Nr. 23.

Die Gleichheit.

9. Jahrgang.

Zeitschrift für die Intereffen der Arbeiterinnen.

Die Gleichheit" erscheint alle 14 Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Post( eingetragen unter Nr. 3033) vierteljährlich ohne Bestellgeld 55 Pf.; unter Kreuzband 85 Pf. Jahres- Abonnement Mt. 2.60.

Stuttgart

Mittwoch, den 8. November 1899.

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Buschriften an die Redaktion der Gleichheit" find zu richten an Frau Klara Zetkin ( Eißner ), Stuttgart , Blumen­Straße 34, III. Die Expedition befindet sich in Stuttgart , Furthbach- Straße 12.

Nachdruck ganzer Artikel nur mit Quellenangabe gestattet.

Inhalts- Verzeichniß.

Gesetzlicher Arbeiterinnenschutz.

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Wie wollen wir für den gesetzlichen Ar­Arbeitslohn und Arbeitszeit des Berliner Die Frauenfrage auf dem Parteitag der Aus der Bewegung.- Feuilleton: Ebbe. Novelle

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beiterinnenschutz agitiren? Proletariats. Von F. H. Sozialdemokratie Desterreichs.( Schluß.) Beschlüsse des Parteitags zu Hannover . von Adele Gerhard. ( Fortsetzung.). Notizentheil von Lily Braun und Klara Zetkin : Arbeitsbedingungen der Arbeiterinnen. Dienstbotenfrage. Sozialistische Frauenbewegung im Auslande.

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Frauenbewegung.

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Gesetzlicher Arbeiterinnenschuk.

Die von der Reichsregierung auf Beschluß des Reichstage angeordnete Erhebung der Gewerbeaufsichtsbeamten über die Fabrik­arbeit verheiratheter Frauen dürfte für die bürgerliche Welt und die bürgerlichen Gesetzgeber die Frage des gesetzlichen Arbeiterinnen­schuzes aktuell werden lassen. Wir sagen für die bürgerliche Welt und die bürgerlichen Gesetzgeber, weil zum Himmel schreiende Thatsachen diese Frage für das Proletariat schon längst zu einer brennenden gemacht haben, und weil seine Vertreter im Reichstag und in den Landtagen bereits seit Langem nachdrücklichst für den ausgiebigen Schutz der weiblichen Arbeitskräfte eintreten. Aller­dings haben auch ernste bürgerliche Sozialreformer von jeher betont, daß die Lohnarbeitenden Frauen besonders dringend des gesetzlichen Schußes wider das Uebermaß ihrer Ausbeutung bedürfen. Aber ihre Forderungen sind ohne Einfluß auf die herrschenden Mächte geblieben; gleich der Stimme des biblischen Predigers sind sie verhallt in der Wüste der Wüsten: in der bürgerlichen Gesell­schaft, wo die kapitalistische Profitgier die Rücksicht auf Menschen­thum und Kulturinteressen ertödtet.

Und doch, wenn die Berechtigung irgend einer Forderung seit mehr als einem halben Jahrhundert schon erhärtet worden ist, so ist es die Berechtigung des Verlangens nach einem wirksamen, weitreichenden gesetzlichen Arbeiterinnenschuß. Ganze Berge von wissenschaftlich feststehenden, unumstößlichen Thatsachen beweisen, wie nöthig es ist, daß die Kraft des Gesetzes dem unverantwort lichen, verhängnißvollen Raubbau mit Menschenleben entgegen tritt, den das Kapital in seiner Raffgier durch die rücksichtsloseste Ausbeutung der weiblichen Arbeitskräfte treibt. Ein Raubbau mit Menschenleben, der zur Verwüstung unberechenbarer Schäße an förperlicher und geistig- sittlicher Volkskraft führt! Denn gerade bei der Ausbeutung der proletarischen Frau wirken die Sünden des Kapitals an den unglücklichen Opfern weiter bis ins dritte und vierte Glied.

