hatten, ist so allgemein bekannt, daß ich sie wohl nicht nochmals aus­führlich darzulegen brauche. Vergegenwärtigen müssen wir uns aber die Grundsäße des Rochdaler Systems, eben weil sie vorbildlich wurden, und die auf ihnen beruhenden Konsumvereine sich über England und Schottland ausdehnten. Diese Grundsätze bestanden in Forderung der Baarzahlung, Gegenleistung von guter und unver­fälschter Waare, Verkauf zu den Marktpreisen und Vertheilung des Gewinns am Verkaufspreis im Verhältniß zu den von den einzelnen Kunden gemachten Einkäufen. Ein Mann hat nur eine Stimme. Die Person und nicht der Besitz ist, wie Frau Sidney Webb mit Recht sagt, die verfassungsmäßige Grundlage des Systems von Rochdale . Mitglied kann Jeder durch Erlangung eines Geschäfts­antheils werden, doch braucht nur das Eintrittsgeld von einem Schilling gezahlt zu werden, und der Rest wird automatisch durch Rückhaltung der Dividende aufgespart. Die englischen Konsum­genossenschaften blieben nicht bei dem Laden stehen, sondern schufen auch eigene Produktivstätten. 1863 ward die erste Großhandels­gesellschaft gegründet, aus der 1873 die English Wholesale Society entstand, 1868 die schottische Großhandelsgesellschaft; beides sind Zentralinstitute des Großeinkaufs der Konsumvereine. Die schottische Großeinkaufsgesellschaft hat unter Anderem die größte Schuhfabrik Schottlands errichtet, sie besitzt eigene Gerberei und Druckerei, Kleider-, Möbel, Konserven- und andere bedeutende Fabriken. Die englische Großeinkaufsgesellschaft hat wiederum eine große Müllerei, Woll­spinnerei, Stiefel-, Seifen-, Bisquit- und Zuckerwaarenfabriken. Ich will Sie hier nicht mit überflüssigen Zahlen ermüden, sondern Sie lieber auf die interessante und anschauliche Schilderung der Errichtung der englischen Großeinkaufsgenossenschaften hinweisen, die Sie in der kleinen, schon für 10 Pfennige erhältlichen Broschüre, Unsere Englandsreise", dem Bericht einiger Mitglieder der Großeinkaufs­gesellschaft deutscher Konsumvereine nach ihrem Aufenthalt in Eng­land finden. Von welcher Großartigkeit die Einrichtungen der eng­lischen Großhandelsgenossenschaft sind, davon giebt das Wort eines dieser Berichterstatter Zeugniß; er sagt, als er davon spricht, daß die Großeinkaufsgesellschaften nicht nur eigene Dampfer, sondern auch eine eigene Eisenbahn haben: Wir deutschen Stümper fommen uns dort manchmal vor, wie in Tausend und einer Nacht." Sie müssen sich vergegenwärtigen, um den Werth dieses Urtheils zu würdigen, daß Fell, der diese Worte schrieb, selbst an der Spize eines der blühendsten deutschen Konsumvereine, des Konsumvereins Leipzig­Plagwig, steht und außerdem durchaus kein phantastischer Schwärmer, sondern ein durch und durch praktischer Mensch mit ruhigem und nüchternem Urtheil ist. Der politische und soziale Einfluß der Ge­nossenschaften verkörpert sich in dem Genossenschaftsverband, der über 1300 Vereine unter sich faßt. Eine ebenfalls erzieherische und agitatarische Bedeutung hat die Frauengenossenschafts- Gilde, die als selbständige Organisation gelten kann, obwohl ihre Zweige sich nur in Anschluß an bestehende Konsumvereine bilden. Bereits 1898 hatte sie 12000 Mitglieder. Ihr Einfluß wird als unbegrenzt" bezeichnet und läßt sich in der That nicht tabellarisch abschätzen, denn durch die Gilde lernten die Frauen in der Genossenschaft nicht mehr ein bloßes Mittel der Gewinnsucht, sondern einen Hebel weitgehenden sozialen Fortschritts erblicken. Wenn Sie die ungeheure ökonomische Macht der englischen Genossenschaftsbewegung über­schauen, so müssen Sie stets im Auge behalten, daß sie von Ar­beitern geschaffen, von Arbeitern auf die Höhe ihrer heutigen Erfolge getragen ward.

