Nr. 3.

Die Gleichheit

10. Jahrgang.

Beitschrift für die Intereffen der Arbeiterinnen.

Die Gleichheit" erscheint alle 14 Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Post( eingetragen unter Nr. 3122) vierteljährlich ohne Bestellgeld 55 Pf.; unter Kreuzband 85 Pf. Jahres- Abonnement Mt. 2.60.

Stuttgart  

Mittwoch den 31. Januar 1900.

Nachdruck ganzer Artikel nur mit Quellenangabe gestattet.

Inhalts- Verzeichniß.

Aufruf der Vertrauensperson.

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Die vorübergehende Erscheinung. Die Untersuchung der weiblichen Gefangenen. Von Louise Zietz   in Hamburg  . Zur Beurtheilung der Mädchenheime des Evangelischen Diakonie­vereins". Von Prof. D. Dr. Zimmer. Aus der Bewegung. Feuilleton: Gnadenbrot. Von Henrik Pontoppidan.  ( Schluß.) Notizentheil von Lily Braun   und Klara Zetkin  : Weibliche Fabrikinspektoren. Arbeitsbedingungen der Arbeiterinnen. Gewerkschaftliche Arbei­terinnenorganisation. Dienstbotenfrage. Sozialistische Frauenbewegung im Auslande.

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Frauenstimmrecht. Frauenbewegung.

Genoffinnen und Genossen!

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Die vom Parteitag in Hannover   beschlossene Agitation für den gesetzlichen Arbeiterinnenschutz legt den Genoifinnen eine ehren­volle, aber schwere Verpflichtung auf zum praktischen, fruchtbaren Wirfen für eine der dringendsten Reformen, die nicht nur im Interesse der Arbeiterinnen liegen, sondern in dem des gesammten Proletariats. Soll die Agitation erfolgreich durchgeführt werden, so hat sie vor Allem eine Voraussetzung: ein gut vorbereitetes, planmäßiges, einheitliches Handeln, so daß die vorhandenen geisti­gen und materiellen Kräfte mit größtmöglichstem Nugen ver­wendet werden.

Gerade ein solches Handeln wird den Genossinnen durch die reaktionäre Vereinsgefeßgebung in dem bei Weitem größten Theile Deutschlands   gewaltig erschwert. Ihr zufolge besigen die Prole­tarierinnen in den meisten Orten keine Organisationen, die Träge­rinnen und Mittelpunkte der zu entfaltenden Agitation sein könnten. Die Arbeiterinnenvereine, die in einzelnen Städten existiren, dürfen sich fast nirgends erkühnen, für den gesetzlichen Arbeiterinnenschutz zu agitiren, wollen sie nicht wegen Beschäftigung mit den verpönten ,, politischen Angelegenheiten" der Auflösung verfallen. Die Ge­nossinnen sind also im Allgemeinen auf die Thätigkeit ihrer Ver­trauenspersonen angewiesen.

Durch ihre Vertrauenspersonen haben sich die Genossinnen mit den Genossen am Plaze zu verständigen und dafür zu sorgen, daß ihnen die thatfräftig fördernde Sympathie der politisch und gewerkschaftlich organisirten Arbeiter zu Theil wird.

Unsere Genossen aber möchten wir ersuchen, in den Orten, die noch keine weibliche Vertrauensperson haben, die Agitation selbst in die Wege zu leiten.

Um eine planmäßige Agitation durchzuführen, ersuchen wir die Genossinnen und Genossen, sich in den nächsten Wochen mit der Vertrauensperson Deutschlands   in Verbindung zu setzen, damit von dieser Zentralstelle aus die Agitation eingeleitet wird. Mit sozialdemokratischem Gruß

Ottilie Baader  , Vertrauensperson Deutschlands  , Berlin   O., Straußbergerstraße 28, IV. Die Arbeiterpresse wird um Abdruck gebeten.

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Die vorübergehende Erscheinung.