Man erinnere sich der einschlägigen, erschütternden That­sachen, die in England durch die Enqueten und Arbeiten festgestellt wurden, welche dem Verbot der Frauenarbeit unter Tage in den Bergwerken vorangingen; der Einführung des Zehnstundentags für die Arbeiterinnen der Textilindustrie und etlicher anderer Gewerbe im Jahre 1850. Und welch flammende Anklagen wider die unge zügelte Auswucherung der weiblichen Arbeitskraft erheben nicht die Zahlen, welche in dem sechsten Bericht über den Stand der öffent­lichen Gesundheit in England vom Jahre 1864 die hohe Sterblichkeit der Säuglinge in den Industriezentren darthun. Wiederholte Erhe­bungen der Britischen medizinischen Gesellschaft stellten im lezten Jahr­

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zehnt die nämliche Erscheinung fest, weil die Industrie den Kindern die Mutter zu früh entreißt". Daß die durch Hantirung mit Queck­silber, Blei, Bleiweiß u. s. f. erzeugten Berufskrankheiten, daß die Arbeit der Frauen in Schriftgießereien, Phosphor- und Zündhölzchen­fabriken, Braunkohlengruben und vielen anderen Betrieben der Montanindustrie, kurz in zahlreichen Gewerben und bei vielen Be­schäftigungsarten den weiblichen Organismus besonders schwer schädigt und von verhängnißvollstem Einfluß auf das im Mutter­schoß keinende Leben ist, dafür haben anerkannte ärztliche Auto­ritäten wie Hirt, Arnould, Desplats, Proust , Tardien, Etienne, Schlieben , Glattauer u. s. f. unanfechtbare Beweise geliefert. Nationalökonomische Studien wie die unseres Genossen Schönlant und anderer Forscher, die Berichte von Krankenkassen der Ar­beiterschaft verschiedener Gewerbe melden die gleichen Thatsachen, für die sich auch in den Berichten der Fabrikinspektoren des In­und Auslands zahlreiche Belege finden. Und Dr. Fridolin Schuler , der verdienstvolle Schweizer Fabrikinspektor, hat bereits vor Jahren ziffernmäßig aufgezeigt, daß in der Schweiz auf die Fabrikarbei­terinnen eine um anderthalb Mal größere Zahl von Kranken­tagen entfällt, als auf die Fabrikarbeiter, und daß die Sterblichkeit der ersteren im Durchschnitt um 27 Prozent größer ist, als die der letzteren. Kurz, das vorliegende, geradezu erdrückende That­sachenmaterial läßt nur die freiwillig und absichtlich Blinden im Dunklen darüber, daß das dürftige Bischen an gesetzlichem Schuß, welches den Arbeiterinnen in Deutschland zu Theil wird, durchaus unzulänglich ist.

Troß dieser Sachlage hat der kreißende Berg der Arbeiter­freundlichkeit und des Reformeifers unserer regierenden und herr­schenden Gewalten nur das winzige Mäuslein der fraglichen Er­hebung geboren! Wir wollen den Werth einer gut geführten Enquete gewiß nicht verkleinern, aber bei der mangelhaften Organi­sation der Gewerbeaufsicht, dem Fehlen eines Reichsarbeitsamts u. s. w. kann die angeordnete Enquete die ohne einheitlichen Plan nach den verschiedensten Gesichtspunkten und mit unzulänglichen Mitteln geführt wird nicht einmal eine durchgängig gute sein. Außer­dem ist, was noch schwerer ins Gewicht fällt, die Frage so spruch­reif, ja so überreif, daß es nicht mehr gilt, erst zu enquetiren, sondern endlich zu handeln. Man wende gegen diese Auffassung nicht ein, daß das einschlägige Material zum großen Theil aus dem Ausland stammt, und daß es sich zunächst darum handeln müsse, den Nachweis dafür zu erbringen, daß auch in Deutschland die kapitalistische Ausbeutung der Arbeiterinnen die gleichen, greuel­haften Mißstände wie dort erzeugt habe. Ist die deutsche Arbeiterin vielleicht aus anderem Stoffe gebacken, als ihre Schwester der Frohn und des Leidens im Ausland, und ist der deutsche Kapitalist vielleicht weniger profithungrig, als sein Erwerbsgenosse jenseits der Grenzpfähle? Sollte die deutsche Proletarierin im Gegensatz zu ihrer ausländischen Klassengenossin lediglich eine Nichts- als­Arbeitskraft sein, die mit der Empfindungslosigkeit und Wider­standskraft einer Maschine im Dienste der kapitalistischen Plus­macherei funktionirt? Gesundheitswidrige Arbeitsbedingungen und das stete Ueberanspannen der Kräfte zehren auch ihr Lebensmark vor der Zeit auf und verurtheilen ihr Kind noch vor der Geburt zum lebenslänglichen Siechthum, zum Tode. Und auch in Deutsch­ land wird die hohe Sterblichkeitsziffer der proletarischen Säuglinge ganz wesentlich mit dadurch bedingt, daß die ausgebeutete Lohn­sklavin dem Kinde die Muttermilch und Mutterpflege entziehen