des Jahres, während der Kampagne zu den Stadtverordnetenwahlen, setzte dann die Agitation der Genossinnen neuerlich ein. In Berlin fand eine Versammlung mit einem zweckentsprechenden Referat des Genossen Dr. Freudenberg statt. Die Genossinnen wirkten außerdem dafür, daß die Frauen auch die öffentlichen allgemeinen Wahlversammlungen besuchten. Eine größere Anzahl von ihnen stellte sich beim Flugblattaustragen, Stimmzettelvertheilen, Listenführen in den Dienst der Wahlarbeit. Die Milchvertheuerung, welche in Folge der Organisation des Milchrings in Aussicht stand, forderte eine Aktion der Genossinnen heraus. Sie beriefen vier glänzend besuchte Versammlungen ein, in denen die Genossinnen Ihrer und Tietz unter großem Beifall referirten und mit dem Milchwucher zusammen auch den Brot- und Fleischwucher gebührend brandmarkten. Auch die von den Genossen und den Milchhändlern veranstalteten Versammlungen, welche Stellung zur Frage des Milchrings nahmen, erfreuten sich sehr zahlreichen Zuspruchs von Seiten der Frauen, Dank der unter ihnen von den Genossinnen entfalteten Agitation. Der drohende Zollwucher wies diesen neue Aufgaben zu, die mit aller Kraft in Angriff genommen wurden. Die Genossinnen agitirten dafür, unter Anderem auch durch einen packenden Aufruf im„Vorwärts", daß die Frauen recht zahlreich den allgemeinen Protestversammlungen der Genossen von Berlin und Umgegend beiwohnten. Sie betheiligten sich fleißig am Austragen der zwei Flugblätter gegen die Wucherzölle und an der Sammlung von Unterschriften für die sozialdemokratischen Massenpetitionen. Am Schlüsse des Berichtsjahrs veranstalteten sie noch eine eigene imposante Protestversammlung, in der Genossin Zetkin sprach. In der Zwischenzeit zwischen den vorstehend erwähnten größeren Aktionen, sorgten die Genossinnen für eine Reihe von einzelnen Versammlungen, die die Aufklärung der Frauen im Allgemeinen fördern sollten. So sprach Genosse Ledebour in einer überfüllten Versammlung in sehr wirksamer Weise über das Verhältniß des Christenthums zur Stellung der Frau, indem er das Thema erörterte:„Weib, was habe ich mit Dir zu schaffen?" Die Ausführungen des Referenten führten zu einer sehr interessanten Auseinandersetzung mit einem anwesenden Pfarrer. Die Genossinnen beriefen eine Protestversammlung gegen die barbarische Nieder- knüttelung der russischen Freiheitskämpfer durch den Zarismus ein, die sich einer sehr zahlreichen Betheiligung erfreute. Genossin Zetkin referirte in ihr über„die Betheiligung der russischen Frauen an der revolutionären und der Arbeiterbewegung." Des Eine weitere Naivetät! Dieser Mensch bildete sich thatsächlich ein, man interessire sich für das, was er gethan hatte. Davon war nicht die Rede, lieber Sokrates. Du hättest sagen sollen: „Ich bin„liberal" oder ich bin„konservativ", je nach der Mode des Tages. Du hättest von deiner Religion sprechen müssen— einer orthodoxon oder modernen, je nach den jeweiligen Umständen. Du hättest die oder jene Prinzipien bekennen, die oder jene Thesen aufstellen sollen— immer nach der Laune des Augenblicks. Das war dein Jrrthum! Plutarch hatte recht, deineVertheidigung„einfach" zu nennen. Ach ja, einfach war sie— bis zur Einfältigkeit. Gut. Sokrates sprach also von seinem Leben. Aber: „Dieses Vertheidigungssystem fand keine Gnade vor seinen Richtern, die ihn zum Tode verurtheilten.. Da haben wir wieder diese verdammte Weichlichkeit der Athenerl Diese dummen Heiden hatten wahrscheinlich nicht die geringste Idee von der christlichen Tortur! „Der atheniensischen Sitte zufolge mußte der Angeklagte die Strafe angeben, die er verdient zu haben glaubte. Als man Sokrates diese Frage vorlegte, erklärte er, er glaube, wie ein Sieger in den olympischen Spielen, seine Versorgung auf Staatskosten verdient zu haben." Hatte ich nicht recht, als ich sagte, dieser Sokrates wäre verrückt gewesen? Keinen Schimmer christlicher Demuth! Man kann sich denken... „Durch diese Antwort reizte er seine Richter nur noch mehr." Das glaube ich! Es ist auch zu drollig! Ein Individuum, das man ohne weilere Umstände zum Tode verurtheilen wollte, behauptet, Anspruch auf eine Belohnung zu haben! Die Richter batten ganz recht, daß sie sich über eine solche Antwort ärgerten. Uebrigens... „Mehrere unter ihnen, die sich zuerst ganz bestimmt gegen die Todesstrafe ausgesprochen, stimmten jetzt dafür. Er wurde