Nr. 25.
Die Gleichheit.
12. Jahrgang.
Beitschrift für die Intereffen der Arbeiterinnen.
Die„ Gleichheit" erscheint alle 14 Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Post( eingetragen unter Nr. 8051) vierteljährlich ohne Bestellgeld 55 Pf.; unter Kreuzband 85 Pf. Jahres- Abonnement Mt. 2.60.
Mittwoch den 3. Dezember 1902.
Nachdruck ganzer Artikel nur mit Quellenangabe gestattet.
Gegen den Polizeistaat!
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Von D. Z. Zum Schaden den Spott. Aus der Bewegung. Die Behörden im Kampfe gegen die proletarischen Frauen. Von Louise Zietz . Feuilleton: Mutter Jones.( Fortsetzung).
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Notizentheil: Arbeitsbedingungen der Arbeiterinnen. Sittlichkeitsfrage. Verschiedenes. Frauenbewegung.
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Gegen den Polizeistaat!
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Der Polizeistaat saß lezthin wieder einmal im Reichstag dort, wo der ihm rechtmäßig gebührende Plak ist: auf dem Armensünderbänkchen. Selbstverständlich war es die Sozialdemokratie, die ihn durch ihre Interpellation über die sich häufenden Mißgriffe von polizeilichen und richterlichen Behörden dorthin geführt, die ihm nach allen Regeln den Prozeß machte und verurtheilte. Aber ausnahmsweise und eine Schwalbe macht bekanntlich keinen Sommer schlossen sich diesmal auch die bürgerlichen Parteien, vom gemäßigt polizeifrommen Freifinn bis zum fnutengläubigen Dertel auf der äußersten Rechten der Verurtheilung von Büttelgeist und Büttelwillkür an. Ja sogar der berufsmäßige Kugel fänger" der Regierung im Allgemeinen und des preußischen Justiz ministers im Besonderen, Staatssekretär von Nieberding, gab die ,, lebergriffe" der Polizei der einstimmigen Brandmarkung preis und erklärte, daß des Reiches Kanzler, der vielseitige Bülow, die selben entschieden verurtheile und in seinem weiten modernen" Herzen auch ein warmes Plätzchen für ihre Opfer, sowie die persönliche Freiheit als eines der höchsten Güter der Staatsbürger" habe.
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Allzu toll hatte es polizeiliche und richterliche Allgewalt in letzter Zeit getrieben. So toll, daß sogar dem deutschen Philister die Geduld gerissen war, ihm, der für gewöhnlich in altererbtem beschränkten Unterthanenverstand auch den letzten Schußmann als Auge des Gefeßes" und Stellvertreter der irdischen Vorsehung, " hohe Obrigkeiten" benamset, demüthiglich verehrt. Wohl zum ersten Male stand deshalb die sozialdemokratische Presse nicht allein in dem zähen Kleinfrieg, den sie in ihres Herzens Härtigkeit jederzeit gegen„ menschliche Schwächen" in Polizeiuniform und Richtertalar führt. Die Blätter aller bürgerlichen Parteien hallten vielmehr wider von Klagen, Protesten, Verurtheilungen je nachdem allersubmissest gewinselt oder in heldenhafter Bose gedonnert, die burch brutal- tölpelhafte und reaktionär- raffinirte polizeiliche und richterliche Eingriffe in das Recht, die Freiheit der Person hervor
gelockt wurden.
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Unter den Standalosa, welche die Oeffentlichkeit beschäftigten, befindet sich eine Zahl von Fällen, in denen amtseifrige, unhumane Beschränktheit und Willkür sich an Frauen geübt hat. Die polizei lichen Sistirungen von Frau von Decker in Wiesbaden und Fräulein Augspurg in Weimar stellen sich dabei als verhältnißmäßig leichte" Formen polizeilicher Belästigung und Niederbüttelung elementarer persönlicher Rechte dar. Es sind das Belästigungen, wie sie trog des gewaltigen Lärmens, das um sie als um„ Unerhörtes" vollführt wurde Arbeiterinnen und Arbeiterfrauen täglich erfahren, womit nicht etwa gesagt sein soll, daß sie deswegen minder scharf zu brandmarken wären. Riesengroß erhebt sich neben ihnen die Schmach, das Unheil, ja bei einem Haare die Vernichtung der bürgerlich anständigen Eristenz, die Schußmannsbelieben in dem
Buschriften an die Rebaktion ber Gleichheit" find zu richten an Frau Klara Bettin( 8undel), Stuttgart , BlumenStraße 84, III. Die Expedition befindet sich in Stuttgart , Furthbach- Straße 12.
