über die Sittlichkeitsfrage und die Haltung in der Frage des Arbeiterinnenschutzes. Ueber die Sittlichkeitsfrage sprach Frau Bieber-Böhm mit der gleichen Einseitigkeit und Unkenntniß wie seit Jahren, ohne daß ihre Ausführungen ein Wort der Kritik und Ergänzung hervorriefen. Zur Frage des Arbeiterinnenschutzes hatte Frau Eichholz im Namen der Ortsgruppe Hamburg folgenden Dringlichkeitsantrag eingebracht:„Der.Allgemeine deutsche Frauenvcrein' wolle beschließen, dem Reichstag eine Petition zu überreichen, welche dahin geht, bei der voraussichtlich im November stattfindenden zweiten Lesung der Gewerbenovelle die Paragraphen 135—139 auch auf die Hausindustrie und Heimarbeit anwendbar zu machen. Ferner wolle der.Allgemeine deutsche Frauenverein' die anderen großen Frauenvereine Deutsch lands zur Unterschrift möglichst schnell heranzuziehen suchen." Hier, wo es galt, für die Ausgebeutetsten der Ausgebeuteten, die Heimarbeiter einmal einzutreten, versagte der oft betheuerte Reformeifer der Damen. Dem Antrag von Frau Stritt entsprechend schob man die Angelegenheit von dem„Allgemeinen deutschen Frauenverein" auf den„Bund" ab. Das treffliche Referat, das Fräulein Salomon über Arbeiterinnenschutz hielt, kann nicht dem„Allgemeinen deutschen Frauenverein" zugute gerechnet werden, sondern ist der Vorstoß einer einzelnen besser unterrichteten Persönlichkeit, welche die gemäßigten Frauenrechtlerinnen zu einer einsichtigen und energischen Stellungnahme auf dem Gebiet der sozialen Reform drängen möchte. Fräulein Salomon wies nach, wie nothwendig der Schutz der Arbeiterinnen durch die Gesetzgebung und durch die gewerkschaftliche Organisation ist. Nur durch die eigene Kraft, so betonte sie, werden die Arbeiterinnen vermittelst der Staatshilfe und der Selbsthilfe bessere Arbeitsbedingungen erringen, aber die bürgerlichen Frauen können sie in ihren Bestrebungen förder» und sollten sogar vor der materiellen Unterstützung von Streiks nicht zurückschrecken. Einen geradezu niederdrückend schwächlichen Eindruck machten die Verhandlungen über die Aktion des Vereins zu Gunsten der Frauenrechte, dem eigentlichen Wirkungsgebiet jeder ernsten Frauen bewegung. Mit der Organisation von Gymnasialkursen für Mädchen, Petitionen für Zulassung der Frau zu den Universitätsstudien und liberalen Berufen, mit der Forderung obligatorischer Fortbildungsschulen für Mädchen, und Petitionen für Reform des Familienrechts im neuen Bürgerlichen Gesetzbuch ist im Wesentlichen erschöpft, was der„Allgemeine deutsche Frauenverein" auf diesem Gebiet that und zu thun gedenkt. Wohl wurde die Hoffnung geäußert, daß in absehbarer Zukunft den Frauen das kommunale Wahlrecht zuerkannt werden würde, von einem Kampfe für die Eroberung dieses Rechtes war jedoch keine Rede. Bezeichnender Weise klangen die Königsberger Verhandlungen nicht in der Forderung der vollen Bürgerrechte für das weibliche Geschlecht aus, vielmehr in einer pastoral-salbungsvollen Rede von Helene Lange über„Weltanschauung"; es war dies die Rede einer schöngeistigen Schulmeisterin, die vor„höheren Ebbe. Von Adele Gerhard . (Fortsetzung und Schluß.) Martin war des Zusammenseins müde. Er setzte seine Abreise auf den folgenden Morgen fest. Ueber Helgoland wollte er nach Hamburg , später zurück nach England. Vergebens versuchte Ludolf ihn zu halten, Edgar machte aus seiner Freude keinen Hehl. Zornig strich Martin den Nachmittag in der Sonnengluth in den Dünen umher. Mit einem Male sah er im Innern der Insel zwischen zwei Hügeln Alice ausgestreckt ruhen. Ein großer rother Schirm wölbte sich schützend gegen die sengenden Strahlen am Kopfende ihres Lagers, ein türkischer Shawl war unter ihr ausgebreitet. Dicht neben Alice kauerte Edgar in dem dünnen Dünengras und redete eifrig auf sie ein. Die Umrisse der beiden Gestalten zeichneten sich deutlich in der ungedämpften Luft. Martin blickte auf das Paar. Edgar, ganz Leben, ganz Verlangen, mit heißen, blauen Augen und geröthetem Gesicht— Alice mit gesenkten Lidern vor sich hinschauend, keinen Widerschein seiner Wünsche in den unbewegten Zügen. Die stille, warme Luft trug unverständliche Laute an Martins Ohr. Mit einem Mal neigte sich Edgar näher und berührte das runde Frauenkinn. Sie bog den Kopf zurück, mehr belästigt als erzürnt. Ruhig hob sie den Shawl von der Erde und schritt die Dünen hinab. Mit einem Sprunge hatte Edgar sie eingeholt. Töchtern" philosophirt und nicht die Rede einer Kämpferin für