verurtheilt..." Weiteren sprach Genosse Seidel-Zürich in zwei gutbesuchten Volksversammlungen über„Die Geschlechtertrennung in der Schule. eine pädagogische Sünde" und„Die Schweiz ein Volksstaat." Abgesehen von den größeren Versammlungen fanden während der Wintermonate im 6. Kreis noch eine gute Zahl kleinerer Sonntagsversammlungen statt. Auf einen belehrenden Vortrag folgte hier ein geselliges Beisammensein, das bezweckte, die Genossinnen einander persönlich näher zu bringen und Fühlung mit neuen Kräften zu gewinnen. Soweit die Genossinnen nicht durch das Vereinsrecht behindert waren, nahmen sie an der allgemeinen Bewegung und ihren Arbeiten regen Antheil . Besonders eifrig ließen sie sich die Sammlung von Munition für die Kriegskasse der Partei angelegen sein. Ueberhaupt muß hervorgehoben werden, daß die Genossinnen sehr viel Zeit und Kraft auf jene Kleinarbeiten verwendeten, die, wie man zu sagen pflegt, Niemand sieht, die nicht an die große Oeffentlichkeit treten, und die doch für das Gedeihen einer Bewegung von der höchsten Bedeutung sind. Gerade bei derartigen Arbeiten haben sehr viele Genossinnen eine Opferfreudigkeit und einen Fleiß bethätigt, die um so mehr anerkannt werden müssen, je weniger sie von großen Kreisen gekannt und gerühmt werden. Neben der politischen Agitation und ihren Nebenarbeiten haben die Genossinnen von Berlin im Berichtsjahr ganz besonders rührig die planmäßige Kleinarbeit in der Gewerkschafts- bewegnng gepflegt, um die Arbeiterinnen mehr und mehr ihren Berufsorganisationen zuzuführen. Ungemein zahlreich waren die Werkstubenversammlungen, in denen Genossinnen den Arbeiterinnen die Nothwendigkeit und den Nutzen des gewerkschaftlichen Zusammenschlusses darlegten, ihre Arbeitsbedingungen erörterten, sie auf die gesetzlich gewährten Rechte aufmerksam machten und ihnen in jeder Hinsicht aufklärend und rächend näher traten. Es dürfte kaum eine Woche verstrichen sein, in der nicht mehrere solche Versammlungen stattgefunden haben. Welch' hohe Anforderungen dadurch an die betheiligten Genossinnen gestellt wurden, liegt auf der Hand. An erster Stelle unter Denen, die auf dem betreffenden bedeutsamen Arbeitsgebiet unermüdlichen, geduldigen und selbstlosesten Eifer bethätigt haben, müssen die Genossinnen Ihrer, Tietz, Hofmann, Rönsch, Thiede, Rosenstengel, Hahnhold, Liedke, Altmann, Weyl, Hey bemann zc. genannt werden, doch auch manch anderer Name noch verdiente hier Erwähnung. Die rege Klein- und Werkstubenarbeit wurde noch ergänzt durch eine Reihe von großen öffent- So spricht Plutarch . Und dieser starre Historiograph hat für die zornigen Richter nicht einmal ein lobendes Wort. Ich denke mir. Plutarch war liberal, und die Richter waren konservativ, oder umgekehrt. Denn in Griechenland lobte man nie Jemand, der einer anderen Partei angehörte. VI. Die Moral der Samoyeden. In Samoyedien— ich weiß nicht, ob das Land so heißt- wenn nicht, so sollten wir diesem Mangel abhelfen— in Samoyedien ist es Sitte, daß die Leute sich vom Scheitel bis zur Zehe mit ranzigem Fischöl einreiben. Ein junger Samoyede verletzte diese Sitte, er rieb sich gar nicht ein, weder mit Fischöl, noch mit einem anderen fettigen Stoffe. „Er fügt sich nicht unseren Sitten", sagte ein samoyedischer Philosoph...„er hat keine Sitten... er ist unmoralisch!" Das war sehr gut gesprochen, und wie man sich wohl denken kann, wurde der junge Samoyede wegen seiner Unmoral mißhandelt. Er fing mehr Seehunde als alle Anderen, aber das nützte ihm nichts. Man nahm ihm seine Seehunde und schenkte sie geölten Samoyeden, während er Hunger litt. Aber die Sache wurde noch schlimmer, denn der junge Samoyede, der einige Zeit lang in vollständig ungeöltem Zustande gelebt hatte, wusch sich schließlich mit Eau de Cologne . „Er handelt gegen die Sitten ", erklärte nun ein Philosoph des Tages,„er ist entartet. Nehmen wir ihm weiter die Seehunde, die er fängt, und schlagen wir ihn außerdem!" So geschah es. Doch da man in Samoyedien keine Verleumdung, keine Hinterlist, keine beschränkte Orthodoxie, keinen falschen Liberalismus, keine korrumpirte Politik, keine bestechlichen Minister und keine verrottete Kammer kennt, so schlug man den Delinquenten mit den abgenagten Knochen der Seehunde, die er selbst gefangen hatte.
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12 (29.1.1902) 3
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