Nr. 9

Die Gleichheit

exonererer Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen

Die Gleichheit erscheint alle vierzehn Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Post vierteljährlich ohne Bestellgeld 55 Pfennig; unter Kreuzband 85 Pfennig. Jahres- Abonnement 2,60 Mart.

Inhalts- Verzeichnis.

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Stuttgart den 2. Mai 1906

Wertes, der ein Überwert ist im Gegensatz zum Werte Eine Maitagspredigt. Von Prof. Dr. Arnold Dodel. Der Arbeit der Maschine. So sagt es der Geist der Menschlichkeit, Maientag. Von Luise Zieß. Für das Frauenstimmrecht. Von der in jedem Menschen, ob Mann ob Weib, Bruder um Paul Singer. Acht Stunden! Von Ottilie Baader . Wir Bruder, Schwester um Schwester, nicht Maschinen, nicht verlangen Rechenschaft. Von Gustav Hoch . Fort mit dem Sklaven, nicht Lafttiere erkennt. Militarismus. Von W. Kähler. M. A. Spiridonowa.. Die Die Maschine wird getrieben von der nimmer er­Maiforderungen der Dienstboten. Von Helene Grünberg. müdenden Kraft der Natur, und sie schafft hundertmal Der Kampf um die Rente. Von E. G.( Forts.) Politische soviel, als eines Menschen Hand zu schaffen vermag; Feuilleton: Not. Bon Klara Müttler.( Gedicht.) Maifriede. Bon sei kein Tor und ſei nicht Sklave deiner eigenen und

Rundschau. Von G. L.

Otto Krille.

Shelley .

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Gewerkschaftliche Rundschau.

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Aus Der entfesselte Prometheus". Von P. B.

Eine Maitagspredigt.

Die eigentliche Menschwerdung hat erst damals ihren Anfang genommen, als unsere Vorfahren begannen, die Gesetze des Naturgeschehens zu erkennen und die unge­fesselten Kräfte des Naturlebens in den Dienst der werden­den Menschen zu ziehen. Erst mit dem Beginn der Herr schaft über die Natur fing unser Geschlecht an, aus der tierischen Gattung zur menschlichen Art sich heraus­zuentwickeln. Den folgenreichsten Anfang hierzu bedeutet die Herstellung von Werkzeugen und Waffen, sodann die Handhabung des Feuers, das vom Himmel kam und schließlich alle Götter gestürzt hat.

Der zerstörende Blizstrahl, die Waffe des Zeus, ist gebändigt worden. Die Kraft des fallenden Wassers ist an die Stelle mühselig schaffender Menschenkraft getreten. Feuer und Wasser zusammen haben den Dampf gezeugt, und des Menschen erkennendes Wesen ist zum beherrschen­den Dämon der ganzen Natur geworden, so zwar, daß füglich das ganze Menschengeschlecht hätte aufjauchzen dürfen, und die ganze Zukunft zu einem einzigen Feiertag hätte geschaffen werden fönnen.

Daß dem nicht so geworden ist, daran sind nicht so­genannte überirdische Mächte, daran ist auch nicht die Natur selbst schuld, sondern die herrschende soziale Ord­nung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Anstatt der Freiheit ward dem schaffenden Menschen das Gegenteil: die Knechtschaft.

Je mehr er Maschinen schuf, desto unfreier ward der arbeitende Mensch. Je mehr die Wissenschaft und die Technik über die unerschöpflichen Naturkräfte den Sieg weiter und weiter hinaustrugen, desto mehr ward der schaffende Mensch selbst zum Sklaven.

Der Mensch sprach zum Bliz: Tritt unter meine Herr­schaft, treibe die Maschinen, trage mein Wort und meinen Willen über die Ozeane und sei mein stummer Sflave! Es geschah also. Der Mensch sprach zum tosenden Wasser­fall: Deine Kraft trete in meine Dienste und durchbohre die granitenen Berge, auf daß fürderhin kein Hindernis mehr sei zwischen Ländern, welche durch die Gletscherberge von einander getrennt sind! Und das tosende Wasser begab sich unter den Willen des Menschen.

Der Mensch sehnte sich nach Freiheit. Und indem er bezwang, wurde er selbst erst recht ein Unfreier.

Nun aber soll des Wahnsinns ein Ende werden! Arbeite und freue dich! So will es die Ordnung in der Natur, so will es der Wille der Gerechtigkeit.

Arbeite wie ein Mensch, nicht wie eine Maschine! Sei Mensch! sei nicht Maschine!

