Nr. 24.
Die Gleichheit
9. Jahrgang.
Zeitschrift für die Intereffen der Arbeiterinnen.
Die„ Gleichheit" erscheint alle 14 Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Post( eingetragen unter Nr. 3033) vierteljährlich ohne Bestellgeld 55 Pf.; unter Kreuzband 85 Pf. Jahres- Abonnement Mt. 2.60.
Mittwoch den 22. November 1899.
Nachdruck ganzer Artikel nur mit Quellenangabe gestattet.
Juhalts- Verzeichniß.
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Der gesetzliche Arbeiterinnenschutz eine Vorbedingung für die höhere Entwidlung und die Befreiung der Proletarierin. I. Gesetzlicher Schutz Arbeitsfür Wäscherinnen und Plätterinnen. Von Helene Simon . lohn und Arbeitszeit des Berliner Proletariats. Von F. H.( Schluß.) -Drei Kongresse bürgerlicher Frauenrechtlerinnen. Aus der Be wegung. Feuilleton: Ebbe. Novelle von Adele Gerhard. ( Fortsetzung
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und Schluß.) Notizentheil von Lily Braun und Klara Zetkin : Weibliche Fabrifinspektoren. Arbeitsbedingungen der Arbeiterinnen. Gewerkschaftliche Arbeiterinnenorganisation. Frauenstimmrecht. Frauenbewegung.
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Der gesetzliche Arbeiterinnenschuk eine Vorbedingung für die höhere Entwicklung und die Befreiung der Proletarierin.
I.
Der geschichtliche Werdegang hat die Frau in eine neue Welt geführt, ihr neue, vielseitige, schwierige Aufgaben gestellt. Der weibliche Wirkungsfreis in der Familie hat sich vertieft, die Frau hat im öffentlichen und Staatsleben Interessen zu vertheidigen, Rechte zu wahren oder zu erkämpfen, Pflichten zu erfüllen. Immer mehr drängen die gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen sie lebt und arbeitet, zur Bethätigung auf allen Gebieten des sozialen Lebens. Soll die Frau fich diesen höheren Ansprüchen gewachsen zeigen, so ist eine reichere und tiefere Entwicklung ihrer Persönlichkeit unerläßlich. Für die breitesten Schichten der Frauenwelt, für die dem Stapital frohndenden und zinsenden Proletarierinnen ist der gesez liche Arbeiterinnenschutz eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür, ja eine unbedingte Voraussetzung, daß ihre Kräfte und Gaben sich freier zu entfalten vermögen, daß sie als gesunde, starte Persönlichkeiten in der Familie und in der Welt gebend und empfangend ihr Theil Kulturarbeit leisten.
Allerdings bewerthet die orthodore Frauenrechtelei in England, Frankreich , Belgien und anderwärts den gesetzlichen Arbeiterinnenschutz durchaus anders und durchaus verfehrt. Sie erblickt in ihm nur einen von„ männlichen Gesetzgebern" schlau ausgeklügelten Kniff, die Frau in wirthschaftlicher und sozialer Knechtschaft vom Manne zu halten, ihr mit der auf ihre Erwerbsarbeit gegründeten öfonomischen Selbständigkeit die persönliche Freiheit der Entwicklung und Bethätigung zu rauben. Der internationale Frauenkongreß zu London hat dies erst neuerlich wieder bestätigt. Die deutschen Frauenrechtlerinnen haben in der Frage zwar feine einheitlich verneinende Stellung eingenommen, jedoch noch weniger von dem Eintreten für die Anstellung von Fabrikinspektorinnen abgesehen eine entschieden fordernde auf Grund eines beſtimmten Programms. Jedenfalls ist es charakteristisch, daß Frau Marie Stritt , die sich vom Radikalismus zu recht zahmer Mäßigung durchgemausert hat, in einem Artikel über den internationalen Frauenfongreß* vor dem ſeichten frauenrechtlerisch- kapitalistischen Gerede in London mit einer frititlosen Hochachtung fnirt, die sich selbst als rechtmäßiges Kind völliger Unwissenheit in der Materie legitimirt. Und doch bildet gerade die Rücksicht auf die Entwicklung der Proletarierin zu einer
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Buschriften an die Redaktion der„ Gleichheit" sind zu richten an Frau Klara Bettin( Bundel), Stuttgart , BlumenStraße 34, III. Die Expedition befindet sich in Stuttgart , Furthbach- Straße 12.
starken Persönlichkeit, zur Kämpferin für Recht und Freiheit ein bedeutsames Glied in der Kette der Gründe, welche mit zwingender Logik für den gesetzlichen Arbeiterinnenschutz sprechen.