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Trotz aller ökonomischer Machtentfaltung ist doch der Geist, der in den englischen Genossenschaften herrscht, nicht im Entferntesten mit dem der belgischen Kooperationen zu vergleichen, die, wie Van­dervelde mit einem treffenden Worte sagt, wahre Mikrokosmen sind, die den ganzen Menschen erfassen und für alle seine leiblichen, sitt= lichen und geistigen Bedürfnisse sorgen". Aber wir dürfen uns nicht darüber täuschen, daß die belgischen Genossenschaften eigenartige Sondergebilde sind, deren Uebertragung nach Deutschland gänzlich ausgeschlossen ist, da das deutsche Genossenschaftsgesetz jede Ver­quickung der Genossenschaften mit direkten politischen Zwecken un­möglich macht. Die belgischen Genossenschaften sind politische Kampf­organisationen, Schöpfungen des Sozialismus, und anderseits wieder dessen wesentlichste Stützpunkte in Belgien , ja, man hat sie nicht mit Unrecht sozialistische Zwingburgen genannt. Wie hoch wir sie daher auch schätzen, wie wichtig es ist, einzelne ihrer Einrichtungen und Grundsätze als Vorbild und Fingerzeig zu nehmen als Ganzes sind sie, wie gesagt, unübertragbar nach Deutschland . Sie zeigen uns ein eigenartiges und fesselndes Bild, und es ist fast überraschend, wie wenig bis vor wenigen Jahren sich in Deutschland die Auf­merksamkeit auf sie gerichtet hatte. Als ich Anseele, den genialen Leiter des Vooruit hierüber fragte, antwortete er mir stolz: Wir arbeiten, wir haben keine Zeit, lange über uns zu reden." In der

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That sind die belgischen Kooperationen in schneller Entwicktung be­griffen. Sie breiteten sich erst nach 1880 in Belgien aus nach der Begründung des Vooruit und der Volksapotheken. Der Vooruit in Gent ward vorbildlich für alle belgischen Kooperationen, wenn sich auch entsprechend den örtlichen Verhältnissen Verschiedenheiten in der Gestaltung finden. Gemeinsam ist ihnen allen betreffs der öko­nomischen Struktur, daß sie, obwohl Genossenschaften von Konsu­menten, doch alle mit einem Produktionsbetrieb, der Bäckerei, begannen ferner daß sie einen großen Theil des Gewinns für politische Zwecke geben, was anderseits natürlich die Ausbreitung der Pro­duktionsthätigkeit erschwert. Neben dem Vooruit verdient vor allem das Maison du Peuple genannt zu werden, dem sich in fast allen Industriezentren Belgiens sozialistische Genossenschaften an reihen. Erst kürzlich sind die belgischen Genossenschaften in die Periode der Föderation getreten, indem der lange geplante Zusammen­schluß zu gemeinschaftlichen Einkäufen zur Wahrheit wurde.

