Nr. 20.
Die Gleichheit.
13. Jahrgang.
Zeitschrift für die Intereffen der Arbeiterinnen.
Die„ Gleichheit" erscheint alle 14 Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Post( eingetragen unter Nr. 3189) vierteljährlich ohne Bestellgeld 55 Pf.; unter Kreuzband 85 Pf. Jahres- Abonnement Mt. 2.60.
Mittwoch den 23. September 1903.
Nachdruck ganzer Artikel nur mit Quellenangabe geftattet. Juhalts- Verzeichnis.
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Die Erhebungen über die Arbeitszeit erwachsener Fabrikarbeiterinnen in Preußen im Jahre 1902. Von M. Gr. Von der Frauenarbeit im Aus der Bewegung. Feuilleton: Königreich Sachsen. Von R. A. Mumu, das Hündchen des Taubstummen. Erzählung von J. S. Turgenjew . Aus dem Russischen übersetzt von L. A. Hauff.( Fortsetzung.) Notizenteil: Einnahmen und Ausgaben einer Berliner Arbeiterfamilie. Von M. Jeetze- Berlin . Der Kampf der Textilarbeiterschaft von Crimmitschau . Weibliche Fabrikinspektoren. Soziale Gesetzgebung. Sozialistische Frauenbewegung im Ausland. Frauenstimmrecht.- Frauenbewegung. Verschiedenes. Weberlied. Gedicht von Luise Otto . Quittung.
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Die Erhebungen über die Arbeitszeit erwachsener Fabrikarbeiterinnen in Preußen im Jahre 1902.
I.
Die Gewerbeaufsichtsbeamten und Bergbehörden waren, wie an dieser Stelle schon erwähnt wurde, im Jahre 1902 mit besonderen Erhebungen über die Dauer der täglichen Arbeitszeit der in Fabriken und diesen gleichgestellten Anlagen beschäftigten Arbeiterinnen über sechzehn Jahre und über die„ Zweckmäßigkeit und Durchführbarkeit" einer weiteren Herabsezung der gegenwärtig zulässigen Dauer ihrer täglichen Arbeitszeit(§ 137 der Gewerbeordnung) beauftragt. Diese Erhebungen liegen nun seit einiger Zeit vor und sind in Nr. 16 der„ Gleichheit" vom 29. Juli dieses Jahres schon in ihren allgemeinen Ergebnissen und Absichten eingehend gewürdigt worden. Die Erhebungen sind aber in ihren Einzelheiten so bezeichnend und in den ermittelten Tatsachen und in den abgegebenen Urteilen der Gewerbeinspektoren so wertvoll, daß, wie schon in Aussicht gestellt war, hier noch wiederholt auf sie zurückzukommen sein wird. Der Bericht über die Erhebungen in Preußen, mit dem wir uns heute beschäftigen wollen, bietet ein unvergleichliches, behördlicher seits ermitteltes Material für den Kampf um die Verkürzung der Arbeitszeit. Das ist das Unvergleichliche an diesen Erhebungen, daß Behörden um die gesetzliche Möglichkeit von Einrichtungen befragt werden, deren wirtschaftliche Tatsächlichkeit dieselben Behörden schon von zwei Drittel der in Frage kommenden Personen berichten müssen. Denn um das Ergebnis dieser Erhebungen vorwegnehmend zu wiederholen: von 397714 erwachsenen Fabritarbeiterinnen in Preußen hatten 247577 ober 62 Prozent schon im Jahre 1902 einen zehnstündigen, zum Teil noch einen wesentlich kürzeren Arbeitstag und nur 38 Prozent oder 149137 erwachsene Arbeiterinnen hatten eine längere Arbeitszeit. Die wirtschaftliche Entwicklung und auf ihr in bewußter Erkennt nis und Zielklarheit die gewerkschaftliche und politische Bewegung des Proletariats haben also schon einen Zustand geschaffen und erkämpft, in dem die gesetzliche Festlegung des Zehnstundentags für erwachsene Arbeiterinnen zu einer bloßen legislativen Formalität werden wird, die weder wirtschaftlich revolutionieren, noch sozialpolitisch irgendwie eine Tat bedeuten wird seitens der=
* Arbeitszeit der Arbeiterinnen über sechzehn Jahre in Fabriken und diesen gleichgestellten Anlagen nach den Erhebungen der Königlich Preußischen Gewerbeaufsichtsbeamten und Bergbehörden im Jahre 1902. Amtliche Ausgabe. Berlin 1903, R. v. Deckers Verlag. Groß 8°. VI 374 S.
