150 Die Gleichheit Nr. 25 Nationalität. Von Gottfried Keller . Volkstum und Sprache sind das Jugendland, Darin die Völker wachsen und gedeihen, Das Mutterhaus, nach dem sie sehnend schreien, Wenn sie verschlagen sind auf fremden Strand. Doch manchmal werden sie zum Gängelband, Sogar zur Kette um den Hals der Freien; Dann treiben Längstenvachsne Spielereien, Genarrt von der Tyrannen schlauer Hand. Hier trenne sich der lang vereinte Strom! Versiegend schwinde der im alten Staube, Der andre breche sich ein neues Bette! Denn einen Pontifex nur faßt der Dom, Das ist die Freiheit, der polit'sche Glaube, Der löst und bindet jede Seelenkette! Im neuen Dom. Kirchen und Klöster, Burgen und alte Häuser haben immer eine große Anziehungskraft auf mich ausgeübt. Was läßt sich nicht alles träumen in dem kühlen Kreuzgang eines Domes, in dem dunkeln, weihrauchgeschwängerten Innern einer Klosterkirche, in den verfallenen Gängen und Gewölben einer Ritterburg auf ragendem Berggipfel. Wer das Glück hat, in früher Morgenstunde hallenden Schrittes durch die Straßen der alten Stadt Nürnberg zu schreiten, der würde sich sicherlich nicht wundern, wenn eine der eichenen, ge­schnitzten Türen sich öffnete und ein züchtig Jungfräulein mit Puffärmeln und Schaube, das Gebetbuch in der Hand� herausträte, um zur Frühmette in St. Sebaldus zu gehen. Ja, es geht ein eigener Hauch von diesen alten Mauern aus. Sie erzählen von Glück und Liebe, von Reichtum, Macht und Stolz, aber mehr noch von roher Gewalt, von Aberglauben und finsterem Eifer, von Folter, Rad und Scheiterhaufen. Und wenn wir uns auch schaudernd abivenden von einer Zeit, die das heilige Eigentum erbarmungslos mit dem Galgen schützte und den Henker zum bestbeschäftigten Ge­werbetreibenden machte, so kann auch kein ungetrübtes Ge­fühl in uns aufkommen, daß wir es etwa jetzlso herrlich weit gebracht hätten". An die Stelle des schwarzen Todes zum Beispiel, der ohne Unterschied des Standes im Mittelalter seine fürchterliche Ernte hielt und Städte und Länder entvölkerte, ist die Schwind­sucht getreten, diese wohlerzogene Krankheit, die ihre Opfer hauptsächlich in den Wohnungen der Arbeiter sucht. Man schlägt heute nur noch Mördern den Kopf ab, das Rädern, Zerreißen, Verstümmeln, Zerquetschen und Sieden hat man für diefreien" Arbeiter und Arbeiterinnen in den Fabriken, Berg­werken, Steinbrüchen und Eisenbahnbetrieben vorbehalten. Die Freudenhäuser und Ladestuben mit hoher behördlicher Erlaubnis sind ausgehoben. Es ist billiger und moralischer, alljährlich Zehntausende beweinenswerter GeschöpfeGottes " im Kote der Straße untergehen zu lassen, oder wenn sie Glück haben, ihnen ein unseliges, frühes Ende in Zucht Häusern, Arbeitshäusern und Spitälern zu bereiten. Ja, wir haben esbis an die Sterne" weit gebracht, und es ist nicht mehr wie richtig, daß man dem Gotte, der all dies in seiner unerforschlichen Weisheit duldet, daß man dem Gotte zu seinen sonstigen Ehrentempeln auch noch einen Dom in Berlin erbaute. Ein protestantischer Dom nur, nicht erbaut aus den Spenden frommer Seelen und aus den Erträgnissen des Ablaßhandels, wie die Kirche zu Sankt Peter in Rom , dessen Nachäffung er sein soll, sondern aus den Mitteln des preußi­schen Staates. Seinen Tetzel freilich hat auch dieses Gotteshaus gehabt, nur daß er nicht Mönch, sondern Oberhof , neister war, nicht Tetzel, sondern Freiherr von Mirbach hieß. Daß sich kein Luther fand, der die Schnorrerei brandmarkte, daß die Nach­folger dieses teuren Gottesmannes und Fürstenknechtes viel­mehr stolz sind, das reine Evangelium in diesem Räume zu lehren, ist nicht etwa ein Zeichen kirchlichen Niederganges, sondern ein Beweis, ein glänzender Beweis von der konse­quenten Fortentwicklung