der Schüler wesentlich herab, aber ihr sittliches Verhalten wird dadurch beeinträchtigt; wo jedoch die Arbeit länger dauert, nehmen auch die Leistungen in der Schule und für die Schule erheb- lich ab, die Kinder sind schläfrig beim Unterricht, fertigen die häuslichen Aufgaben schlecht oder gar nicht an und stehen bald in jeder Hinsicht an letzter Stelle der Klasse." Wieder- holt heißt es:„In sittlicher Beziehung wirkt das Verweilen in den Ziegeleien sehr verderblich." Ueber einen 12jährigen Knaben, der im April, Mai und halben Juni von 17 Schultagen 20 V- Schultage der Ziegelarbeit wegen versäumte, sagt der Bericht: „Kann weder lesen noch rechnen und ist geistig total verkommen". Zu der physischen Degeneration, welche die Kinderarbeit in den Ziegeleien mit Naturnothwendigkeit erzeugt, kommt so wie gewöhnlich die geistige und moralische Verblödung. Das von den Gewerbe- inspektoren beigebrachte Material ließe sich gewiß mit einiger Mühe durch häufigere Kontrolle der Ziegeleibelriebe derart vermehren, daß angesichts der erdrückenden Wucht der Thatsachen die Gesetzgebung einschreiten müßte und durch ein Verbot der Beschäftigung von Kindern jeden Alters in den Ziegeleien der Ausbeutung der jungen Kräfte ein Ende machte. Die Rücksicht auf die kleinen und kleinsten Betriebe, deren Konkurrenzfähigkeit, ja deren Existenz durch ein Verbot der Kinderarbeit angeblich in Frage gestellt sein soll, kann und darf kein Hinderungsgrund sein, eine Maßregel zu ergreisen, die im Interesse der Heranbildung von tüchtigen Menschen— nicht bloßen Arbeitsthieren— eine dringende Nothwendigkeit ist. � M, Kt. Wie der Militarismus die„heilige Stellung" der Frau festigt. Uns Deutschen ist nach einem berühmten Ausspruch nichts heiliger als die Stellung der Frau, und wehe dem Umstürzler, der an diese heilige Stellung zu rühren wagt. Von dieser Ueberzeugung ist offenbar auch der kommandirende General von Posen Herr von Stülpnagel, tief durchdrungen. Auf Grund einer Kabinetsordre aus den siebziger Jahren erließ er einen Ukas, alias Korpsbefehl, der Folgendes fest- setzt. Den Chargirten der Garnison Posen soll der Ehekonsens nicht mehr ertheilt werden zur Verheirathung mit einer Polin, zur Ver- heirathung mit einem Mädchen, das sozialdemokratische Anverwandte hat, und zur Verheirathung mit einem Mädchen, das in geschlecht- licher Beziehung nicht ganz makellos erscheint, z. B. ein außerehe- liches Kind geboren hat, auch wenn der sie zu Heirathen wünschende Chargirte selbst der Vater des Kindes ist. Naive Gemüther waren bisher trotz der eindringlichen Lehren der bürgerlichen Schacherehe mit dem Dichter der Meinung, die erste Voraussetzung für eine Ehe sei, daß sich„das Herz zum Herzen" ge- funden habe, und daß der Unteroffizier nebenbei sozusagen doch ein Mensch sei, für dessen Verheirathung diese Voraussetzung gelten solle. Der Mann mit dem biblischen Panorama. Von Mark Twain . In jener Gegend(erzählte Herr Nickerson) reiste einmal ein Mann mit einer moralisch-religiösen Schaubude umher, einer Art biblischem Panorama; der miethete sich einen brettsdummen alten Knasterbart, der Klavier spielen sollte. Nach der Vorstellung am ersten Abend sagte der Schaubudenmann:„Mein Freund, Sie scheinen so ziemlich alle Melodien, die es giebt, zu kennen, und orgeln alles aufs Schönste herunter, aber bemerkten Sie denn gestern Abend nicht, daß das Stück, das Sie gerade spielten, manchmal sozusagen wie die Faust aufs Auge paßte— nicht zum Charakter des Bildes, das gerade vorüberging, stimmte, wenn ich so sagen soll— dem Gegenstand des Bildes nicht angepaßt war, wissen Sie— als könnten Sie weder stechen, noch Farbe bekennen, verstehen Sie?" „Ach nein", sagte der Mensch, das habe ich nicht gerade bemerkt, aber es kann schon sein; ich spielte, was mir gerade unter die Hände kam." So machten sie denn aus,„daß der einfältige Dummkopf von nun an die Bilder ansehen und, sobald ein hinreißendes Ge- mälde entrollt würde, ein Stück spielen solle, das demselben aufs Haar genau angepaßt wäre, und das der Zuhörerschaft helfen würde, den Gegenstand richtig zu erfassen, und das sie erwärmen solle wie die Seelenerweckung bei einer Lagerversammlung. So etwas würde die Sympathien erobern, sagte der Schaubuden- mann. Diesen Abend nun war ein zahlreiches Publikum anwesend Der Korpsbefehl belehrt in dankenswerthester Weise eines Besseren Wichtigste Voraussetzung für die Ehe eines Chargirten ist, daß die Braut vorsichtig war in der Wahl ihrer Nationalität, in der Wahl ihrer Verwandten und zuletzt, aber