lung sprach Reichstagsabgeordneter Bebel über„ Die neue Militärvorlage und das Friedensmanifest des Zaren." Schon lange vor Beginn der Versammlung war der große Saal von Keller so gefüllt, daß polizeiliche Absperrung erfolgte. Mindestens. ebenso viel Personen als im Saale anwesend waren, fanden keinen Einlaß mehr. Wohl hätten Hunderte auf den Galerien Platz finden können, doch gestattete dies der überwachende Polizeileutnant nicht, weil,
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wie er meinte, die Versammlung nur für den Saal und nicht auch für die Galerie angemeldet sei. Bebel, der mit lebhaftem Beifall begrüßt wurde, charakterisirte zunächst die veränderte Haltung des Bürgerthums zum Militarismus. Bis zum Anfang der sechziger Jahre stand es in scharfer Opposition, es erblickte im stehenden Heere ein Machtmittel der Fürsten und Junker zur Niederhaltung des Volkes. Durch die Erfolge Preußens von 1864 und 1866 befriedigt, gaben jedoch die bürgerlichen Parteien ihren grundsäßlichen Widerstand gegen den Militarismus auf. Die preußische Heeresorganisation und die Niederlage Frankreichs veranlaßten die übrigen europäischen Staaten, Verbesserungen in der Organisation und Bewaffnung ihrer Heere einzuführen. Eine wahre Revolution auf dem Gebiete des Heereswesens hat sich vollzogen. Bebel gab eine ausführliche Darstellung der Entwicklung, die der Militarismus seit 1871 durchgemacht hat. Er unterzog darauf die neue Militärvorlage einer eingehenden Kritik und gelangte zu dem Schlusse, daß im Falle ihrer Annahme der Reichstag in den nächsten Jahren neue Militärforderungen werde bewilligen müssen. Der Redner zeigte die enormen Kosten und die ungeheuren Opfer an Menschenleben, die ein künftiger Krieg erfordern werde. Er schilderte die Stockung von Handel und Verkehr, die in seinem Gefolge schreitet und besprach dann das Friedensmanifest des Zaren. Nach eingehender Würdigung der Gründe, welche die russische Regierung bestimmt haben, eine Friedenskonferenz einzuberufen, faßte Bebel seine Ausführungen in folgender Resolution zusammen:
,, Die von den klassenbewußten Arbeiterinnen Berlins am 6. Februar nach Kellers Saal einberufene Volksversammlung betrachtet den Vorschlag des russischen Kaisers für Einberufung einer Friedenskonferenz der Mächte als eine Rechtfertigung des Widerstands, den bisher die Sozialdemokratie aller Länder den an Wahnsinn grenzenden Rüstungen entgegengesetzt hat.
Die Versammlung stimmt dem russischen Kaiser darin zu, daß diese unsinnigen Rüstungen, die allein die Regierungen und die herrschenden Klassen verschulden ,, die Volkswohlfahrt an der Wurzel treffen, die geistigen und physischen Kräfte der Völker in unproduktiver Weise aufzehren, und statt eine Garantie des Friedens zu sein, schließlich zu der Katastrophe führen, die man vermeiden will, d. h. zu einer Katastrophe, die halb Europa zum Schauplatz der Verwüstungen machen, Jammer, Elend und Noth in unzähligen Familien verbreiten, und insbesondere den Frauen und Müttern, Gattinnen, Bräuten, Schwestern und Töchtern der auf den Schlachtfeldern hingeopferten Männerwelt das herbste Loos bereiten würde.
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Soll aber die Friedenskonferenz keine Komödie sein, so sind die Regierungen verpflichtet, die russische voran, durch Thaten zu beweisen, daß ihre beständigen Versicherungen, den Frieden zu wollen, ehrlich gemeint sind. Sie müssen also alles aufbieten, um dem unerträglich gewordenen Zustand des bis an die Zähne bewaffneten Friedens ein Ende zu machen, in erster Linie dadurch, daß sie übereinkommen, bei fünftigen internationalen Streitigkeiten sich einer schiedsrichterlichen Entscheidung der unbetheiligten Staaten zu unterwerfen, ferner durch eine Abgrenzung der verschiedenen Interessensphären fünftigen Streitfällen möglichst zu begegnen.
Nach Ansicht der Versammlung würde ein resultatloser Verlauf der Friedenskonferenz nur die weitverbreitete Ansicht bestätigen, daß die Regierungen und die hinter ihnen stehenden herrschenden Klassen unfähig sind, eine große Kulturaufgabe zu lösen, ein Ergebniß, durch das sie selbst ihre Existenzberechtigung in Frage stellen."
Stürmischer Beifall folgte Bebels Vortrag. In der Diskussion ergriff Pfarrer Naumann das Wort. Er führte aus, daß die Entwicklung der Kriegstechnik dazu führe, den Menschenschlächtereien ein Ende zu bereiten. Die Entwicklung der Technik dürfe deshalb nicht gehindert werden, wie der Zar es vorschlage. Große politische Konflikte seien Machtfragen und könnten nicht durch Schiedsgerichte gelöst werden. Im Uebrigen sang er das gewohnte Loblied auf Kaiserthum und Militarismus und redete der Aussöhnung der Sozialdemokratie mit dem Klassenstaat das Wort. Aus dem Standpunkt Heines und den Ausführungen Schippels zur Frage: Miliz oder stehendes Heer, prophezeite er auf eine Mauserung" der Sozialdemo tratie. Bebel wies unter großem Beifall Naumanns Standpunkt zurück. Scharf und treffend stellte er die Ursachen unserer prinzipiellen Gegnerschaft zum Militarismus fest und wies damit Naumanns Schäfer Thomasiade auf eine Mauserung der Sozialdemokratie zurück. Was Schippels Stellungnahme anbelangt, so meinte Bebel, daß diese vom Standpunkt der Nationalsozialen verschieden sei. Hätte sich Schippel von der grundsätzlichen Auffassung der Partei über den Militarismus so weit entfernt, wie Naumann behaupte, so würde es zwischen Schippel und der Partei keine Gemeinschaft mehr geben. Die Versammlung endete mit der einstimmigen Annahme der Resolution, einem von Genossin Baader ausgebrachten Hoch auf die Sozialdemokratie und lebhaften Hochrufen auf Bebel.