78 Die Gleichheit Nr. 9 oersetzen. Spannt deshalb auch ihr eure Energie aufs äußerste an, um moralisch und materiell eure kämpfenden Brüder und Schwestern innerhalb der schwarzweißen Grenzpfähle wirksam zu unterstützen. Die Maiseier muß überall im ganzen Reich, muß aber insbesondere in Preußen ein imposanter Aufmarsch der Entrechteten zum Wahlrechtskampf werden. Bei diesem Aufmarsch und den Schlachten, die er einleitet, müssen die proletarischen Frauen in den vordersten Reihen stehen. Den Geknechteten eine Ermutigung und eine Mahnung, den reaktionären Gewalten eine Warnung und eine Kriegserklärung muß ihre Losung erklingen: Heraus mit dem vollen, gleichen Bürgerrecht für alle grostjahrige» Männer und grauen! Nieder mit dem Trciklassenparlament, mit der politischen Truhburg der Besitzenden! Borwärts in den Wahlkampf» in den Wahlrechtskampf! Genossinnen, tnt eure Pflicht, tut sie ganz, tut sie mit Freudigkeit und Stolz. Mit sozialdemokratischem Gruß Ottilie Baader Vertrauensperson der Genossinnen Deutschlands . Warum fordern wir den Achtstundentag? Wir fordern den Achtstundentag, weil er die Zeit kürzt, in welcher die Arbeiterin ihre Kräfte anspannen, ja über spannen muß bei einer Tätigkeit, welche recht oft nur durch harte Notwendigkeit ausgezwungene Brotfron ist, nicht eine aus Begabung und Neigung freigewählte, freudig getane Arbeit; bei einer Tätigkeit, welche sich meist in der eintönigen Wiederholung ein und derselben Handgriffe erschöpst, welche einseitig ein und die nämlichen Muskel- und Nerven- gruppon anstrengt, die Sinne stumpf, den Geist matt und schwunglos macht. Wir fordern den Achtstundentag, weil er für die Arbeiterin in Fabrik zmd Werkstatt, in Laden und Bureau oder bei der Heimarbeit die lange Spanne mindert, in der sie Einflüssen ausgesetzt ist, welche der Gesundheit verhängnisvoll werden, das Leben selbst bedrohen. Wir fordern den Achtstundentag, weil er die Arbeiterin vor Überanstrengung daheim schützt. Er gibt ihr Zeit und Kraft, als Gattin und Mutter ihre Pflichten zu erfüllen, als junges Mädchen sich auf die hohen und vielseitigen Aufgaben des Weibes in Familie und Gesellschaft vorzubereiten, ohne daß sie die Nacht zum Tag, den Sonntag zum Werktag verwandeln, ohne daß sie mit übermenschlicher Willensanstrengung das letzte Fünkchen Kraft aus sich herauspressen muß. Wir fordern den Achtstundentag, weil er somit für die Arbesterin in noch höherem Maße als für den Mann eine Ersparnis an dem einzigen Kapital bedeutet, über das sie uersügt: an ihrer Gesundheit, ihrer Lebenskraft. Tatsache ist, daß der Körper der Frau im allgemeinen gesundheitsschädlichen Einflüssen gegenüber weniger widerstandsfähig ist als der männliche Organismus. Tatsache ist ferner, daß die Frau in der Familie Pflichten zu erfüllen hat, von denen der Mann befreit ist. Wir fordern den Achtstundentag, weil er mit der Arbeiterin, die Mutter ist oder Mutter wird, das Kind schützt. Indem er ihre Gesundheit schirmt, vermindert er die Einflüsse, welche das ungeborene Kind mit Schwäche und Siechtum bedrohen, steigert und erhält er die Fähigkeil der Muller, einem kräftigen Nachwuchs das Leben zu schenken. Wir fordern den Achtstundentag, weil er die Arbeiterin in den Stand setzt, ihre Mutterpflichten in größerem Umfang und in besserer Weise erfüllen zu können. Er verleiht shr etliche Tagesstunden, in denen sie der Pflege, Beaufsichtigung und Erziehung ihrer Kinder zu leben vermag, in denen sie dieselben vor Unfällen, Krankheit oder Verwahrlosung schützt, in denen sie die Kräfte des Leibes und Geistes der Kleinen gedeihlich zu entfalten bemüht ist. Er mehrt die körperliche Kraft, damit die geistige Frische und sittliche Stärke, welche die Frau für die Erfüllung ihres Multer- berufs einsetzen kann. Wir fordern den Achtstundentag, weil er der Arbeiterin Zeit und Kraft schenkt, dem Manne mehr als eine zuverlässige, geschickte Hausvesorgerm zu sein. Er schafft ihr die Möglichkeit, am inneren Leben des Gatten teilzunehmen, sein Streben und Sehnen kennen zu lernen, seine Ideale