Nr. 7.

Die Gleichheit

12. Jahrgang.

Zeitschrift für die Intereffen der Arbeiterinnen.

Die Gleichheit" erscheint alle 14 Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Post( eingetragen unter Nr. 3051) vierteljährlich ohne Bestellgeld 55 Pf.; unter Kreuzband 85 Pf. Jahres- Abonnement Mr. 2.60.

Stuttgart  

Mittwoch den 26. März 1902.

Nachdruck ganzer Artikel nur mit Quellenangabe gestattet.

Inhalts- Verzeichnik.

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3ur Frage der gewerkschaftlichen Agitation unter den Arbeiterinnen. I.- Der Kongreß der sozialistischen   Frauen Belgiens.- Lohn- und Arbeits­bedingungen der Knopf- und Perlenarbeiterinnen in Freiburg   i. Br. Bon Louise   Zietz. Aus der Bewegung. Feuilleton: Frau Rath Goethe. Von Manfred Wittich.( Fortsetzung.) Notizentheil: Frauenarbeit auf dem Gebiete der Industrie, des Handels- und Verkehrswesens. Weibliche Fabrikinspektoren. Gewerkschaftliche Arbeiterinnenorganisation. Sozialistische Frauenbewegung im Aus­land. Vereinsrecht der Frauen.

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Bur Frage der gewerkschaftlichen Agitation unter den Arbeiterinnen.

I.

XE

Der vierte Kongreß der deutschen Gewerkschaften, welcher Mitte Juni in Stuttgart   zusammentritt, wird sich unter Anderem auch mit der Frage der gewerkschaftlichen Agitation unter den Arbeiterinnen beschäftigen. Wir begrüßen das aufrichtig. Nicht nur äußerst werthvoll, sondern dringend nothwendig dünkt uns die eingehende Erörterung dieser hochwichtigen Materie. Auf sach­fundiger Beherrschung der zu berücksichtigenden thatsächlichen Ver­hältnisse begründet, sowie auf klarer Erkenntniß des zu erstrebenden Zieles, muß sie in praktisch fruchtbaren Anregungen und Losungen ausklingen.

Gewiß nicht seit heut und gestern sind die deutschen Gewerk­schaften von dem Bewußtsein durchdrungen, wie nöthig es ist, die Arbeiterinnen der Organisation zuzuführen. Mit Verständniß und Eifer haben sie sich lange schon angelegen sein lassen, ihren Reihen auch die Berufsgenossinnen einzugliedern. Und die Generalkom­mission der Gewerkschaften insbesonders hat jederzeit verständnißvoll und thatkräftig die Aufgaben in Angriff genommen und gefördert, welche die Entwicklung des modernen Wirthschaftslebens in dieser Hinsicht der Arbeiterklasse stellt. Natürlich aber ist es, daß in letzter Zeit deutlicher und allgemeiner als je die Nothwendigkeit empfunden und erkannt wird, die Arbeiterinnen zu aufgeklärten und organisirten Streiterinnen im wirthschaftlichen Klassenkampf des Proletariats zu machen.

Es ist die Krise, welche das Verständniß dafür weckt, schärft und klärt, daß die Eingliederung der Arbeiterinnen in die Gewerk­schaftsorganisation der Berufsgenossen eine Lebensfrage ist für die Entwicklung der Gewerkschaftsbewegung, für den erfolgreichen Kampf um günstigere Arbeitsbedingungen. Wie sie in den Streisen der Arbeiter das Bewußtsein von der Nothwendigkeit des Kampfes für den gesetzlichen Normalarbeitstag, den Achtstundentag belebt und gekräftigt hat, also auch die Erkenntniß, wie bitter noth die gewerkschaftliche Organisirung der Arbeiterinnen thut. Die Ges werkschaftsblätter, die Diskussionen auf gewerkschaftlichen Konfe­renzen und in Versammlungen spiegeln das deutlich wieder. Mit der Schärfe des elektrischen Scheinwerfers hat die Krise die Tendenz der kapitalistischen   Wirthschaftsordnung beleuchtet, die billige und willige Arbeiterin an Stelle des höher zu entlohnenden, wider­standsluftigeren und widerstandstüchtigeren Arbeiters zu setzen. Das bestätigen mit unanfechtbaren Thatsachen und Ziffern die Berichte der Fabrikinspektoren aus der Zeit der Geschäfsstockung, wie die

Buschriften an die Redaktion der Gleichheit" find zu richten an Frau Klara Bettin( 8undel), Stuttgart  , Blumen­Straße 34, III. Die Expedition befindet sich in Stuttgart  , Furthbach- Straße 12.