Die Proletarierin kann nur als kapitalistisch Ausgebeutete einer Berufsarbeit nachgehen. Ihre Erwerbsthätigkeit verwandelt sie zwar dem Manne und der Familie gegenüber aus einer wirthschaftlich Abhängigen in eine wirthschaftlich Freie, unterwirft sie aber gleichzeitig als Lohnsflavin dem Unternehmer. Ihre Berufsarbeit muß deshalb in erster Linie dem kapitalistischen Profit dienen, sie wird nicht von der Rücksicht auf die Entwicklung und Bethätigung ihrer Persönlichkeit beherrscht. Unbeschränkte Freiheit der Arbeit bedeutet für die Proletarierin in Wahrheit nichts anderes, als unbeschränktes Ausgebeutetwerden auf Grund unbeschränkter Aus
beutungsmacht des Kapitalisten. Statt größerer Freiheit der Person bringt sie ihr die ärgste Sklaverei, die schonungsloseste, kulturfeindlichste Vernichtung des Menschlichen, des Persönlichen, das an ihrer vertauften Arbeitskraft hängt. Giebt es ein erschütternderes, herzzerreißenderes Bild der Unfreiheit, der in den Staub getretenen Persönlichkeit als das der Proletarierin, die von der Noth an die Maschine gefesselt, in die Werkstatt gebannt, oft unter ungesunden Bedingungen, bei gefährlichen Beschäftigungen Stunde auf Stunde eines schier endlosen Arbeitstags, nicht selten einer halben oder ganzen Arbeitsnacht bei eintöniger Verrichtung verbringt, einem Automaten gleich ihr Pensum abhaspelnd, Intelligenz, Kraft, Wille von der mechanischen Leistung verzehrt; keine freie Arbeiterin, die in fröhlichem Schöpfungsdrang wirkt, eine gedrückte Lohnsklavin, die widerwillig oder in stumpfsinniger Ergebung dem Zwange gehorcht.
Damit nicht genug. Die Niedrigkeit ihres Verdienstes, die Dürftigkeit des proletarischen Familieneinkommens schließen es aus, daß die Proletarierin wie die bürgerliche Dame Dank des Wirkens von Köchin, Stuben- und Kindermädchen einen wohlfeilen Ruf als gute Hausfrau und treffliche Mutter erntet. Zu der Frohn ums Brot fügen sich vor Tage, in der Mittagspause, des Abends, ja Nachts und an den Feiertagen die häuslichen Arbeiten in langer Reihe. Was die proletarische Familie an bescheidenem Heimleben und Heimglück befigt; was der Manndaheim an Ordnung, Sauberfeit und Bequemlichkeit findet, was den Kindern an Pflege und Mutterſorge zu Theil wird: es ist der Proletarier in eigenstes Wert, sie hat es ihrem ermatteten, abgearbeiteten Körper, ihrem müden, versorgten Hirn, dem verhärmten Gemüth abgerungen.
Und nun treten an die zwiefach Bebürdete und leberbürdete neue, dringliche Aufgaben heran, Aufgaben, die sie innerhalb der Gemeinschaft ihrer Klaffe, die sie im öffentlichen Leben erfüllen muß. In ihren Erwerbs- und Eristenzverhältnissen, in der Familie, in Gemeinde und Staat werden ihre Interessen von Thatsachen auf Thatsachen berührt, die ihr predigen: Lerne! Erkenne! Wolle! Handle! Weil der fapitalistische Brotherr zu Nuz und Frommen seines Profits Beſchlag auf den besten Theil ihrer Straft legt, rücksichtslos mit der Gesundheit die Wurzeln starken geistigen Lebens, die Wurzeln der Willenskraft vernichtet, vermag die Prole= tarierin trotz Anspannung aller Energie nicht immer der Familie zu geben, was der Familie sein sollte. Wie soll sie, die als Mutter und Gattin nicht den nächstliegenden alten Pflichten ge= nügen kann, ihre Persönlichkeit so weiten, kräftigen, mit höherem Schwung und tieferem Gehalt erfüllen, mit besserer Bildung ausrüsten, daß sie als Kämpferin für die Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts und für die Befreiung der Arbeiterklasse die