Nr. 22.

Die Gleichheit

12. Jahrgang.

Zeitschrift für die Intereffen der Arbeiterinnen.

Die Gleichheit" erscheint alle 14 Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Post( eingetragen unter Nr. 8051) vierteljährlich ohne Bestellgeld 55 Pf.; unter Kreuzband 85 Pf. Jahres- Abonnement Mt. 2.60.

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Stuttgart

Mittwoch den 22. Oktober 1902.

Nachdruck ganzer Artikel nur mit Quellenangabe gestattet. Juhalts- Verzeichniß.

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Aufruf der Vertrauensperson der Genosfinnen Deutschlands . Die Fleisch­noth. Die Frauenbewegung in Italien . Von Dr. Robert Michels . Aus der Bewegung. Vom Hebammenelend. II. Von Marie Kunert . Feuilleton: Ein Kind. Skizze von Paul Bröcker.( Schluß.) Josephine Döring+. Notizentheil: Gewerkschaftliche Arbeiterinnenorganisation. Soziale Gesetz gebung. Vereinsrecht der Frauen.- Genossenschaftsbewegung.- Frauenbewegung. Sittlichkeitsfrage.

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Genossinnen!

Es liegt im Interesse der Aufgaben, welche Euch die Kon­ferenz zu München zugewiesen hat, und die Euch aus der Situation in nächster Zeit erwachsen, daß Eure planmäßige Bethätigung feine Unterbrechung erfährt. Die Unterzeichnete fordert Euch deshalb auf, recht bald die Wahl Eurer Vertrauenspersonen vorzunehmen. In Orten und Bezirken, wo das System der weiblichen Vertrauens­personen nicht besteht, wo sich aber das Bedürfniß nach einer regeren und einheitlicheren Betreibung der agitatorischen und organisatori schen Arbeit unter dem weiblichen Proletariat fühlbar macht, sollten die Genossinnen sich mit den Führern der politischen und gewerk schaftlichen Arbeiterbewegung in Verbindung setzen, um sich gemein sam mit ihnen über die eventuelle Aufstellung einer eigenen Ver­trauensperson oder eine andere Form der organisirten Wirksamkeit schlüssig zu machen. Die Adressen der Vertrauenspersonen sind möglichst bald der Unterzeichneten bekannt zu geben.

Mit Parteigruß

Dttilie Baader

Vertrauensperson der Genossinnen Deutschlands Berlin SW., Bellealliancestr. 95, Hof, III Tr. Die Arbeiterpresse wird um Abdruck gebeten.

Die Fleischnoth.

Eine drückende Sorge mehr lastet seit langen Wochen auf dem werkthätigen Volte, eine drückende Sorge mehr, an der vor Allem die proletarische Hausmutter schwer zu tragen hat, die aber von der alleinstehenden Arbeiterin ebenfalls bitter empfunden wird. Die Fleischpreise sind zu einer Höhe gestiegen, die sich auch in der bürgerlichen Haushaltung mit gutem und festem Einkommen recht unangenehm fühlbar macht, die jedoch für das magere proletarische Portemonnaie schlechterdings unerschwinglich ist. In Posen, Schlesien und Mecklenburg , in Elsaß- Lothringen , Württemberg , Bayern , Baden , der Rheinprovinz , in Berlin und Umgegend wie in Sachsen und den Thüringischen Zauntönigsstaaten: furz, überall im Reiche herrscht Fleischtheuerung, herrscht Fleischnoth, weil der Auftrieb von schlachtreifen Thieren zurückgegangen ist und den Bedarf nicht zu decken vermag.

Alle Fleischarten sind beträchtlich vertheuert, je nach Ort, Art und Stück um 5, 8, 10, 15 Pf. das Pfund. Allen voran haben aber die Preise für das Fleisch angezogen, das im proletarischen Haushalte die größte Rolle spielt: die Preise für Schweinefleisch. Nicht etwa, daß die Proletarierin sich für die eigene Lebenshaltung

Buschriften an die Rebaktion ber Gleichheit" find zu richten an Frau Klara Bettin( 8undel), Stuttgart , Blumen Straße 84, III. Die Expedition befindet sich in Stuttgart , Furthbach- Straße 12.