zu verstehen, mit ihm zu empfinden, zu denken, zu wollen und zu kämpfen. Wir iordern den Achtstundentag, weil er der Arbeiterin nicht nur die Pflichterfüllung im Familienleben zurückgibt, sondern auch dessen Freuden. Er mehrt die Minuten, in denen sie sich an dem Geplauder und Spiel des kleinen Kindes ergötzen kann, in denen sie sich an dem aufblühenden seelischen Leben des größeren Knaben, des heranwachsenden Mädckens erfreut, in denen sie sich mit den Ihren zusammen am Schönen zu erquicken, am Wahren zu stärken, am Guten und Großen zu erheben vermag. Wir fordern den Achtstundentag, weil er materielle Vorbedingungen dafür zeitigt, daß die Arbeiterin Sinne, Geist. Gemüt bildet, die Gaben entfaltet, welche die Natur in ihre Brust gelegt, die brennende Sehnsucht nach einem Empor des Seins und Lebens stillt, die in ihrer Seele lodert. Ter Achtstundentag führt die Arbeiterin in die Natur und schenkt ihr Vogelgezwitscher und Blumenduft, Sonnenschein und Waldesrauschen. Er tritt in ihr Stübchen und bringt ihr die herrlichsten Gedichte, daß es ihr Hirn kühn durchblitzt, ihr Herz in heißer Glut durchströmt, daß ihre Brust sich in stolzer Hoffnung hebt. Er führt sie in die Museen und lehrt sie verstehen, was Formen und Farben, was schimmernde Marmorleiber sagen. Er erschließt ihr in der Musik eine Welt von Empfindungen, Träumereien und Gedanken. Er führt sie zu den lebendigen Springquellen der Wissenschaft und läßt hier die bildungsdurstige Seele sich laben. Wir fordern den Achtstundentag, weil er der Arbeiterin gröbere Regelmäßigkeit und Stetigkeit des Erwerbs bringt, denn er vermag den Gegensatz zwischen Flaue und Ilber- zeitarbeit zu mildern. Je weniger schrankenlos der Unternehmer über seine Arbeitskräfte verfügen kann, je kürzer ie Zeit ist, in welcher sie ihm täglich fronden müssen, um so weniger ist es ihm möglich, die Produktion zwischen Hochsaison und toter Zeit hin und her pendeln zu lassen, in kurzer Spanne bei ausgedehntester Arbeitszeit herzustellen, was er auf den Markt bringen will, um dann lange Monate die Arbeitenden ganz oder teilweise brotlos auf die Straße zu setzen. Wir fordern den Achtstundentag, weil er zu einer Erhöhung des Lohnes der Arbeiterin beiträgt. Die Wissenschaft lehrt und die Erfahrung bestätigt, daß lange Arbeitszeit und niedriger Lohn Hand in Hand gehen, daß kurze Arbeitszeit von guter Bezahlung begleitet ist. Wir fordern den Achtstundentag, weil er unerläßliche Voraussetzungen dafür schafft, daß die großen Arbciterinnen- massen sich den Gewerkschaften anschließen und zu pflichttreuen, erkenntnisklaren Gewertschaftlerinnen erzogen werden. Der Achtstundentag gibt der Arbeiterin jenes Mehr an Muße, an körperlicher und geistiger Spannkrast, an Willensenergie, das ihr zu Gebote stehen muß, wenn sie sich in Gemeinschaft mit ihren Arbeitsbrüdern aufklären, wenn ihrem Geist das Verständnis für den Organisationsgedanken und seine Segnungen erschloffen werden, wenn sie für ihn wirken soll. Wir fordern den Achtstundentag, weil er durch Einbeziehung der Arbeiterinnen in die Gewerkschaften den wirtschaftlichen Klaffenkampf des Proletariats gegen das ausbeutende Kapital fördert und damit auch der Arbeiterin selbst zu höherem Lohn und günstigeren Arbeitsbedingungen verhilft. Wir fordern den Achtstundentag, weil er der Arbeiterin ermöglicht, sich über ihre eigenen persönlichen und Klasseninteressen aufzuklären, sich über das Wesen der heutigen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung und die treibenden Kräfte der geschichtlichen Entwicklung zu belehren, die Ursachen des proletarischen Elends und die Bedingungen der Befreiung des Proletariats kennen zu lernen. Der Achtstundentag läßt die Arbeiterin zum Bewußtsein ihrer Rechtlosigkeit als Frau, ihrer Ausbeutung und Verknechtung als Proletarierin erwachen und treibt sie in den Kampf für ihre soziale Gleichberechtigung, ihre Befreiung in der einen und anderen Beziehung. Wir fordern den Achtstundentag, weil er in der Folge dem politischen Klassenkampf des Proletariats die