Die Krise

Erhebungen und Erfahrungen von Gewerkschaften. steigerte naturgemäß auf Seiten des Unternehmerthums die Anreize zur vorzugsweisen Beschäftigung weiblicher Arbeitskräfte, auf Seiten des Proletariats aber den Zwang zur Erwerbsarbeit der Frauen und Mädchen.

Der zunehmenden Verwendung weiblicher Arbeitskräfte ent­spricht selbstverständlich ihr wachsender Einfluß auf die Gestaltung der Lohn- und Arbeitsbedingungen und damit die steigende Be­deutung ihrer gewerkschaftlichen Organisirung. Wie manche Kürzung des Verdienstes, wie manche andere Unbill noch mußte in den legten Monaten von den Arbeitern geduldig in den Kauf genommen werden, weil der Hinblick auf die indifferenten, unorganisirten Ar­beiterinnen jeden Versuch eines Auflehnens gegen das Unternehmer­

belieben als aussichtslos erkennen ließ. Je mehr es den Gewerk­schaften gelingt, auch die weiblichen Berufsthätigen in ihre Reihen zu ziehen, an ihre Fahne zu fesseln, um so besser können sie die von der Krise gestellte Aufgabe lösen: die Errungenschaften zu halten und zu schirmen, welche in den Jahren der günstigen Kon­junktur den Unternehmern abgetrozt worden sind, und damit fünftige neue Erfolge vorzubereiten.

Kurz die Krise hat nicht blos den Blick für die Nothwendig­keit der gewerkschaftlichen Organisirung der Arbeiterinnen erhellt, sie hat auch diese Nothwendigkeit selbst noch zwingender gestaltet. Die Generalfommission der Gewerkschaften hat in fluger Berück sichtigung dieser Sachlage den Zeitpunkt für die Erörterung der Frage mithin sehr günstig gewählt. Dank der angeführten beiden Umstände ist ihr von vornherein ein größeres Interesse, eine gründlichere und umfassendere Behandlung gesichert, als in manch' anderen Tagen.

Die materielle Möglichkeit zu einer solchen Behandlung ist da­mit gegeben, daß die Frage der gewerkschaftlichen Agitation unter den Arbeiterinnen von derjenigen der Agitation im Allgemeinen ausgeschieden worden ist und einen besonderen Punkt der Tages­ordnung bildet. Im Rahmen einer allgemeinen Erörterung wäre eine tiefgreifende Durchberathung der Materie kaum möglich. Der gewerkschaftlichen Organisirung der Arbeiterinnen stellen sich be­sondere Schwierigkeiten entgegen, welche voll gewürdigt werden müssen, sollen die vorliegenden Aufgaben verständnißvoll erfaßt und erfolgreich durchgeführt werden. Früher schon haben wir diese Schwierigkeiten eingehend erörtert.* In der Hauptsache sind sie unmittelbar oder mittelbar in dem Weibsein der Arbeiterin be­gründet. Weil die Arbeiterin ein Weib ist, so treten Tendenzen in Erscheinung, welche in der Richtung wirken, organisationsun­fähig und organisationsunlustig zu machen. Von der niedrigen Ent­lohnung der Arbeiterinnen, ihrem zwiefachen Pflichtenkreise in der Fabrit und in der Familie gilt das Erstere. Die Organisations­unluft der erwerbsthätigen Frauen und Mädchen aber wird durch zahlreiche andere Umstände bedingt. Durch den Hinblick auf die Familie, ihre Anforderungen und ihre eng erfaßten Interessen; die Hoffnung, in ihr den Unterhalt zu finden und in Verbindung mit dieser Erwartung die Werthung der Berufsarbeit als eines zeitweiligen Nothbehelfs; die Milderung der Folgen der Ar­beitslosigkeit durch die Familie; das Betreiben der Erwerbs= arbeit als Zwischen- und Nebenwerk; die unterbürtige Stellung des weiblichen Geschlechts; seine Bedürfnißlosigkeit und Fügsamkeit;

* Nr. 18, 19, 22, 24 der Gleichheit" von 1898.