Nr. 12.

Die Gleichheit.

10. Jahrgang.

Beitschrift für die Intereffen der Arbeiterinnen.

Die Gleichheit" erscheint alle 14 Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Post( eingetragen unter Nr. 3122) vierteljährlich ohne Bestellgeld 55 Pf.; unter Kreuzband 85 Pf. Jahres- Abonnement Mr. 2.60.

Stuttgart  

Mittwoch den 6. Juni 1900.

Nachdruck ganzer Artikel nur mit Quellenangabe gestattet.

Inhalts- Verzeichniß.

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Für Sittlichkeit und gleiches Recht. Die Lage der Arbeiterinnen in Stuttgart  . Von-ckh. Frauenarbeit in der oberschlesischen Montan­industrie. Von Dr. W. Aus der Bewegung.- Feuilleton: Medi­zinerinnen des Mittelalters. Von Melanie Lipinska. Aus dem Fran­zösischen übersetzt von Eugenie Jacobi.( Fortsetzung.)

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Notizentheil von Lily Braun   und Klara Zetkin  : Soziale Gesetzgebung. Frauenstimmrecht.- Frauenbewegung.

Für Sittlichkeit und gleiches Recht.

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Die Heinzegarde war ausgezogen, um mit den Spießen und Stangen von Gesezesparagraphen die Unsittlichkeit zu fangen, so wenigstens erklärte ste tugendstolz denen, die es glauben und denen, die es nicht glauben. Zur höheren Ehre der Sittlichkeit wollte sie nicht blos durch Bestimmungen gegen Dirnen und Louis an bösartigen sozialen Gebresten herumfurpfuschen, zur höheren Ehre der Sittlichkeit vorgeblich wollte sie auch mittelst Gesezesterten, Polizeiall­macht und Juristenweisheit Kunst, Wissenschaft, die freie Entwicklung des Geisteslebens unter die Sagungen des verknöcherten firchlichen Dogmas beugen. Daß die Sittlichkeit im Grunde den Heinzemännern Hekuba   ist, in dem einen Falle ein Tamtam für quadsalberndes Gehabe, das sich spreizend an die Stelle sozialreformlerischer Arbeit sezt, in dem anderen Falle ein Feigenblatt, hinter dem sich der Haß des Pfaffen- und Junkerthums gegen das moderne Kultur­leben birgt: das erhärtete nicht blos sinnenfällig das Schicksal des ,, Arbeitgeberparagraphen" mit dem wir uns bereits eingehend befaßt haben das bewies des Weiteren die Ablehnung des sozialdemokratischen Antrags,§ 361, 3iffer 6 des Strafgesetzbuchs zu streichen. Der betreffende Gesetzestert lautet: Mit Haft wird bestraft eine Weibsperson, welche wegen gewerbsmäßiger Unzucht einer polizeilichen Aufsicht unterſtellt ist, wenn sie den polizeilichen Vorschriften zuwiderhandelt oder welche, ohne einer solchen Aufsicht unterstellt zu sein, gewerbsmäßig Unzucht treibt."

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In der That, wenn es eine Bestimmung giebt, die im In­teresse der Sittlichkeit fallen müßte, so ist es der vorstehende Passus des Strafgesetzes. Er trägt wesentlich mit dazu bei, den Boden zu schaffen, in welchem eine der widerlichsten, unsittlichsten Er­scheinungen unserer Zeit wurzelt: das Zuhälterthum. Indem er Strafen vorsieht gegen die unglückseligen Geschöpfe, welche auf dem Prostitutionsmarkt ihr Weibthum ohne polizeilichen Erlaubnißschein verkaufen oder in Zuwiderhandlung polizeilicher Vorschriften: er­schwert er den Dirnen die Ausübung des Gewerbes, auf dem ihr Unterhalt beruht und macht sie zu Gehezten, Schußbedürftigen. Aber die Sorge um das Stück Brot, das in Tausenden von Fällen durch ehrliche Arbeit nicht erworben werden kann, ist stärker als die Achtung vor dem Gesetz und den polizeilichen Vorschriften. Der Hunger zwingt die Prostituirte, unter allen Umständen ihrem traurigen Gewerbe nachzugehen, wenn nicht unter dem Schuße des Gesetzes und der Polizei, so mit Mißachtung des einen und der anderen. Im Kampfe ums Dasein gilt es für sie, zu sündigen, ohne sich erwischen zu lassen. So werden durch die Strafbestim­mungen nur die psychologischen und wirthschaftlichen Voraus­setzungen für die Rolle des Louis gezeitigt. Als Geächtete und Gehezte empfindet die Dirne das Bedürfniß nach einem Berather

