bewährt. Die Leitung durch eine geschulte, zielflare Persönlichkeit ist eine Bedingung ihres Erfolges. Neben dem Übermitteln und der Klärung sozialer und politischer Kenntnisse und der Einführung in das Studium und Verständnis unseres Programms bezwecken die Leseabende zugleich, die Proletarierinnen an das Lesen ernster sozialpolitischer Lektüre und das logische Durchdenken derselben zu ge= wöhnen, sowie an das flare Aussprechen ihrer Gedanken. Die Leseund Diskussionsabende hatten außerdem den großen Vorteil, daß sie eine stattliche Zahl ernster, strebsamer und zuverlässiger Frauen einander näher brachten und zum gemeinsamen Wirken verbanden. Die Betätigung unserer Genossinnen im Wahlkampf ist dadurch bedeutend gefördert worden. Sie gewannen neue, sehr energische und geschulte Mitarbeiterinnen, welche opferfreudig ihre Kraft und Zeit in der Wahlagitation und am Wahltag der sozialdemokratischen Partei zur Verfügung stellten.
An der Kampagne für die Reichstagswahlen beteiligten sich die Genossinnen mit Feuereifer. Bei allen Arbeiten halfen sie mit. Unsere rednerisch tätigen Genossinnen kannten Ermüdung nicht; wochenund monatelang hielten sie Tag für Tag in zum großen Teile überfüllten Räumen Versammlungen ab. Der Erfolg der geleisteten Arbeit ist bemerkenswert. Im Kreise Dortmund , wo bis vor etwa zwei Jahren jede Beteiligung von Frauen am politischen Leben durch die Polizei behindert wurde, hatte die Agitation unter den Proletarierinnen besonders in die Augen springende Erfolge. In wenigen Wochen wurden unter den Frauen der Kohlengräber 400 bis 500 Abonnenten für die„ Gleichheit" gewonnen. Auch unter den katholischen Frauen findet unsere Agitation und unser Organ mehr und mehr Eingang. Im letzten Jahre ist die Abonnentenzahl der„ Gleichheit" von 4000 auf 9500 gestiegen, der beste Beweis dafür, daß die proletarische Frauenbewegung an äußerer Ausdehnung wie an innerer Reife gewinnt. Als ein besonders begrüßenswertes Symptom muß verzeichnet werden, daß die Zahl der Mitarbeiterinnen der„ Gleichheit" stetig wächst, welche sich aus dem weiblichen Proletariat refrutieren.
Mit der Bekanntmachung des Termins für die Reichstagswahlen kamen für die Zeit bis zur erfolgten Wahl auf Grund des§ 21 des preußischen Vereinsgesetzes die Bestimmungen des§ 8 desselben in Fortfall. Frauen dürfen demzufolge in dieser Zeit politischen Wahlvereinen als Mitglieder angehören und auch solche Vereine gründen, vorausgesetzt, daß diese Organisationen nur die Betreibung einer bestimmten, ausgeschriebenen Wahl bezwecken. Durch einen Aufruf wurden die Genossinnen in Preußen ersucht, das wenige Wochen währende Recht auszunuzen.
In Altona gründeten die Genoffinnen einen Wahlverein, der bald 104 Mitglieder aufznweisen hatte und eine rege Tätigkeit entfaltete. Im Kreise Teltow Beeskow- Charlottenburg wurde ebenfalls ein sozialdemokratischer Frauenwahlverein ins Leben gerufen, der es auf ungefähr 450 Mitglieder brachte. Die Schulung, welche die Organisation ihren Angehörigen angedeihen ließ, befähigte diese zu tüchtigen Arbeitsleistungen bei den Wahlen. Die Genossinnen Berlins und der Umgegend nußten ebenfalls das Eintagsrecht aus. Sie gründeten am 20. April einen Wahlverein, dessen Existenz ebenso wie diejenige der beiden anderen Vereine eine Demonstration für die Forderung voller politischer Rechte für die Frauen bedeutete. Der Erfolg der neuen Organisation übertraf alle Erwartungen. Fast jede der neun Versammlungen, die der Wahlverein in den verschiedenen Stadtteilen veranstaltete, war von Frauen überaus zahlreich besucht. Der Mitgliederstand erreichte die beachtenswerte Zahl von 958, ein Zeichen dafür, daß immer breitere Schichten der Proletarierinnen bewußt werden, wie wichtig für sie der Besitz politischer Rechte ist, und daß wachsende Scharen diese Rechte fordern und erkämpfen wollen. Sicher hat auch die durch den Verein betriebene Agitationsarbeit ihr Scherflein zu dem großen Wahlsieg der sozialdemokratischen Partei beigetragen. In petuniärer Hinsicht erzielte der Wahlverein der Genossinnen ebenfalls einen Erfolg. Es konnten dem Parteivorstand zu den Kosten der Reichstagswahl 300 Mart übermittelt werden. Erwähnt sei noch, daß in Ausnuzung des kurzen Rechtes der Frau in vielen Orten Genossinnen in die Wahlkomitees gewählt wurden und dort mit den Genossen gemeinsam wirkten.
Da die Vertrauenspersonen und rednerisch tätigen Genossinnen mit Kenntnissen gerüstet und über die wichtigsten Vorgänge und Erscheinungen des sozialen und politischen Lebens unterrichtet sein müssen, sie aber als arme Proletarierinnen, von denen täglich Zeit- und Geldopfer verlangt werden, nicht immer imstande sind, sich die nötigen Schriften zu kaufen, so schien es zweckdienlich, solche auf Kosten des Agitationsfonds der Genossinnen anzuschaffen und den oben Genannten unentgeltlich zuzusenden. Es gelangten zur Verschickung: 1.„ Das Protokoll des Münchener Parteitags."
