Moral, die derJude" Heine in den unsterblichen Versen gebrand- markt hat: Hat man Viel, so wird man bald Noch viel Mehr dazu bckoiiiincn. Wer nur Wenig hat, Dem wird Auch das Wenige genommen. Wenn Du aber gar Nichts hast, Ach, so lasse Dich begraben, Denn ein Recht zum Lebe», Lump, Haben nur, Die Etwas haben." Aus der Bewegung. Bon der Agitation. Vom 3. bis 17. Oktober unternahm Ge­nossin Greifenberg   für den Deutschen   Textilarbeiter- und Arbeiterinnenverband eine Agitationstour im Elsaß   und in Baden  . Dieselbe war vom Agitationskomite in Mülhausen   in die Wege geleitet worden und sollte dazu beitragen, eine größere Agi­tation für den Zehnstundentag zu entfalten. Versammlungen mit dem ThemaZweck und Nutzen des Zehnstundentags" fanden in folgenden Orten statt: Kolmar, Mülhausen  , Thann  , Sulz, Gebweiler, Hüningen  . Lörrach  , Brambach. Steinen, Maul­ burg  , Freiburg  , Luttingen   und Oberhof   bei Laufenburg  . Der Besuch der Versammlungen war, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, ein sehr guter, und zwar auch von Seiten der Arbeiterinnen. Frauen, die des Abends bis 7 Uhr schaffen und des Morgens schon um 6 Uhr wieder in der Fabrik sein müssen, hatten nicht den Weg von und einer Stunde gescheut, um in die Versammlungen zu gehen, die doch bis 11 auch V2l2Uhr dauerten, und nach deren Schluß es den Weg wieder zurückzulegen galt. Mit der größten Ruhe und Aufmerksam­keit folgten die Anwesenden den Ausführungen der Rednerin, die ausführlich die Gründe darlegte, weshalb die Arbeitszeit ver­kürzt werden muß. Besonders eingehend erörterte sie all die Um­stände, die bewirken, daß die geforderte Reform von größter Be­deutung für die Arbeiterinnen und die Erfüllung ihrer Mutterpflichten ist; ebenso betonte sie scharf, daß lange Arbeitszeit mit niedrigem Lohne und kurze Arbeitszeit mit höherem Lohne   Hand in Hand geht. Die Referentin setzte sich des Weiteren mit der Stellungnahme der christlichen Organisationen zum Zehnstundentag auseinander. Sie wies darauf hin, daß die Verkürzung der Arbeitszeit nicht nur von den freien Gewerkschaften gefordert, sondern auch von den christlichen Arbeitern gewünscht wird. Allein während die Gewerkschaften die nöthige Verbesserung der Arbeiterlage durch eine starke Organisation und deren Druck erringen wollen, wende» die christlichen Arbeiter sich bittend an das Zentrum, es möge dafür eintreten. Sie wagen nicht zu fordern und dürfen überzeugt sein, daß sie, so lange sie sich auf das Zentrum verlassen, nicht nur verlassen, sondern verrathen und verkauft sind. Trotzdem in mehreren Versammlungen christliche Ar­beiter anwesend waren, meldete sich doch keiner von ihnen zum Wort. Nur in Mülhausen   trat ein Herr Fischer für die christlichen Or­ganisationen ein. Er erklärte sich mit dem größeren Theil der Aus­führungen der Referentin einverstanden. Der freien Gewerk­schaft trete er nicht bei, weil dort über Religion gesprochen und Politik getrieben werde. Für diese Behauptung berief er sich i auf Fräulein Jmle, die gesagt habe, daß aus den angeführten Gründen die christlichen Gewerkschaften eine Existenzberechtigung hätten. In ihrer Erwiderung wies die Referentin die Beschuldigung von der mangelnden Neutralität der Gewerkschaften zurück und stellte der Leistungsfähigkeit dieser Organisationen die Ohnmacht der christ­lichen Arbeitergewerkschaften gegenüber. Sobald diese sich rühren und fordern, kommt von oben der Bescheid: Halt, so weit dürft ihr nicht gehen, das verträgt sich mit der christlichen Nächstenliebe nicht. Ihr dürft organisirt sein, aber ihr sollt nicht gegen die bestehende» miß­lichen Arbeitsverhältnisse ankänipfen. Die christlichen Gewerkschaften werden von Leuten großgepäppelt, die ein Interesse daran haben, die Arbeiterschaft in Dummheit, Ausbeutung und Unterthänigkeit zu er­halten. Die Versammlung in Oberhof   wurde dadurch recht inter­essant, daß der Herr Pfarrer Häuer sich an der Debatte betheiligte. In diesem Orte sprach zum erstenmal eine Frau, und das war wohl der Grund, daß ein großer Theil christlicher Arbeiter mit ihren Frauen sowie der Herr Pfarrer der Versammlung beiwohnten. Die Aus­führungen der Referentin wurden auch von christlicher Seite mit Beifall und Zustimmung aufgenommen. Als der Vortrag zu Ende war, forderte der Vorsitzende auf, daß sich hauptsächlich Gegner zum Wort melden möchten. Es verstrich geraume Zeit, ohne daß dies ge­schah. Da