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In die Reihe der für die Genossenschaftsbewegung typisch wichtigsten Länder gehört auch die Schweiz , da sie durch den zweiten Flügel der Genossenschaftsbewegung, die landwirthschaftlichen Konsumvereine, ein besonderes Interesse gewinnt. Die schweize= rischen Bauernkonsumvereine entstanden nach der Schilderung des Geschichtschreibers der schweizerischen Genossenschaftsbewegung aus dem Uebergang des extensiven in die intensive Betriebsweise in der Landwirthschaft. Der Bauer hatte durch den Zuzug nach den Städten viele Arbeitskräfte verloren, da die Löhne dort immer noch höher waren, als er sie bezahlen konnte. Wollte er sich behaupten, so mußte er bei der Bodenbearbeitung verbesserte Kulturmethoden ein­führen, z. B. mineralische Dünger verwenden, arbeitsparende Maschinen benutzen. Diese Aufgabe war so schwierig und kostspielig, daß sie die Leistungskraft des Einzelnen weit überſtieg. Sollte die neue Produktionsweise eingeführt werden, so mußte sich der Landwirth mit seinen Nachbarn zusammenschließen und Genossenschaften zum Bezug von Dünger, Sämereien und Maschinen gründen. Bereits im Jahre 1886 traten die bäuerlichen Konsumvereine in die Periode der Föderation, doch war der Verband bis zum Jahre 1889 im Wesentlichen eine Rohstoffgenossenschaft, erst seit 1889 vermittelt er in größerem Maße auch Konsumartikel und hat neben der landwirth­schaftlichen auch eine Konsumabtheilung.

Der andere Flügel der schweizerischen Genossenschaftsbewegung. der von den schweizerischen Konsumvereinen gebildet wird, verband sich erst 1890; der bedeutendste unter diesen Vereinen ist der 1865 gegründete Basler Konsumverein. Unter seinen vielen Einrich­tungen, zwei Bäckereien, Bier, Holz- und Schuhwaarenhandel, vers dient noch besonders der glänzend aufblühende Milchhandel Er­wähnung. Neuerdings haben sich die schweizerischen Genossenschaften zu einem Genossenschaftsbund vereinigt.

Wenden wir uns nun, nachdem wir das glänzende Aufblühen der Genossenschaftsbewegung aus dem Arbeiterstande heraus in Eng­land, Belgien und der Schweiz gesehen haben, zu Deutschland . Sie wissen wohl Alle, daß hier bis vor wenigen Jahren in den eigent­lichen Arbeiterkreisen eine zähe Abneigung gegen die Konsumgenossen­schaften bestand eine Abreigung, die aus geschichtlichen Zusammen­hängen heraus leicht zu begreifen ist.

Vergegenwärtigen wir uns, daß in Deutschland die Anregung zu den Konsumgenossenschaften von Schulze- Delißsch ausging, daß sie in seinem Geiste geschaffen wurden. Schon Albert Friedrich Lange sagte mit Recht von diesen Genossenschaften im Gegensatz zu den englischen, daß sie in Deutschland eine Art sozialistischer Kuhpocken­impfung seien, die den Arbeiter gegen das Gift des Sozialismus un­empfänglich machen sollten.

Vergegenwärtigen wir uns ferner die politische Gegnerschaft Schulzes und Lassalles, und wie Lassalle die Konsumgenossenschaft mit der Theorie des ehernen Lohngesetzes bekämpfte. Fiel nun auch dieser Einwand, nachdem man auf den Parteitagen zu Halle und Erfurt den Standpunkt des ehernen Lohngesetzes aufgegeben, in dem alle Gründe Lassalles gegen die Konsumgenossenschaften wurzelten, so dauerte es doch lange, ehe die eingewurzelte Abneigung der deutschen Arbeiterschaft gegen die Konsumgenossenschaften nach und nach in etwas wich. Erst als die großartige Entwicklung der Genossenschafts­bewegung in den eben von mir berührten Ländern zeigte, daß die Konsumgenossenschaft in ihrer reinen und eigentlichen Gestalt mit ihrer echt demokratischen Grundlage alles eher als eine Bekämpfung des Sozialismus, sondern im gewissen Sinne eine direkte Vorarbeit für ihn ist, erst als diese Erkenntniß sich langsam Bahn brach, brachten weitere Kreise der deutschen Arbeiterschaft der Konsum­genossenschaft wieder ein tieferes Interesse entgegen. Besonders mit­gewirkt zu diesem Umschwung hat auch das glänzende Aufblühen der sächsischen Arbeiterkonsumvereine, vor Allem des schon erwähnten Konsumvereins Leipzig - Plagwig, auf den ich daher noch mit