und die der Ihrigen auf das weniger nahrhafte Schweinefleisch aus jenem ,, Unverständniß" und jener Schlamperei" versteift, welche der wohlgenährte, von einer perfekten Köchin versorgte Bourgeois so gern für die kraft und saftlose Küche der Werkthätigen verantwortlich macht. Den höheren Nährwerth und die größere Schmackhaftigkeit von Lendenbeefsteates weiß auch die Arbeiterin zu schäzen, welche sich zum Mittagsmahl eine billige Wurst kauft oder die Frau des Drahtziehers, die nach der Erhebung der badischen Fabrik­inspektion über die soziale Lage der Pforzheimer Bijouteriearbeiter( 1899) für die fünfköpfige Familie wöchent lich dreimal je 1/2 Pfund Fleisch auf den Tisch bringt. Allein Schweinefleisch ist das Vorzugsfleisch der Armen und Kleinen in dieser besten aller Welten, weil es sich am wirthschaftlichsten ein­theilen und ausnußen läßt. Das Emporschnellen der Preise dafür bis auf 80, ja 90 Pf. das Pfund trifft deshalb gerade Die am härtesten, die ohnehin nicht viel zu brocken und zu beißen haben, für die Fleisch weit mehr ein seltener Luxus als ein regelmäßiges Nahrungsmittel ist.

In Wahrheit liegen die Dinge ja also, daß für die prole­tarischen Massen Fleischnoth und Fleischtheuerung ständige Erschei­nungen sind. In der Lebenshaltung der Arbeiterfamilie, der Ar­beiterin mangelt es jederzeit an Fleisch, weil es angesichts des geringen Einkommens auch bei verhältnißmäßig billigen Preisen noch viel zu theuer ist. Wurde doch der Durchschnittsverbrauch an Fleisch pro Kopf der deutschen Bevölkerung 1898 nur auf 29 Kilo geschätzt, während er in Großbritannien 55, in Frankreich 42 Kilo betrug. Dieser erschreckend niedrige Durchschnittsverzehr kommt lediglich auf Rechnung des Darbens der Millionen Besizloser und Ausgebeuteter. Zugegeben, daß in den Jahren nach 1898, zur Zeit des flottesten Ganges von Handel und Wandel, der Fleischkonsum der Arbeiterklasse sich ein Weniges gehoben haben mag. Sicher anderseits jedenfalls, daß er seit< her unter der Herrschaft der Krise zurückgegangen ist. Die Handels- und Gewerbekammer Plauen hat zum Beispiel festgestellt, daß in ihrem Bezirk der Fleischverbrauch von 16 740 030 Stilo im Jahre 1900 auf 14511577 Stilo in 1901 sant, sich also um 2228453 Stilo verminderte. Der Verzehr an Schweinefleisch betrug pro Kopf der Bevölkerung 1900 noch 23,68 kilo, 1901 aber nur 21,14 Kilo, insgesammt nahm er um 10,73 Prozent ab. Auch der fanatischste Spötter über die richtig verstandene Verelendungstheorie" wird sich vor der Behauptung hüten, die deutsche Arbeiterklasse nähere sich einem Einkommen, das jedem erwachsenen Proletarier den täglichen Verzehr jener 250 Gramm Fleisch ermögliche, deren er nach der Wissenschaft zu seiner Ernährung bedürfte.

Jedoch nicht blos der Menge, auch der Qualität nach bleibt der Fleischverbrauch im Proletariat weit hinter der Vorschrift der Gesund­heitslehre, hinter den Bedürfnissen des abgeraderten Körpers zurück. Im Allgemeinen sind es nicht die nahrhaftesten und wohlschmeckendsten Fleischarten, Fleischstücke und Fleischwaaren, welche die Arbeiterfrau, ängstlich mit jedem Pfennig rechnend, einkauft, welche der Arbeiterin beim billigen Mittagstisch vorgesetzt werden oder die sie sich Abends auf dem Spirituskocher hastig zubereitet. Nicht die Güte, die Billig­keit entscheidet über den Verzehr. Die, welche mit ihrer Arbeit Anderen, recht oft Müßiggängern, den Tisch mit feinem Filet­braten, Wildbret und Geflügel bestellen, können für sich und die Ihrigen recht oft nur minderwerthiges Fleisch, geringste Wurst­sorten bezahlen. In den Haushaltungsrechnungen Nürn­berger Lohnarbeiter"( 1901) heißt es auf Grund der genauen