mochte wohl der arme Seelsorger befürchten, daß die Worte der Referentin auf fruchtbaren Boden gefallen seien, und so fühlte er sich getrieben, den Leuten mit dem rothen Gespenst gruselig zu machen. Er führte aus, daß er zuerst geglaubt habe, die Dame stehe auf christlichem Boden, zum Schlüsse habe sich jedoch gezeigt, daß sie eine j-j-i- Sozialdemokratin sei. Die Rednerin sei nur hergekommen, um Leute für die Sozialdemokratie einzusaugen. Auch er sei dafür, daß der Arbeiter und vor allem die Frau, wenn sie sich stockfinsterer Nacht meilenweit über Berge oder dem Bahngeleise entlang wandern. Auf dem nackten Fußboden in eines Kohlen­gräber Hütte zu schlafen, ist für sie ein alltägliches Ereigniß, das längst den Reiz der Neuheit verloren hat. Ihre Nahrung ist stets sehr einfach, und es ist schon vorgekommen, daß sie einen ganzen Tag lang nichts als ein paar Brotrinden zu essen hatte, manchmal auch gar nichts. Niemand lebt mehr in seiner Arbeit und für seine Arbeit als Mutter Jones. In der That: wenn sie einen Fehler hat, so ist es der, daß sie derart in ihrer Arbeit aufgeht, daß sie thatsächlich alles andere vergißt mit Ausnahme ihrer liebsten Freunde, die sie von Zeit zu Zeit mit Zeichen ihres Gedenkens überrascht. Aufmerksam liest sie die Zeitungen, um über alles, waS die Sache betrifft, auf dem Laufenden zu sein. Obgleich sie jahrelang ihren Lebensunterhalt durch Kleidermachen erworben hat, interessirt sie sich doch nicht für jene Dinge, welche angeblich allein das weibliche Geschlecht be­schäftigen sollen. Immerhin versteht sie es, ihrem gewöhnlich dunklen Kleide mit ein wenig farbigem, ruhigem Aufputz einen ge­fälligen Chic zu geben, der den angeborenen Geschmack verräth. Ihr einziger großer Wunsch ist, für die Bewegung thätig zu sein, nie wird sie es müde, für die Arbeiter, gegen das ihnen zuge­fügte Unrecht, für ihr Recht zu kämpfen. Solange ihr tapferes Herz schlägt, wird nichts die Sache des Proletariats daraus ver­drängen. Nach der Sache kommen ihre Freunde. Sie sind zahlreich, aber nur wenige davon stehen ihr ganz nahe, weil es nur wenige giebt, die sie ganz verstehen, die seit Langem schon unter der agres- siven Weise und der leidenschaftlichen Sprache der Agitatorin die reine Seele erkannt haben, die rastlos für die Gerechtigkeit kämpft. Die Selbstsucht hat in dem Herzen der Mutter Jones nie den kleinsten Schlupfwinkel gefunden, und die dankbare Erinnerung an zahllose Thaten einsichtsvoller Güte ist überall lebendig, wo sie ge­wesen ist. Das Wort der Sympathie, das Mutter Jones sagt, wenn seiner am nöthigsten bedurft wird, der theilnehmende Hände­druck, den sie im richtigen Augenblick ertheilt: fesseln ihre Freunde mit ehernen Banden an sie. Nur ein Weib, das echteste Güte im höchsten Maße besitzt, kann dem unruhigen Geist, dem kummer­vollen Herzen jenen Frieden bringen, den Mutter Jones giebt. Vielleicht hat nichts so sehr zu dem Erfolg Mutter Jones' beigetragen, als ihre Gabe, der schwierigsten Situation eine heitere Seite abzugewinnen. Jni höchsten Grade eignet ihr der rettende Sinn des Humors und hat ihr bei mehr als einer Gelegenheit die trefflichsten Dienste geleistet. Sie kann dieKerls" mit einem derben Spaß ergötzen, einen Gegner nachahmen, einen Zwischen­rufer in einer Versammlung abführen, mit einem sarkastischen Aus­fall ein Argument zurückweisen all das mit der gleichen Leichtig­keit. In einem kritischen Augenblick fehlt es ihr nie an dem rich­tigen Worte. Ohne jede Effekthascherei kann sie eine Versammlung so schnell von Thränen zum Gelächter bringen, als die Worte von ihren Lippen fließen. Eine seltenere Vereinigung von Talenten ist noch nie in den Dienst einer hehren Sache gestellt worden.... Der fruchtbarste Romanschriftsteller würde wahrscheinlich nie eine Frau von sechzig Jahren zur Hauptgestalt eines Werkes machen, und doch ist Mutter Jones' Laufbahn so reich an Wechsel­fällen und Abenteuern, als es ein Schüler Alexander Dumas  ' nur wünschen könnte. Man kann sich leicht eine Jungfrau von Orleans  , einen D'Artagnan  * oder einen Richard Löwenherz   vorstellen, aber wer denkt sich eine kleine grauhaarige Frau als kühne Anführerin eines Kreuzzugs? In Mutter Jones' Leben liegt ein Stoff vor, den ein kommender Genius unsterblich gestalten könnte. Mit Rücksicht auf den Raum kann ich hier nur drei Vorfälle * D'Artagnan  , einer der Helden ausDie drei Musketiere  " von Alexander Dumas  .