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3. Die Fabrikarbeit verheirateteter Frauen", von Henr. Fürth . 4.„ Die Erwerbstätigkeit der Frau", von Dr. Epstein.
5.„ Die Frauen und die Politik", von Lily Braun .
6.„ Das Handbuch für sozialdemokratische Wähler", 1903.
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7. Welchen Wert hat die Bildung für die Arbeiterin", von Wally Zepler .
Das letztere Schriftchen wurde außerdem auf Wunsch Frauenbildungsvereinen in größerer Anzahl zugestellt.
Erwähnt sei noch, daß der Verlag der„ Gleichheit" diese bereitwilligst den Vertrauenspersonen gratis zusendet.
Für die Wahlagitation unter den proletarischen Frauen wurden folgende Broschüren in größerer Anzahl gekauft und gratis verteilt: 1. Die Vernichtung der Sozialdemokratie."
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2. Die Lebensmittelzölle und die indirekten Steuern!" schließlich furz vor den Wahlen Pflichten und Stellungnahme der Frauen und Mädchen des werktätigen Volkes bei der Reichstagswahl 1903". Das zuletzt genannte Schriftchen ist in einer Auflage von 30 000 Eremplaren verteilt worden und zwar auf Kosten der Gesamtpartei. Eine zweite noch größere Auflage davon herzustellen, wie es vielfach gewünscht wurde, dazu war die Zeit zu kurz.
Die verteilten Broschüren haben einen aufklärenden und agitatorischen Werth, der über die Reichstagswahl hinaus reicht. Die Vertrauenspersonen und Leiterinnen von Leseabenden sollten es sich deshalb angelegen sein lassen, dafür zu sorgen, daß sie gründlich gelesen und diskutiert werden.
Es wurden in diesem Jahre 407,77 Mark für Broschüren 2c. ausgegeben.
Durch die Zunahme der Zahl der Vertrauenspersonen hat auch die notwendige Korrespondenz an Umfang gewonnen, so daß für Porti und Schreibmaterialien 163,70 Mark verbraucht wurden. Für mündliche Agitation wurden ausgegeben 772,10 Mark, für andere kleine Ausgaben 50 Mart. Der Parteikasse konnten erfreulicherweise 200 Mart zu den Wahlkosten überwiesen werden. Der Kassenbestand betrug bei Beginn des letzten Tätigkeitsjahres 704,74 Mark. An Geldern gingen für den Agitationsfonds ein 1111,05 Mart. 26 Orte sendeten Beiträge. Das Gesamtvermögen unserer Kasse stellte sich mithin auf 1815,79 Marf. Die Ausgaben betrugen 1593,57 Mark, so daß ein Bestand von 222,22 Mark verbleibt.
Die Summen, welche der Zentralkasse der Genossinnen zur Verfügung standen, waren nicht groß. Sie lassen jedoch keinen Rückschluß zu auf die von der Zentralfasse aus eingeleitete und organisierte Agitation und auf die Tätigkeit der Genossinnen überhaupt. Die eine wie die andere ist weit bedeutender gewesen, als die Zahlen es erkennen lassen. Die Genossinnen ließen es sich allerwärts angelegen sein, die am Orte oder im Bezirke betriebene Agitation aus den eigenen Mitteln zu decken. Nur wo dies unmöglich war, oder wo es galt, die proletarische Frauenbewegung erst in Fluß zu bringen, wurde der Zentralfonds in Anspruch genommen. Bemerkt sei noch, daß die Genossinnen sich überall eifrig am Sammeln von Munition für die Wahlen beteiligt haben, und daß sie auch durch diese Seite ihrer Betätigung der Frauenbewegung Anerkennung und Sympathie erwarben.
Die großen Wahlerfolge der Sozialdemokratie werden uns Frauen ein Ansporn sein, unsere ganze Kraft immer hingebender und eifriger in den Dienst unserer heiligen Sache zu stellen. Wir wollen in jeder Beziehung das Unserige dazu beitragen, daß die nächsten Wahlen der einzigen Partei, die für eine neue, große, gerechte Zeit fämpft, einen noch glänzenderen Sieg bringt. Damit rückt nicht nur der Tag näher, an dem wir Frauen selbst den Stimmzettel in die Urne legen, sondern auch das höhere Ziel, die Befreiung der Arbeit von dem Joche des Kapitals.
Darum vorwärts zu neuer Arbeit, zu neuen Siegen! Ottilie Baader , Vertrauensperson der Genossinnen Deutschlands Berlin SW., Belle- Alliancestr. 95.
Aus der Bewegung.
Von der Agitation. In Crimmitschau , Netzschkau und Werdau sprach Genossin 3ie kürzlich in öffentlichen Versammlungen der Textilarbeiter und Arbeiterinnen über das Thema:„ Die Heiligkeit der Familie, die Industrie und die Gewerkschaften." Ihren Ausführungen wurde reicher Beifall gespendet. Besonders in Netzschkau wohnten der Versammlung erfreulich viel Textilarbeiterinnen bei, von denen auch eine Anzahl dem Verband beitrat. Die entfaltete Agitation war trefflich geeignet, den Arbeitern und Arbeiterinnen die Bedeutung der Gewerkschaft für die Erringung befferer Arbeitsbedingungen, insbesondere zunächst des Zehnstundentags flar zu machen.