der Grundsätze Martin Luthers nach oben. Wie männiglich bekannt, konnte er im Falle der Bigamie irgend eines Fürsten die Schrift rechts auslegen und links aus­legen, wenn nur dasgrobe Volk" nichts davon erführe. Daß die teure evangelische Kirche bei diesem Fluge nach oben in den Tiefen des Volkes allen Boden verlor, geniert die Herren in Talar und Bäffchen nicht. Das Gehalt ist sicher, das genügt. ltber das Außere und Innere des Domes sind Ströme von Tinte und Druckerschwärze geflossen. Er ist in allen Teilen kunstkritisch zerlegt worden, geschmäht und von un­entwegten Byzantinern sogar gelobt, wenn auch mit gehor­samsten Einschränkungen. Weilalle gute Gabe von oben herab kommt", ist es für diese Sorte Knnftenthusiasten aus­gemacht, daß alles, was von oben kommt, auch gut ist. Aber bei der künstlerischen Kritik kann ich nicht mitreden. Ob die Kuppel verhältnismäßig zu groß, der Eingang zu gewaltig und doch nichtssagend ist. ob der Bau die Um­gebung erdrückt in seiner wuchtigen Masse und die Harmonie des Platzes stört, oder ob er nach der Vorder- oder Hinter­front geschmackloser ist, darüber mögen die Ästhetiker weiter streiten. Es gibt schlimmere Sachen in Berlin ! Mich inter­essiert nur, ob der Dom seinen Zweck als evangelische, als lutherische Kirche erfüllt. Um die Antwort vorwegzunehmen: Bettachtet man den Dom als Stätte religiöser Erbauung, so ist die Sache gründ- Nikolai. Von Gottfried Keller . Unabsehbar auf der Steppe lieget nah und lieget ferne Ohne Ton die Himmelsglocke, sonder Farbe, sonder Sterne. Unaufhörlich Schneegestöber niederweht auf Dorn und Steine, Deckend in den Wagengleisen bleiche polnische Gebeine. Horch, was sauset im Galoppe wie ein Geisterzug vorüber? Langgestteckt schwirrt an der Erde eine wilde Jagd hinüber. Mäntel flattern, Reiter flogen, bärt'ge Reiter windgettagen, Rings umschwebt von ihren Lanzen ohne Räder glitt ein Wagen. Leise zittert noch die Heide; doch dann wird es stille wieder, Nur der Schnee in weißen Flocken fällt mit stummer Last hernieder. Und ein Rabe sitzt im Dorne, rauscht empor und krächzet heiser Durch die ausgestorbnen Lüfte: Russenkaiser! Russenkaiser! Wieder hallt es in den Höhen, und die grauen Lüfte sprechen, Wie mich dünkt, mit kaltem Hauche: Wie ein Rohr wird er zerbrechen! lich vorbeigelungen. Bewertet man ihn dagegen als Ausdruck von der Stellung und dem Wesen der heutigen evangelischen Kirche, so darf man wohl sagen, daß er glänzend gelungen ist. Mehr noch im Innern wie nach außen! Diese von Gott und. Volk verlassene Kirche, die zum Tummelplatz äußerlichen Wortchristentums geworden ist, diese Kirche, deren Repräsen­tanten sich als reine, unverfälschte Büttel der herrschenden Klassen und ihrer Regierung betrachten, dem Landesherrn als obersten Bischof Untertan sind und auf jeden Wink von oben einschwenken wie die Unteroffiziere, vorausgesetzt, daß sie sich überhaupt je Diversionen erlauben, diese Kirche konnte nicht treffender charakterisiert werden als durch diesen Bau. Ein von Tageslicht durchfluteter Raum. Geräumige, splendid ausgestattete Bogen, buntfarbige Marmorsäulen, hellrot, dunkelrot, schwarz, mit vergoldeten Kapitälen, eine behagliche Wärme, elektrische Lichtkronen, eine geputzte Menschenmenge, die ihre Blicke neugierig oder gelangweilt herumgehen läßt. Nichts von jener feierlichen Stimmung, die alte Kathedralen aussttömen und die selbst den Un­gläubigen ergreist. Wir sind in keinem weihevollen Räume, der geeignet ist, nur einen Augenblick die Sinne von der Außenwelt abzulenken, unsere Gedanken zu sammeln und uns unsere Nichtigkeit fühlen zu lassen; nichts von dem. Es ist wie in einem Schauhaus, gebaut, die Augen zu ergötzen, und wenn uns ein Vergleich passend