Sei nicht Zahnrad, sei nicht Transmissionsriemen, sei nicht Kurbel bloß und nicht bloß Kolben! Derlei zu sein, überlasse dem Eisen, dem Stahl, dem Leder, die sich biegen und steifen ganz nach deinem Willen.

anderer Torheit!

Die Erde zeuget in Überfluß vom Aufgang bis zum Niedergang. Es fann fein einziger Mensch fürderhin im Hunger verderben, wenn der schaffende Mensch, mit rechtem Willen wollend, in Weisheit seines Amtes waltet. Die Erde hat für alle, alle Raum zur Daseinsfreude, so sie alle nur wollen.

L

M. A. Spiridonowa.

Sei fein Tor! Sei keine gedankenlose Maschine! Der Geist der Weisheit sagt: Sei Mensch! Nimm dir Beit, es zu sein. Nimm dir Zeit, es zu bedenken und in Gedanken selig zu sein.

Nimm dir Zeit zum Denken und zum Genießen: das eine Dritteil!

Nimm dir Zeit zum erfrischenden Schlummer: das andere Dritteil! Nimm dir Zeit zur segnenden Arbeit- ein mäßig Stück: das dritte Dritteil.

Gesegnet seien die acht Stunden; denn diese sind just Diese aber ist Verderbnis! Ihr sollt nicht ferner zum genug. Ein Mehreres ist überfluß und zeuget üppigkeit. Verderbnis freiwillig unter dem Joche keuchen.

Zum rechten Vollbringen gehört das rechte Wollen. Nimm dir Zeit zum rechten Willen, und du wirst lange leben hienieden leben im Lande, das deinen Kindern gehören wird! Für deine Kinder mußt du den rechten Willen wollen, mehr noch als für dich selbst! Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will!"

Siehe, die Nacht des Mittelalters ist zu Ende. Der Hahn hat gekrähet zum frühen Morgen! Und es kommt die neue Zeit mit ihrer Gerechtigkeit.

Wenn du elend warst im übermaß der Arbeit und Gesegnet seist du, wenn du aufwacheft zur rechten der Darbnis, so sollst du von nun ab selig sein im Maße Zeit an diesem Maienmorgen! Jener Tag will herauf­der vernünftigen Dinge! Du sollst nicht Mangel haben kommen, da es feinen Unterdrückten mehr geben wird -in feinerlei Ding, welches dein Leben zu einem menschen- und auch keinen Unterdrücker, da alle frei sein werden, würdigen macht. Du sollst nicht Sklave sein der Ma- auch jene, die bislang Unfreie und Sklaven gewesen sind schine, sondern die Maschine soll Stlave sein deines ihrer Herrschsucht und Eigengier. Willens! Du sollst nicht knechtselig sein im Auslugen Ein Mai ist es, aus dessen erster Stunde am ersten nach Arbeit! Du sollst nicht um Arbeit betteln müssen, Tage das neue Evangelium geboren ward, ein Evange: sondern man soll sie dir geben als einen Pflichtteil, so lium wirklicher Erlösung, das Evangelium der Mensch zwar, daß der Gebende zum Beschenkten und der Be- werdung im Walten der Weisheit über den Mächten der schenkte zum Geber wird!

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Du sollst glückselig sein hienieden in dieser Zeit sollst du dir dein Himmelreich schaffen im Erkennen deines

Natur.

Heil diesem Maientag!

16. Jahrgang

Zuschriften an die Redaktion der Gleichheit" sind zu richten an Frau Klara Zetkin ( 3undel), Wilhelmshöhe, Post Degerloch bei Stuttgart . Die Expedition befindet sich in Stuttgart , Furtbach- Straße 12.

Der Arbeit Maientag.

Truziglich, nicht achtend des Tobens der Reaktion, noch des Dräuens des progigen Unternehmertums, rüstet allerorts das Proletariat zur Maifeier, der Heerschau der revolutio­nären, fämpfenden Ausgebeuteten und Geknechteten aller Länder.

jedes Jahr den Klassenkampfcharakter der Maifeier flar Hatte bisher das Walten der reaktionären Mächte noch umrissen in Erscheinung treten lassen, so heuer mehr benn je. jedes Jahr den Klassenkampfcharakter der Maifeier flar Ein Blick auf die politische und wirtschaftliche Situation bestätigt das.

