Nr. 10.
Die Gleichheit.
9. Jahrgang.
Zeitschrift für die Intereffen der Arbeiterinnen.
Die„ Gleichheit" erscheint alle 14 Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Post( eingetragen unter Nr. 3033) vierteljährlich ohne Bestellgeld 55 Pf.; unter Kreuzband 85 Pf. Jahres- Abonnement Mt. 2.60.
Mittwoch, den 10. Mai 1899.
Nachdruck ganzer Artikel nur mit Quellenangabe gestattet.
Inhalts- Verzeichniß.
Eine dringende Aufgabe der Gewerkschaften. Erkrankungen und Sterblichkeit des Berliner Proletariats. Bon F. H. Die Jahresberichte der bayerischen Fabrifinspektion. Von Dionys Zinner. Feuilleton: Ist das nicht genug? Von August Strindberg . Autorisirte Uebersetzung
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Notizentheil von Lily Braun und Klara Zetkin : Sozialistische Frauenbewegung im Auslande. Soziale Gesetzgebung. Frauenstimmrecht. Frauenbewegung.
Eine dringende Aufgabe der Gewerkschaften.
Kein Zweifel, daß all die Fragen, die auf dem 3. Kongreß der Gewerkschaften Deutschlands in diesen Tagen erörtert werden, von hoher Bedeutung für die Arbeiterinnen sind. Keine einzige darunter, die nicht in den Verhältnissen wurzelt, unter denen die Arbeiterinnen in harter Frohn ein fümmerliches Brot erwerben und eine sorgenschwere, entbehrungsreiche Eristenz fristen. Und keine einzige darunter, deren Erörterung nicht im Dienste des großen Zieles steht, dem Proletariat bessere Arbeits- und Eristenz bedingungen zu erringen, mithin auch den Arbeiterinnen geringere Ausbeutung, mehr Verdienst, Gesundheit, Muße, Bildung, kurz ein kulturwürdigeres Dasein zu erkämpfen. Kein einziger Punkt der Tagesordnung deshalb, dem die Genossinnen nicht ihre vollste Aufmerksamkeit zuwenden müßten.
Wenn wir troßdem eine der zur Verhandlung stehenden Fragen herausgreifen, um sie nach einer bestimmten Seite hin zu erörtern, so geschieht dies aus zwei Gründen. Einmal handelt es sich darum, eine größere Wahrung der Interessen der Arbeiterinnen dadurch herbeizuführen, daß die weibliche Eigenart berücksichtigt wird. Dann aber hat die Arbeiterpresse die Frage bis jetzt nur noch wenig vom Standpunkt der Interessen der Arbeiterinnen aus betrachtet, so daß die Aufmerksamkeit noch nicht genügend auf die zu lösende Aufgabe gelenkt worden ist.
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Bereits vor mehr als zwei Jahren traten wir an dieser Stelle dafür ein, daß die Gewerkschaften weibliche Vertrauenspersonen aufstellen sollten, die damit betraut würden, Beschwerden der Arbeiterinnen über gesezwidrige Arbeitsbedingungen entgegenzunehmen und der Gewerbeinspektion zu übermitteln. Die Anregung wurde von der Generalfommission" warm befürwortet, sie ist jedoch feineswegs so allgemein in die Praxis umgesetzt worden, als dies unserer Meinung nach im Interesse der Arbeiterinnen und der Gewerkschaften nöthig ist. Es scheint uns deshalb nicht überflüssig, gelegentlich der bevorstehenden Verhandlung des Gewerkschaftskongresses über die„ Gewerbeinspektion" neuerdings auf die vorliegende Aufgabe hinzuweisen.
Die Gründe liegen auf der Hand, weshalb die Gewerkschaften die Thätigkeit der Gewerbeaufsicht ergänzen und zur Durchführung des gesetzlichen Arbeiterschußes mitwirken müssen. Auch der best organisirte und zahlreichste Stab von Gewerbeaufsichtsbeamten ist außer Stande, alle Fälle von Gesezesübertretungen zu fassen, mittels deren die vom„ heiligen Geldhunger" findig und kühn gemachten Kapitalisten die Ausbeutung zu steigern verstehen. Geschweige denn ist dies der Fall, wenn die Zahl der Fabrifinspektoren ge
* Nr. 2 der„ Gleichheit" vom 20. Januar 1897.