nicht zum Wenigsten in der Wahl ihres Geliebten, so daß dieser sie nicht zu einer„Bescholtenen" ge- macht hat. Naive Gemüther waren ferner bisher der Meinung, daß es in dem letzteren Falle die Pflicht eines Mannes sei— sofern nicht wichtige innere Hinderungsgründe vorliegen—, das Mädchen zu ehe- lichen, dem Kinde den Vater zu geben. Der Korpsbefehl klärt mit herzerfrischender Deutlichkeit darüber auf, daß diese simple Moral für die bürgerliche Kanaille gut genug sein mag, daß sie jedoch den sittlichen Ansprüchen nicht genügt, welche für die Chargirten inner- halb des Standes Derer gelten, die,„indem sie des Königs Rock an- gezogen haben, den übrigen Menschen vorgezogen worden sind". Die Freiheit, ein Mädchen zur Bescholtenen, zur außerehelichen Mutter zu machen, sei den Chargirten unbenommen, das Recht, ein solches Mädchen zu heirathen, muß ihnen vorenthalten bleiben. Ueber den Respekt vor Myrthenkranz und Haube geht die Rücksicht auf die allein den Menschen würdig und wohlgeschickt machende Pickelhaube; das allgemein menschliche Sittlichkeitsempfinden muß die Segel streichen vor der besonderen militärischen Standesehre der Chargirten. Mit ebenso tiefgründiger Weisheit als feinem Siltlichkeitsgefühl löst der Korpsbefehl genialeinfach eine Reihe der schwierigsten Zeit- fragen. Er stärkt das Deutschthum im Osten und ist ein unübertrefflich wirksames Mittel, die Ausbreitung slavischer Elemente in Deutsch - land aufzuhalten. Was verschlägt es noch, daß die sedansbegeisterten Schlotjunker Zehntausende und Zehntausende von Polen nach West- deutschland ziehen, daß unentwegt national gesinnte Agrarier und Grubenbarone Polen/ Russen und Tschechen über die Grenze rufen, wenn in der Garnison Posen eine Handvoll Chargirte nur echt deutsche Mädchen freit und eine urdeutsche Nachkommenschaft zeugt! Der Korpsbefehl hindert das Einßringen des„sozialdemokra- tische Giftes" in das Heer und erzieht zum Kampfe wider den „inneren Feind". Wenn in der Familie der Chargirten nie mehr ein Weib am häuslichen Heerde schaltet und waltet, das— schreck- lich zu sagen— mit sozialdemokratisch verseuchter Verwandtschaft behaftet ist: so ist der Mann jeder Gefahr entzogen, durch That- fachen oder Menschen über die Sozialdemokratie aufgeklärt, für sie gewonnen zu werden, so wird er in den Jsolirstübchen einer„gut- gesinnten" Verwandtschaft in der richtigen Geistesverfassung erhalten, um jede Spur„umstürzlerischer Gesinnung" bei seinen Untergebenen zu wittern und auszurotten, um sich eventuell beim Straßenkampf gegen den„inneren Feind" der Unterosfiziersprämie würdig zu er- weisen. Endlich aber hebt der Korpsbefehl die gesunkene Sittlichkeit. Wenn der Chargirte der furchtbar unsittlichen Versuchung entrissen ist, ein bescholtenes Mädchen zu ehelichen, die Mutter seines Kindes i— meist Leute mittleren und höheren Alters, solche, die sich zur Kirche halten und für biblische Dinge reges Interesse haben, und die übrigen waren so ziemlich alle junge Böcke und Ziegen, — die lieben sehr, ins Panorama zu gehen, wissen Sie, weil es ihnen Gelegenheit giebt, im Dunkeln miteinander zu schäkern. Nun also, der Schaubudenmanu begann sich für seinen Vor- trag aufzublasen, und der alte Schmutzfinke machte das Klavier auf und ließ die Finger ein- oder zweimal die Tasten auf- und ab- laufen, um zu sehen, ob alles in Ordnung wäre, und die Männer hinter dem Vorhang fingen an, das Panorama herauszuleiern. Der Schaubudenmann balanzirte mit dem ganzen Körpergewicht auf dem rechten Fuße, stemmte die Hände in die Hüften, blickte über die Schulter hinweg auf das Bild und sagte:„Meine Damen und Herren, das Gemälde, das Sie jetzt sehen, illustrirt das schöne und rührende Gleichniß vom verlorenen Sohne. Beachten Sie den Ausdruck des Glückes, der sich eben über das Gesicht des armen leidenden Jünglings breitet— des Jünglings, der so matt und müde ist von seinem langen Marsche; beachten Sie auch das Ent- zücken, das aus dem erhobenen Antlitz des alten Vaters strahlt, und die Freude, die der erregten Gruppe von Jünglingen und Jungfrauen aus den Augen funkelt und aus ihrem Munde als Begrüßungschor hervorzubrechen scheint. Die Lehre, meine Freunde, ist so ernst und heilsam, als die Geschichte zart und schön ist." Der Schmutzfinke am Klavier war bereit, und als die zweite Rede beendet war, paukte er los: „Wir saufen alle wie ein Loch, Wenn Hänschen heimmarschirt!"
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10 (14.3.1900) 6
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