Buschriften an die Redaktion der Gleichheit" sind zu richten an Frau Klara Zetkin ( 3undel), Stuttgart , BlumenStraße 34, III. Die Expedition befindet sich in Stuttgart , Furtbach- Straße 12.
jenigen, die heute noch die Macht der Gesetzgebung in ihren Händen haben. Damit aber bekommen diese Erhebungen zugleich auch einen Wert, der weit über ihren eigentlichen Zweck und ihre besonderen Ergebnisse hinausgeht. Sie decken, wie kaum jemals amtliche Erhebungen vorher, den klaffenden Gegensaz auf zwischen der sozialreaktionären Rückständigkeit der Regierungen und der bürgerlichen Parteien und der fortschreitenden Macht und Kraft des organisierten Proletariats.
Dieser wertvolle Tatbestand wird zum Teil von den Gewerbeinspektoren selbst zugegeben, wenn natürlich auch in einer Form, die sich mit ihrer behördlichen Stellung verträgt. Die Beamten wälzen dabei nicht ohne Zeichen einer gewissen Selbstgenügsamkeit alle Schuld möglichst auf die Unternehmer und deren einseitigen Interessenstandpunkt. So belehrt uns der Berichterstatter für den Gewerbeinspektionsbezirk Köln, daß die gegen die geplanten Änderungen in der Beschäftigungsdauer der Arbeiterinnen seitens der Industriellen vorgebrachten Bedenken von Ausnahmen abgesehen- im großen und ganzen dem weitverbreiteten und durch die Interessenvertretungen noch gesteigerten Empfinden entspringen, welches sich nicht mit einem Eingriff in die eigenen Verhältnisse befreunden kann, und zwar auch dann nicht, wenn dieser Eingriff von seiten des Staates zum Schuße des Gemeinwohls erfolgt." Den Standpunkt und das Verhalten der Arbeiter charakterisiert demgegenüber der Berichterstatter für den Regierungsbezirk Potsdam nicht übel, wenn er ausführt: Andererseits aber besteht bei den Arbeitern selbst ein lebhaftes Bestreben nach Verkürzung der Arbeitszeit. Diese Bestrebungen sind schon soweit verwirklicht, daß bereits überall, wo intelligentere Arbeiter in größerer Menge vorhanden und durch Gewerkschafts- oder sonstige Organisationen start geworden sind, also besonders in den Großstädten und Industriezentren, eine nennenswerte Verkürzung der Arbeitszeit erreicht ist, und zwar ohne daß der Verdienst der Arbeiter zurückgegangen wäre. Wo einmal ein Ausfall am Verdienst entstanden war, der durch emfigere Arbeit nicht ausgeglichen werden konnte, da hat die Lohnbewegung eingesetzt und nach kurzer Zeit den früheren Verdienst mindestens wieder hergestellt." Dies Lob der Gewerkschaften ist um so merkenswerter, als es von einer Seite kommt, von der man weiß, daß sie ihre Anerkennung für die Arbeiterorganisationen jederzeit und bei jeder Gelegenheit möglichst dämpfen muß, wenn nicht schon der Für den eigene Wille dieses Dämpfen hinlänglich selbst besorgt. hier an je einem fnappen Beispiel aufgezeigten Gegensatz zwischen Auffassung und Verhalten der Unternehmer und Arbeiter enthalten die Berichte zahlreiche und gleich beachtenswerte Beispiele und Urteile. Bei der Systemlosigkeit und bei der mangelnden einheitlichen Vorbildung und Eindringlichkeit unserer Gewerbeinspektoren im allgemeinen kommen natürlich auch andere Auffassungen zum Vorschein. Immerhin kann man wohl sagen, daß die zwingende und zunehmende Deutlichkeit der wirklichen Verhältnisse für die Dauer doch nicht ohne Einfluß auf die Berichterstatter geblieben ist, und daß schon eine gute Menge eingefleischter Vorurteile dazu gehörte, die wahren Tendenzen der wirtschaftlichen Entwicklung und der auf und in ihr bewußt tätigen Menschen gerade bei diesen Erhebungen zu verkennen.
Es ist daher auch ganz erklärlich, daß sich bisher die bürgerliche Presse mit den Ergebnissen dieser Erhebungen so überaus wenig eingehend beschäftigt hat und sich meist mit den paar Ziffern begnügt, die im Reichsarbeitsblatt" aus der Enquete zusammen
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