erscheint, so der mit dem Riesenfoyer eines Theaters. Nicht daß wir meinen, auch in den Kirchen der neuen Zeit müsse das mystische Dunkel herrschen und modrige, feuchte Luft. Soweit man heute solche Gebäude noch für nötig hält, mag man bei ihrer Erstellung neue Wege wandeln. Aber der Raum soll die Stimmung vorbereiten, sie beeinflussen, er soll den Besucher für das Wort empfänglich machen. Denn die Erbauung der frommen Gemeinde ist der Zweck des Baues; der Mittelpunkt soll die Predigt und der Prediger ein. Nicht ohne Grund warfen die lutherischen Zeloten allen bunten Kram und Tand, mit dem die Gläubigen in frommer Einfalt ihre Kirche schmückten, um bei den lieben Heiligen einen Stein im Brett zu habe», zum Tempel hinaus. Das Luthertum mußte zu dieserReinigung" schreiten, weil es nur in kahlen Räumen, wo der immer rege Menschengeist nichts finden konnte, an dein er haften blieb, die Aufmerksam keit für seine Herz und Gefühl erkällenden Darlegungen und Schriflklitterungen erzwingen konnte. In diesem Dome jedoch! Überall flirrende, flimmernde Pracht, die durch langweilige graue Flächen noch mehr zur Geltung kommt. Der Altar überladen, goldstrotzend, die Fensterbilder grellfarbig. Selbst die mächtige Orgel, die in alten Kirchen meist so angebracht ist, daß die Gemeinde ihr den Rücken zudreht, ist hier großmächtig an die Seite ge stellt, damit beim ersten Tone die Gemeinde zumAugen links" verleitet wird. Ihren eigentlichen Platz nimmt die Kaiserloge ein. Um das Unglück voll zu machen, ist die(provisorische) Kanzel von verblüffender Einfachheit, sie wirkt wie ein Küchen­stuhl in einem Feenpalast. Hier gleitet der Blick gelangweilt ab, unt anziehendere Bilder zu erfassen; der Geistliche er cheint uns wie ein Tier auf dürrer Heide, und ringsherum ist bunte Augenweide, die denn trotz allein interessanter ist, als die polemischen Ausführungen des Dompredigers gegen die Feinde der Kirche. Die Erbauung der Christenheit, der ich zum Teil bei wohnte, schloß recht sinnig mit geschäftlichen Mitteilungen, wie die Anpreisung von Domansichten a l Mark und Predigten ä 30 Pfennig. Der Herr Domprediger ging mit einer tiefen Verbeugung ab. Ein Blick nach rechts zeigte mir, warum. Der Diener des höchsten Herrn dienerte vor dem aller- öchsten Herrn, der mit Familie in seiner Loge dem Gottes­dienst beigewohnt hatte. Nach dem Vaterunser verlief sich die Menge der Neugierige», und wenn ich's nicht vorher ge­wußt hätte, so belehrte mich ein Blick auf die Unzahl von Schutzleuten und Polizcioffizieren, mit welchen illustren Per- önen ich zwanzig Minuten unter der Kuppel des Domes geweilt hatte. Mir dünkte es freilich Gotteslästerung und Majestätsbeleidigung zugleich, daß man den Stifter des Domes mit einer Wolke von Polizisten schirmen zu müssen glaubte, nachdem er soeben den Tempel desallmächtigen Gottes" verlassen hatte, ohne dessen Willen kein Sperling vom Dache fallen soll. VV. U. Die beiden Brüder. Von Iwan Turgenjeff. Ich hatte eine Vision. Mir erschienen zwei Engel... zwei Genien. Ich sage Engel und Genien, weil beider Körper voll­kommen nackt und unbekleidet waren und jeder von ihnen mit zwei mächtigen, langen Flügeln beschwingt war. Beide waren Jünglinge. Der eine hatte ein wenig üppige Glieder, eine weiche Haut und schwarze Locken. Feurig rollten seine braunen Augen unter den dichten Wimpern; sein Blick war einschmeichelnd, heiter, begehrlich. Anmutig und bezaubernd war sein Antlitz bald kühn-verwegen, bald ein wenig boshaft. Leise zuckten die weichen Purpur­lippen. Der Jüngling lächelt, wie ein Machthaber selbst­vertrauend zugleich und träg. Ein üppig schöner Blumen­kranz ist leicht in seine glänzenden Locken gedrückt und be­rührt fast die herrlichen Samtbrauen. Ein