Gezwungen durch das Wesen der kapitalistischen Pro­duktionsweise kann das flaffenbewußte Proletariat sich nicht begnügen mit der Beseitigung von Auswüchsen" des Rapi­talismus, sondern es muß die Beseitigung des Kapitalismus selbst durch den Sozialismus anstreben. Doch nicht ver­tommene, verelendete, zum Pauperismus und zur Degene­ration verdammte Arbeitermassen können dies Ziel verwirk­lichen. Zur Erfüllung seiner hohen historischen Aufgabe bedarf das kämpfende Proletariat kraftvoller, kampfesmutiger und zielsicherer Scharen. Von dieser überzeugung durch­drungen, kündet es am 1. Mai den Herrschenden nachdrück­lichst seinen Willen: durch die Einkassierung von Gegen­wartsforderungen sich nicht nur eine hellere Gegenwart zu schaffen, sondern gleichzeitig seine Rampffähigkeit zu steigern, um der Freiheit eine Gasse bahnen zu können.

Wird die Berechtigung seiner Reformforderungen nicht ein­dringlich unterstüßt durch die ungeheuren Opfer, die dem Kapi­talismus fallen? Da sind die 9000 Unfälle mit tödlichem Aus­gang im letzten Jahre, das Grubenunglück auf der Borussia und die Hekatomben von Menschenopfern jenseits der deutschen Grenzpfähle in Courrières , zu schweigen von den Hundert­tausenden, die dahinstechen infolge von Berufsleiden, von Überarbeit und Unterernährung. Doch unbekümmert darum, weigert die herrschende Gesellschaft den Lohnsklaven die kleinsten Konzessionen in punkto Verbesserung ihrer Lage. Nicht genug, daß in den letzten Jahren der Karren der Sozialgesetzgebung fast vollständig festgefahren ist, müssen die Ausgebeuteten überall dort, wo sie dem Unternehmertum direkt ihre Forderungen unterbreiten, schwer um deren Er­füllung kämpfen. Siehe die Kämpfe der Textilarbeiter der verschiedenen Orte, der Braunkohlenarbeiter Mitteldeutsch­lands, der Metallarbeiter und andere mehr. Mit größerer Brutalität als je sind die Kapitalisten am Werke, um das im wirtschaftlichen Kampf stehende Proletariat niederzuzwingen. Ihre eigene wirtschaftliche Übermacht, alle organisierten Machtmittel des heutigen Klassenstaates werden ihrerseits mobil gemacht. Und das zu derselben Zeit, wo die scham­los räuberische Wirtschaftspolitik den Armsten an Brot und Verdienst Hunderte von Millionen nimmt, um sie den Junkern und Industriekönigen in die übervollen Geldschränke zu legen! Das zu derselben Zeit, wo Regierung und bürgerliche Par­teien auf der Suche nach neuen Steuern sind und sich an­schicken, durch den Ausbau des Marinismus uns noch weiter zu treiben in den Malstrom der Weltpolitik des krachenden Kapitalismus ! Diese Weltpolitik ist es, die uns die Blamage von Algeciras , die Schmach und Greuel in, unseren" Rolonien gebracht hat, die uns schier unerträgliche Lasten aufbürdet staates stellt kühn das Proletariat seine Maiforderungen und die Kriegsgefahr in Permanenz erhält. Den reaktionären Mächten des kapitalistischen Klassen­entgegen. Sie erschöpfen sich nicht in dem Rufe: Her mit dem Arbeiterschuh, dem Achtstundentag! Angesichts der gekennzeichneten Situation muß ihnen die Losung hinzu­gefügt werden: Her mit allen Rechten und Freiheiten, die das Proletariat schlagfertiger und kampffräftiger machen gegen den Kapitalismus und seinen Zwillingsbruder, den Militarismus! Zu diesen Rechten und Freiheiten gehört neben dem unbeschränkten Koalitionsrecht, dem freien Vereins­und Versammlungsrecht vor allem das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht für alle Staatsbürger. Nicht nur zum Reichstag, sondern auch zu den Einzel­Landtagen und den Kommunalverwaltungen!

Unsere diesjährige Maifeier muß zu einem machtvollen Borstoß zur Erringung dieses Rechtes werden. Der immer dringenderen Forderung der Arbeiterschaft nach Aushändigung des ihm so lange vorenthaltenen politischen Gutes haben Regierung und bürgerliche Parteien bisher ein entschiedenes Mein" entgegengesetzt. Ja mehr noch, im preußischen Herren­Grundſay verkündet, daß gegen die stolz ihr Recht Fordernden haus ward durch den Mund des geschniegelten Kanzlers der die bestehenden Gesetze mit aller Rücksichtslosigkeit und Schärfe ihre Anwendung finden sollen". Die hohen Strafen gegen eine Anzahl unserer Redakteure, wie gegen Wahlrechts­demonstranten, die vielen noch schwebenden Anklagen be­Prof. Dr. Arnold Dodel. weisen, daß dieser Wink verstanden ward. Bedauern wir