proletarischen Frauenmassen als zielbewußte Streiterinnen zuführt. Er stärkt die einzige gesellschaftliche Macht, welche der kapitalistischen Gesellschaft die erforderlichen Reformen zu Nutz und Frommen der Ausgebeuteten abtrotzt, welche die kapitalistische Gesellschaft stürzt und die sozialistische Ordnung aufrichtet, die alle Ketten bricht. Wir fordern den Achtstundentag für alle erwachsenen Arbeiter, weil auch der Mann in seiner Gesundheit und Lebenskraft gegen den Wehrwolfsheißhunger des Kapitals nach Profit geschützt werden muß; weil auch der Mann in all seinen Lebensbeziehungen durch die ungezügelte kapitalistische Ausbeutung auf das schwerste geschädigt, durch die Segnungen verkürzter Arbeitszeit aber gefördert wird. Wir fordern den Achtstundentag, weil er den Ausstieg des Proletariats zu höherer Kultur und größerer Freiheit begünstigt, und weil nur ein wirtschaftlich gehobenes, körperlich, geistig und sittlich krafwolles Proletariat die kapitalistische Herrschaft zu brechen, die Gesellschaft der Freiheit, Gleichhett. Brüderlichkeit zu zimmern imstande ist. Wir fordern den Achtstundentag, weil er die Anerkennung der Talsache ist, daß die Arbeiterinnen und Arbeiter lebendige Menschen sind und nicht bloße Rädchen des Wirtschaftsbetriebs; daß die Ware Arbeitskrast, die sie dem Kapitalisten verkaufen müssen, mehr ist als der übrige„Waren- pöbel", den dieser sonst erschachert und verschachert. Der Achtstundentag ist die Anerkennung der Tatsache, daß Menschenrecht über Goldesmacht gehen muß. Wir fordern den Achtstundentag, weil wir wissen, daß das„gute Herz" und die„geläuterte Vernunft" der Besitzenden und Herrschenden ihn nicht gewähren werden. Wir fordern ihn nachdrücklichst, weil wir überzeugt sind, daß ihn nicht die Güte und Unwiderleglichkeit der Gründe beschert, welche unsere Vertreter in den Parlamenten entwickeln. Der Achtstundentag wird uns zuteil werden als Frucht der steigenden Erkenntnis, der energischen Willensäußerung, der wachsenden Macht der proletarischen Massen außerhalb der Parlamente. Erst wenn die bürgerliche Gesellschaft vor dieser Macht zittert, wird sie die Gründe würdigen, welche die Forderung diklieren: Her mit dem Achtstundentag! Maifeier und Wahlrechtskampf. Neue mächtige Impulse erhält Heuer unsere Maifeier durch die Wahlrechtskämpfe in Preußen, Sachsen und anderen Bundesstaaten, sowie durch den preußischen Landtagswahlkampf. Schärfer umrissen denn je tritt in der gegebenen Lage der Klassenkampfcharakter der Maidemonstration in- die Erscheinung. Der Kampf für den Achtstundentag, diese fundamentale Forderung eines wirksamen Arbeiterschutzes, hat es dem Proletariat immer klarer zum Bewußtsein gebracht, daß es nur dank eigener Kraft, nur dank der wachsenden! Reife und Macht der Arbeiterbewegung die dringend wichtigen Reformen erringen wird, deren es bedarf, um für seinen Emanzipationskampf die erforderliche Energie und geistige Elastizität zu behalten. Heuer nun wird es ihnen aufs neue illustriert, daß sie- gleichfalls für die Eroberung von Staatsbürgerrechten, deren sie als Waffen im Befreiungskampfe benötigen, auf sich und! ihre eigene Kraft angewiesen sind. Die Blockpolitik in all ihren Einzelerscheinungen hat! diese Tatsache schärfer denn je erwiesen. Den vollständigen politischen Bankerott der Liberalen mögen wir verurteilen l oder bedauern, jedenfalls müssen wir mit ihm rechnen. Die Angriffe des gefürsteten Bernhard auf das Reichstagswahl - recht und der freudige Widerhall, den sie in der reaktionären Reichstagsmehrheit und der reaktionären Presse gefunden haben, zeigen die ganze Stärke preußisch-deutscher Reaktion in hellster Beleuchtung. Diese Vorkommnisse, des sind wir sicher, müssen vorzüglich zur Aufrüttelung der Massen, zur Erweckung und Vertiefung des Klassenbewußtseins beitragen. Bei einer gewissen Höhe der Klassenerkenntnis und des sozialistischen Denkens müssen uns eben „alle Dinge zum Besten dienen". Reformen stärken unsere Widerstandskraft, die Reaktion reizt unsere Kampfeslust, schürt die Empörung und