buntes, von einem goldenen Pfeile zusammengehaltenes Pardelfell fällt von der rundlichen Schulter leicht auf die gewölbte Hüfte herab. Rosenfarbig schillert das Gesieder der Flügel; ihre Enden sind hellrot, als ob sie in purpurfarbenes frisches Blut getaucht wären. Von Zeit zu Zeit erzittern sie hastig, mit silberartigem Rauschen dem Rauschen eines Frühlings­regens. Der andere Jüngling ist hager und von gelblicher Haut­farbe. Bei jedem Atemzug werden seine Rippen sichtbar. Sein Haar ist blond, dünn und schlicht; ungewöhnlich große, runde, blaßgraue Augen... Der Blick unruhig, von selt­samem Glänze. Alle Gesichtszüge zugespitzt; der kleine, halboffene Mund von Fischzähnen besetzt; eine.zusammen­gekniffene Adlernase, ein vorspringendes, mit weißlichem Flaum bedecktes Kinn. Diese dünnen Lippen haben noch niemals nicht ein einziges Mal! gelächelt. Welch ein abschreckendes, regelmäßiges, mitleidsloses Ge­sicht!(Auch jenes anderen, schönen Jünglings Antlitz ist übrigens, obgleich lieblich und anmutvoll, doch jeden Aus­drucks von Mitleid bar.) Rund um dieses strenge Haupt schlingen sich einige taube, zerknitterte Ähren, die von einem verwelkten Hälmchen zusammengehalten werden. Ein grobes graues Gewand umgibt seine Lenden; seine dunkel­blauen, glanzlosen Schwingen bewegen sich langsam und drohend. Die beiden Jünglinge schienen unzerttennliche Gefährten zu sein. Sie lehnten sich einer auf die Schulter des anderen. Die kleine weiche Hand des einen hing wie eine Weintraube an dem dürren Schulterbein des anderen herab; die schmale Hand des anderen zog sich mit ihren dünnen, langen Fingern gleich einer Schlange über die weiblichzarte Brust des ersteren. Und ich vernahm eine Stimme, die also sprach: Vor dir stehen Liebe und Hunger zwei leibliche Brüder, die beiden Grundpfeiler alles Lebens. Alles, was lebt, bewegt sich, um sich zu nähren, und nährt sich, um sich fortzupflanzen. Liebe und Hunger sie haben beide ein Ziel: zu ver­hindern, daß das Leben nicht aufhöre das des einzelnen sowohl wie das fremde, daS der Gesamtheit." Wir sind die Saat. Von Otto Erich Sartleben.» Da stehen sie im schmutzigen, zerrißnen Rock. Der Kot der Gasse klebt an ihrem plnmpen Fuß. Da stehen sie und starren blöden Augs dich an und bergen beide Fäuste in den Taschen tief. Du gabst die Stimme jenem Mann, den sie erwählt, der ihrem Elend laute Worte leihen soll, und ihrer Sache gabst du wohl weit Größres schon. Nun trittst du aus dem Haus. Sie füllen rottenweis vor dir die Straße. Schweigend schauen sie auf dich init diesem slummgebornen Haß im trägen Blick. Dem Tiger auf der Lauer funkelt das Auge doch, es geht ein Gluthauch vor des Löwen Rachen her, doch dieses Volk, es lastet, stumm wie der Felsenhang ob deinem Haupt und plötzlich löst es sich und fällt. Nicht was du willst, noch was du immer sinnst und denkst nein: was du bist, und daß du also worden bist, das ist die Sünde, unter deren Fluch du stehst. Du bist das Opfer, und mit dir dein ganz Geschlecht. Furchtbares Schicksal: ohne Recht geboren sein im Heule noch im Morgen! Ein verivelkter Wald, der nie gegrünt! Ein Kind, im Mutterleibe siech! Wir sind die Opfer fremder, langgehäuster Schuld... Wir sind die Opfer einer fernen schöneren Zeit! Wir sind die Saat!-- O mögen goldene Ähren einst wogend verhüllen dunkeler Erde vergessenen Grund! Mögen der rote Mohn und der Cyanen Blau als Edelsteine leuchten aus dem Goldgeschmeid! Dann flattern die Falter freudig in der Sonne Strahl, und Bienen summen honigtriefend überall! * AusMeine Verse". Berlin 1902, S. Fischer, Verlag. BeranlworUich sur die Redaktion: Fr. Klara Zetkin i gundcli, Wilhelmshoh» Post Degerloch bei Stuttgart . Druck und Verlag von Paul Singer in Stuttgart .