Frauenrechte. Die„Delegirtenversammlung der Bereine Frauenwohl" führte in Berlin die Vertreterinnen der„radikalen" Richtung in der bürgerlichen Frauenbewegung zusammen. Hauptzweck der Tagung war, die radikalen Elemente, Vereine wie Einzelpersonen, in einer festen Organisation zusammen zu fassen, welche innerhalb des „Bundes deutscher Frauenvereine " eine fortschrittliche Strömung durchsetzen soll, die für die letzten grundsätzlichen Ziele der Frauenbewegung eintritt. Die Organisation soll ein Gegengewicht sei» gegen den Einfluß des„Allgemeinen deutschen Frauenvereins" gegen seine Taktik der allzu„weisen Mäßigung"; sie soll den„Bund" vorwärts treiben, nicht ihn sprengen. Daß die Gründung des geplanten „Verbandes fortschrittlicher Frauenvereine" zu Stande gekommen, ist als ein erfreulicher Erfolg zu begrüßen, ebenso daß die Frage der politischen Rechte des weiblichen Geschlechts, insbesondere des Frauenstimmrechts in das Programm aufgenommen wurde. Den unzweideutigen Stempel der„Damenbewegung" trägt der Programmpunkt, welcher die Gründung von Mädchengymnasien und Mädchenrealschulen — die wir für nöthig und recht nützlich halten— als„eine der dringendsten Aufgaben des Staates und der Städte" erklärt. Wie unklar und unreif das soziale Verständniß auch der radikalen Frauenrechtlerinnen noch ist, das tritt in Erscheinung, sobald sie das eigentliche frauenrechtlerische Gebiet verlassen und sich anderen sozialen Problemen zuwenden. Die Programmpunkte, wie die Ver Handlungen und Beschlüsse, welche sich auf die Sittlichkeits- und Arbeiterinnenfrage beziehen, bestätigen das durchaus. Was zur Sittlichkeitsfrage geredet wurde, erhob sich im großen Ganzen nur herzlich wenig über das niedrige Niveau der gewöhnlichen Bieber-Böhmiade. Allerdings führte Pfarrer Hoffet die niedrigen Löhne der Arbeiterinnen als eine der Ursachen der Prostitution an— und zwar als eine Ursache, die durch die„christliche Liebe" bekämpft werden müsse— und Fräulein Poppritz verbreitete sich über das Kapitel, über den Zusammenhang zwischen wirthschaftlichem Elend und sittlichem Verfall in warmen Worten, die von Verständniß zeugten. Aber dieses Verständniß blieb ohne Einfluß auf die Gesammtauffaffung der Sittlichkeitsfrage. Für sie triumphirte der seichte Standpunkt der Abolilio- nistenbewegung, welche wähnt, die Prostitution vor Allem durch staatliches Verbot aus der Welt schaffen zu können, sowie durch den Kampf gegen die doppelte Moral für Mann und Frau. Um das Laster„auszurotten" empfahlen Redner und Rednerinnen: Jünglingsvereine, Naturheilmethode, Antialkoholbewegung, Kirchenbesuch. Rauchverbot rc. Kaplan Dasbach konnte sogar die reaktionärsten Bestimmungen der lex Heinze über Kunst und Literatur anpreisen und Pfarrer Hoffet übertrumpfte ihn womöglich noch mit mittelalterlichen Forderungen. Nur die einzig wirksamen Mittel, um die Prostitution „Sie duldet wahrhaftig seine Unterhaltung", dachte Martin empört. Unversehens trat er zwischen den Hügeln auf sie zu. Edgar verfärbte sich.„Du hier, Martin? Ich glaubte. Du träumtest im Strandkorb." „Aber ich habe mir erlaubt, zu wachen und in den Dünen zu promeniren. Du zürnst hoffentlich nicht darüber!" „Ich bitte Dich!" Edgars Blick ward unruhig. Martin wandte sich zu Alice. Ihre Haltung war stolz. Trotzig und herausfordernd begegneten ihm ihre Augen. 1-» -t- Martin stand in Abschiedsstimmung an der See. Erstes Morgenlicht lag über ihr. Ihre reine, frische Schönheit faßte seine erregbaren Sinne. Er blickte in den blauen Himmelsdom. Entlastet, fast geheiligt fühlte er sich. Doppelt widrig fand er den Schmutz der Erde. „Koste es, was es wolle! Alice wird die Wahrheit vor meiner Abreise von mir hören. Es ist meine Pflicht." Er wollte sich zurückwenden, als er seine Schwägerin in einiger Entfernung gewahrte. Mit gewohnter Gleichgiltigkeit erwiderte sie seinen Gruß. „Ludolf und Edgar suchten Dich, um Dir das Abschieds- geleite zu geben. Sie warten jetzt an der Dampfbootstation." „Und Du", fragte er mit einem plötzlichen Argwohn,„ich kann Dich nicht mehr sprechen?" Die Erregung in seinen Zügen fiel ihr auf. Ein entschlossener Ausdruck trat in ihr Gesicht. „Hast Du mir etwas zu sagen? Ich kann Dich begleiten." „Ich möchte Dich allerdings um diese letzte halbe Stunde bitten", brachte er hervor.„Ich habe eine Frage an Dich."
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9 (22.11.1899) 24
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