bekannten Falle über ein Mädchen in Kiel gebracht hat; riesengroß erhebt sich neben ihnen die schimpfliche Behandlung, welche Frau Rappoport in Altona der entseglichsten moralischen Folter
unterwarf. Was in all diesen Fällen und anderen noch Polizeiallmacht an Frauen verbrochen hat, wird zum Theil als Beweismaterial für die Dringlichkeit der Beseitigung des bekannten§ 361 Ziffer 6 des Reichsstrafgesetzbuchs angezogen. Es ist das begreiflich und im Hinblick auf den angestrebten Zweck durchaus gerechtfertigt. Dagegen verräth es eine kindlich naive und schiefe, dafür aber waschecht bürgerliche Auffassung der Lage, wenn biedere Frauenrechtelei für die behördliche Malträtirung weiblichen Ehr- und Schamgefühls einzig und allein die angezogene gefeßliche Bestimmung verantwortlich macht und das schimpfliche Ausnahmerecht, das sie über das weibliche Geschlecht verhängt.
Unbestreitbar und unbestritten, daß der berüchtigte§ 361 Ziffer 6 ein Ausnahmerecht für das weibliche Geschlecht festlegt. Er unterwirft nur die Verkäuferin und nicht auch den Käufer auf dem Prostitutionsmarkt bestimmten Maßregeln und kehrt mithin seine Schärfe einseitig gegen die sich prostituirende Frau, während der fich prostituirende Mann als gefeßlich makellos und unverfehmt frei ausgeht. In dieser schreiend ungerechten Thatsache tritt uns die soziale Unterbürtigkeit des weiblichen Geschlechtes und das von ihr gezeugte Dogma der zweierlei Moral für Mann und Frau unver hüllt abstoßend entgegen. Was jedoch die Anwendung des Paragraphen auf völlig unbescholtene Frauen anbelangt; was die Machtbefugniß des ersten besten Polizeiers, irgend eine„ Weibsperson" -um im geschmackvollen Juristenjargon zu reden, die seine ästhetische oder sittliche Galle erregt, aufzugreifen und allen Qualen der vorgesehenen schimpflichen Maßregeln zu unterwerfen; was die Behandlung weiblicher Untersuchungs- und Strafgefangener: so find sie nicht der Ausfluß des geschriebenen Ausnahmerechtes zu Ungunsten des weiblichen Geschlechtes, vielmehr lediglich der Ausdruck des existirenden Ausnahmerechtes zu Gunsten der Polizei. Sie kennzeichnen sich als naturwüchsige Folgen jenes Systems der Büttelallmacht und Büttelwillkür, das im Polizeistaat Deutschland herrscht. § 361 3iffer 6 spielt bei den empörenden Thaten dieser Allmacht Frauen gegenüber nur die Rolle des bequemen, willkommenen Feigenblattes, welches das System deckt. Wenn die„ Frauenbewegung", das Organ der radikalen Frauenrechtlerinnen, erklärt, in Deutschland sei die Frau auf Grund des betreffenden Gesetzestextes" bogelfrei", so sagt sie mithin nur die halbe Wahrheit. Die ganze Wahrheit ist, daß in Deutschland , der frommen Kinderstube", Straft der geltenden Polizeimacht jeder Reichsangehörige ohne Unterschied des Geschlechtes unter Anrufung eines irbeliebigen Paragraphen vogelfrei" gemacht werden kann. Stäupt polizeiliches und richterliches Belieben, ohne mit den Wimpern zu zucken, ehrbare Frauen mit den Ruthen , welche das Gesez für Dirnen binden wollte, so legt es ebenso seelenruhig ehrbaren Männern die Handschellen von Dieben und Mördern an. Daß dies stets„ von rechtswegen" geschieht, dafür sorgen Gesezesparagraphen und Regle ments für Untersuchungs- und Strafgefangene im Bunde mit amtlicher Weisheit. Es erweist sich auch in dieser Hinsicht, daß das Wie der Handhabung von Vorschriften eine weit realere Eristenz führt, als der Text derselben. Die Fälle Bredenbeck, Hoffmann, Tampke 2c. zeigen das so sinnenfällig, daß nur politisch traumwandelnde Frauenrechtelei die greifbaren Zusammenhänge der Dinge zu übersehen vermag.