Buschriften an die Redaktion der Gleichheit" find zu richten an Frau Klara Bettin( Bundel), Stuttgart  , Blumen Straße 34, III. Die Expedition befindet sich in Stuttgart  , Furthbach- Straße 12.

und Freund, der- Auswürfling wie sie ihr als Gleicher zur Seite steht. Als wirthschaftlich bedrohte Gewerbetreibende bedarf sie eines Schüßers, der dafür sorgt, daß sie ohne Rücksicht auf irgendwelche Vorschriften ihrem schmachvollen Handwerk nach­zugehen vermag, ohne in den Maschen des Strafgesezes hängen zu bleiben. Gesetzgeber, welche Paragraphen gegen die Ritter von der Ballonmüze fabriziren, aber den betreffenden Baffus des Straf­gefeßes aufrecht erhalten, gleichen dem biederen Schneiderlein, das seinen Fuß auf die Donauquelle sezte und mit freudigem Stolze ausrief: Wie werden sie sich in Wien   wundern, wenn die Donau  ausbleibt!"

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Des Weiteren ist die Ziffer 6 des§ 361 die Grundlage schreienden Unrechts und jedes Unrecht ist unsittlich das unbescholtenen, ehrbaren Frauen und Mädchen widerfährt. Sie verleiht den Polizeibehörden die schier schrankenlose Machtbefugniß, nach Gutdünken auch die anständigste Frau als Prostituirte auf­zugreifen, zu inhaftiren, der schimpflichen förperlichen Untersuchung zu unterwerfen, unter Sittenkontrolle zu stellen. Und es fehlt nicht an Beispielen, daß Polizeiorgane diese Machtbefugniß nicht nur leichtfertig gebraucht, sondern auch sträflich mißbraucht haben. Es ge= nügt der Verdacht eines übereifrigen oder tölpelhaften Polizeiers, die Denunziation eines in die Schranken gewiesenen geilen Schurken, und auch das reinste Weib muß die körperliche und seelische Schmach erdulden, gegen welche Noth und Gemeinheit nicht immer die Straßendirne abgeſtumpft haben. Wir erinnern an die Fälle Köppen in Berlin   und Kiefer in Köln  . In Berlin   wurde im vorigen Jahre festgestellt, daß eine unbescholtene Frau jahrelang in den Listen der Prostituirten geführt wurde, ohne daß sie eine Ahnung davon hatte. Noch Aergeres trug sich in Hamburg   zu, wo Bordelle im polizeitechnischen Sinne" nur offiziös, nicht offiziell bestehen. Hier wurde eine anständige verheirathete Frau unter Sittenkontrolle gestellt und sollte den entsprechenden Vorschriften nachkommen. Sie weigerte sich dessen, erhielt ein Strafmandat und beantragte gerichtliche Entscheidung. Es erfolgte zunächst Frei­sprechung, der Oberstaatsanwalt legte jedoch hiergegen Berufung beim hanseatischen Oberlandesgericht ein. Dieses hob seinerseits das freisprechende Urtheil unter einer Begründung auf, welche nach richterlichem Amtsverstand gewiß Logik und Recht für sich bean­spruchen darf, die aber nichtsdestoweniger jedem gesunden Rechts­empfinden, jedem nicht durch Formelkram verfümmerten Denken ins Gesicht schlägt. Das Oberlandesgericht entschied, daß für Beurtheilung des Falles einzig maßgebend sei, ob die Polizei eine weibliche Person unter Sittenkontrolle gestellt habe oder nicht. Ob dies mit Recht oder Unrecht geschehen sei, habe das Gericht nicht zu entscheiden. Ohne jede Bürgschaft gegen Mißbrauch lieferte das Urtheil mit einem Federstrich die Ehre einer jeden Frau dem willkürlichen Ermessen der Polizeibehörden aus, und das natürlich von Rechtswegen". Ungeheuerlich wie das Er­kenntniß ist, darf es doch ein Verdienst für sich fordern: es zeigt hüllenlos das gemeingefährliche Wesen jener Bestimmung des Strafgesetzbuchs, welche die Polizei zum höchsten Sittlichkeitstribunal erhebt und ihr die Macht verleiht, nach Belieben auch der ehr­barsten Frau dafern es einem schlauen Polizeier gefällt, sogar der Vorsteherin eines Sittlichkeitsvereins das Brandmal einer Dirne aufzudrücken und sie als Dirne zu mißhandeln.

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Aber die Sozialdemokratie forderte nicht blos die Streichung des betreffenden Gesezestertes, weil dieser in der Praxis zu un­