erweist sich so als„revolutionär", denn sie löst die Kräfte aus zu ihrer eigenen Überwindung. Nicht umsonst hat gerade in der letzten Zeit der Wahlrechtskampf an Intensität, Umfang j und Tiefe zugenommen. Die immer unverhüllter und rück-! sichtsloser auftretende Reaktion wirkt aufpettschend und j oorwärtstreibend. Die Reaktion konnte diese Wirkung jedoch nur hervorbringen, weil die Erkenntnis und das in dieser> wurzelnde Klassenbewußtsein der Massen eine bestimmte! Höhe erreicht haben. Deshalb empfinden diese die Vorenthaltung der Staatsbürgerrechte nicht nur als Demütigung! und Erniedrigung des einzelnen, sondern auch als«in schweres Unrecht gegen die gesamte Klasse. Erklärlich genug: das Proletariat bildet heute den wichtigsten Faktor im nationalen Wirtschaftsleben, es ist der Träger der Produktion, und es ist sich dieser wichtigen Aufgabe auch bewußt. Aber mehr als das: das klassenbewußte Proletariat hat dank der sozialdemokratischen Schulung die! unserer heuttgen Wirtschaftsordnung innewohnenden trei-! bcnden Kräfte und Entwicklungsgesetze erkannt. Es weiß, daß diese Kräfte in der Richtung zum Sozialismus wirken, und daß die proletarischen Massen die bewußten Träger! dieser Entwicklung sind, daß sie also eine hohe historische Aufgabe zu erfüllen haben. � � Im Bewußtsein seiner wirtschaftlichen Unentbehrlichkeit wie auch seiner geschichtlichen Misston empfindet das Proletariat um so tiefer die Schmach seines politischen Heloten-! tums, sieht es mit um so größerer Erbitterung, daß ihm ein hochbedeutsames Staatsbürgerrecht vorenthalten wird. Auf dieses Recht hat es dank seiner ökonomischen Bedeutung nicht nur den wohlbegründetsten Anspruch, sondern es bedarf auck seiner für den Kampf um Gegenwartsforderungen, um ein Empor in wirtschaftlicher und sozialer Beziehung, es bedarf seiner als eines politischen Erziehungsmittels und eines Mittels zur Eroberung der politischen Macht und damit> zu seiner endgültigen Befreiung. Gewiß, das heldenmüttge Ringen der russischen Revo lutionäre hat den Idealismus und den Kampfesmut unserer- deutschen Wahlrechtskämpfer beeinflußt. Ebenso unbestritten. daß auch die glänzenden Errungenschaften unserer österreichischen Bruderpartei und die Demokratisierung des � Wahlrechts in den Bundesstaaten südlich des Mains den nördlich wohnenden Deutschen ihre polittsche Rechtlosigkeil! schärfer fühlbar gemacht haben. Allein alles zusammen hätte; nicht den tiefen, nachhaltigen, erbitternden Eindruck hervor-! rufen können, der zur höchsten Kraftentfaltung anspornt' hätten wir nicht ein klassenbewußtes Proletariat, welches sich seiner historischen Ausgabe als Totengräber des Kapitalismus und Geburtshelfer des Sozialismus bewußt wäre- Dieses Bewußtsein vermittelte den Massen die weitere Erkenntnis, daß für sie die Eroberung des allgemeinen. gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts für alle zwanzigjährigen Staatsbürger, ohnr Unterschied des Geschlechts eine Lebensfrage ist. Deshalb hat das Proletariat sein Ehrenwort verpfändet, seinen Kampf nicht früher zu beenden, als bis dieses Recht errungen ist. Dieser Erkenntnis und diesem Willen des Proletariats wird die heurige Maifeier wuchtigen Ausdruck geben. S't wird bekunden, daß es durchdrungen ist von der Wahrhe-i des Wortes im Kommunistischen Manifest: Die Befreiung der Arbeiterschaft aus den Banden des Kapitalismus inus das Werk der Arbeiterklasse selbst sein. Die jüngsten pol>' tischen Vorkommnisse haben dieses Wo« nicht nur bestätigt- sondern wir können es sogar dahin erweitern, daß heult die Eroberung wichtiger Staatsbürgerrechle gleichfalls da- Werk der Arbeiterklasse sein muß. Seiner geschichtliche" Erkenntnis getreu wird die deutsche Arbeiterklasse, Männet und Frauen, ihre Ehre darin sehen, die Maifeier in dieseut Jahr zu einer besonders imposanten zu gestalten. S't zählt damit ihre Kerntruppen und wirbt gleichzeitig neu' Kämpfer für den proletarischen Emanzipationskampf. Luise Zie?-
Ausgabe
19 (27.4.1908) 9
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