Zuschriften an die Redaktion der Gleichheit" sind zu richten an Fr. Klara Zetkin ( Eißner ), Stuttgart , RothebühlStraße 147, III. Die Expedition befindet sich in Stuttgart , Furthbach- Straße 12.
radezu lächerlich gering ist, und die Erfüllung ihrer eigentlichen Aufgabe in Folge der Belastung mit der Kesselrevision thatsächlich nur im Nebenamt geschieht. Die Furcht vor der kapitalistischen Rache aber, vor Chikanirung oder gar Entlassung, hält die meisten Arbeiter davon zurück, gesezwidrige Mißstände im Betrieb zur Kenntniß der Fabrikinspektion zu bringen. Diese Thatsache wird alljährlich durch die Berichte der Aufsichtsbeamten bestätigt. Ohne das Eingreifen der Gewerkschaften, bezw. der von ihr bestellten Organe, müssen die gesetzlichen Schutzvorschriften für breite Arbeitermassen todter Buchstabe bleiben.
Was aber in dieser Hinsicht von dem Proletariat im Allgemeinen gilt, das trifft in verstärktem Maße für die Arbeite
rinnen zu. Gerade sie, die der kapitalistischen Ausbeutung gegenüber schußbedürftiger als die männlichen Arbeiter sind, werden mehr als diese von der Unternehmer Profitgier um das Bischen armseligen Schutz geprellt, das ihnen das Gesez zuerkennt. Der Kapitalist spekulirt auf die weibliche Rückständigkeit und Fügsamfeit als auf„ Tugenden", die ihm ermöglichen, den Zwang der Gesetze zu brechen, die seine Ausbeutungsfreiheit ein Weniges zügeln. Als rückständige Frau kennt die Arbeiterin vielfach nicht einmal die geseßlichen Bestimmungen zu ihrem Schuße. Als Frau, die an Fügsamkeit und Unterwerfung gewöhnt ist, wagt sie nur in den seltensten Fällen, vom sogenannten„ Arbeitgeber" ihr Recht zu fordern. Und ebenso ausnahmsweise schwingt sie sich dazu auf, über gesezwidrige Arbeitsbedingungen Beschwerde bei der Fabrikinspektion zu führen.
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Gewiß, daß durch die Anstellung weiblicher Gewerbeaufsichtsbeamten in der Beziehung Manches gebessert wird. Die Fabrikinspektorin oder Assistentin wird bezüglich der Arbeitsbedingungen der Arbeiterinnen zumal in sittlicher und gesundheitlicher Hinsicht Uebelstände entdecken oder mitgetheilt erhalten, die nicht zur Kenntniß der männlichen Beamten gelangen. Aber trotz des Wirkens weiblicher Gewerbebeamten bleiben die Gründe bestehen, die zur Aufstellung von Mittelspersonen zwischen Arbeiterinnen und Fabritinspektion drängen: die Nothwendigkeit steter, sozusagen täglicher Fühlung mit den Arbeiterinnen, eines fortlaufenden Einblicks in ihre Arbeitsbedingungen; die Nothwendigkeit vor Allem, die beschwerdeführenden Arbeiterinnen vor Maßregelungen zu schüßen.
Die Gewerkschaft muß sich auch in dieser Hinsicht als die natürliche und gewissenhafte Vertreterin der Arbeiterinneninteressen bethätigen. Durch Mittelspersonen muß sie dafür sorgen, daß die Arbeiterinnen ohne Gefahr für ihr Brot ihr Recht suchen können. Jedoch bezüglich der Organe, welche sie zu diesem Zwecke bestellt, muß den Arbeiterinnen als Frauen recht sein, was ihnen bezüglich der Gewerbeaufsicht billig ist. Die Gewerkschaften müssen weibliche Vertrauenspersonen bestellen, denen die Vermittlung zwischen Arbeiterinnen und Gewerbeaufsicht obliegt. Die nämlichen Gründe, welche für die Anstellung weiblicher Gewerbeaufsichtsbeamten sprechen, bedingen die Nothwendigkeit weiblicher Vertrauenspersonen der Gewerkschaften. Die Arbeiterinnen vertrauen der Frau, der Geschlechtsgenossin manche Klage an, welche aus Scheu und Scham dem männlichen Mitglied der Beschwerdekommission gegenüber nicht über ihre Lippen kommt. Andererseits wird die weibliche Vertrauensperson für bestimmte Seiten und Folgen der Arbeitsbedingungen der Frauen und Mädchen ein tieferes und feineres Verständniß besitzen, wie der Vertrauensmann. Ganz besonders gilt dies von sittlichen und gesundheitlichen Uebeln.