Eine vorübergehende Erscheinung, die sich austoben muß", so hat der Kaiser die Sozialdemokratie kürzlich genannt. Die Sozial­demokratie hat diesen Ausspruch mit der fühlen Aufmerksamkeit

Buschriften an die Redaktion der Gleichheit" find zu richten an Frau Klara Bettin( 8undel), Stuttgart  , Blumen­Straße 34, III. Die Expedition befindet sich in Stuttgart  , Furthbach- Straße 12.

verzeichnet, die gegenüber Stimmungen und Urtheilen von maß­gebender Stelle in unseren Tagen geboten ist, wo der Zickzackturs gesteuert wird, und des Königs Wille als oberstes Gesez gilt. Die bürgerlich- liberale Presse jeder Schattirung hat sich dagegen der Aeußerung mit einem findischen Eifer bemächtigt, der ebenso sehr in widerlichem Byzantinismus nach oben, als schlotternder Furcht vor unten wurzelt. Das liberale Zeitungsgeschwister geberdet sich verzückt nicht anders, als ob mit der rein persönlichen Werthung der Sozialdemokratie durch den Kaiser schon das unwiderrufliche geschichtliche Todesurtheil über die Partei des proletarischen Klassen­tampfes gesprochen und der kapitalistischen   Gesellschaft mitsammt dem altersschwachen Liberalismus das ewige Leben verbürgt wäre. Was soll's mit dem Getute?

Daß geschichtlich genommen die Sozialdemokratie eine vorüber­gehende Erscheinung ist, diese Auffassung entspricht nur der Binsen­wahrheit, die schon der selige weise Salomo   verkündigte, der er­flärte: Alles hat seine Zeit, Lieben und Hassen, Steineaufleſen und Steinezerstreuen. Die Geschichte ist das verwirrend reiche, vielgestaltige, oft dunkle und kaum entzifferbare Bild von Einrich­tungen, Bewegungen, Ideen, die im steten Fluß des Vergehens und Werdens emporiprossen, sich entfalten und absterben. Wie die Parteien, so sind auch die Dynastien und das monarchische Prinzip borübergehende Erscheinungen, die in einem Falle welken, dürren Blättern gleich langsam und lautlos vom Baume der geschicht­lichen Entwicklung zu Boden gleiten, die in einem anderen Falle bom tobenden Sturme abgerissen und in rasendem Wirbel davon= gejagt werden. Es ist erklärlich, daß sich gerade jezt das Be­wußtsein von der Vergänglichkeit der geschichtlichen Erscheinungen besonders fühlbar aufdrängt. Wir leben in den Zeitläuften der politischen Blöglichkeiten, wo der Lucanus über Nacht Minister holt und bringt, wo die Rezepte der Regiererei von Tag zu Tag wechseln, wo der Reichskarren heute hott und morgen dahin­holpert. Die Sozialdemokratie hat jedoch wirklich keine, aber auch gar teine Ursache, über ihre geschichtliche Vergänglichkeit und Bedingt­heit betrübt zu sein. Sich nicht als vorübergehende, sondern als ewige Erscheinung zu begreifen, hieße für sie nichts anderes, als an ihrem Siege, an der Verwirklichung ihres Endziels verzweifeln.

Die bürgerliche Presse fällt denn auch dem gröbsten Selbst­betrug zum Opfer, wenn sie aus dem geschichtlichen Vorübergehen der Sozialdemokratie die tröstliche Hoffnung schöpft, die bürgerliche Gesellschaft könne je mit dieser fertig werden. Umgekehrt wird ein Schuh daraus! Die Sozialdemokratie wird erst in dem Augenblick zur vorübergegangenen Erscheinung, wo sie mit der kapitalistischen   Ordnung fertig geworden ist. Sie kann und wird nur zusammen mit den gesellschaftlichen Bedingungen verschwinden, aus denen sie hervorgegangen ist, aus denen sie ihre Existenz­berechtigung und Existenznothwendigkeit zieht. Sie wird deshalb erst gewesen sein, wenn die kapitalistische Ordnung mit ihrer Aus­beutung und Bersklavung des Menschen durch den Menschen ge= wesen ist. So lange diese Ordnung besteht, in welcher das Privat eigenthum an den kapitalistischen   Produktionsmitteln die Klassen­spaltung in Ausbeuter und Ausgebeutete bedingt, die Klassen­herrschaft der Kapitalisten über die Proletarier; so lange in Folge dieser Ordnung die kapitalistische Waarenerzeugung zum Zwecke des Profits herrscht und die zügellose Konkurrenz Aller gegen Alle: so lange muß auch die Sozialdemokratie sein, kämpfen und um den Sieg ringen, denn sie ist der Willensausdruck der Ausge­