Nr.Z Die Gleichheit 37 lich eine Herzensroheit!) schmählich Schiffbruch gelitten hat. Die Zahl der bestrasten Jugendlichen ist von 36 000 im Jahre 1889 auf 51000 im Jahre 1905 gestiegen. In größerem Maße aber noch, nämlich von 5600 auf 8300. also um fast 60 Pro- zent. hat sich in diesem Zeitraum die Zahl der bereits vor- bestraften jugendlichen Verurteilten vermehrt. In Amerika  , wenigstens in einigen Teilen der Union  , hat man denn auch bereits erkannt, daß die europäische Art ver« sagt, die Übeltaten der Jugendlichen zu bekämpfen. Tort hat man zu dem System der Kindergerichte gegriffen. Diese haben mit unseren Gerichtshöfen kaum mehr als den Namen gemeinsam. In Wirklichkeit sind sie nichts als sozial geleitete Vormundschaftsämter, eine Behörde für aste rechtlichen Be­ziehungen der Jugend. Sie bestrafen Kindermißhandlungen und gesetzwidrige Ausbeutung kindlicher Arbeitskraft, und sie setzen die nötigen Maßregeln fest, mittels welcher widerrechtlich handelnd» Jugendliche erzogen werden sollen. Gewöhnlich be- stehen dic,e Maßregeln in liebevoller Belehrung der Kinder und Eltern. Unterstützt werden die Richter von einem ganzen Stabe vonFürsorgern', unter denen sich viele Frauen be- finden. Schlimmstenfalls kommen die Kinder, über deren Hand- lungen die Gerichte zu befinden haben, wohl auch in Besse- rungsanstalten, diese lassen sich jedoch mit den uuserigen nicht vergleichen. Statt Prügel, wie bei uns, bekommen die Zög- linge dort musikalische und belehrende Vorträge. Kinder ins Gefängnis zu stecken, betrachtet in den Vereinigten Staaten  auch die Bourgeoisie als Roheit. Natürlich deuten die Zahlen der verurteilten Jugendlichen auch auf mancherlei sittliche Gebrechen hin, die unter unserer heranwachsenden Bevölkerung auftreten. Aber auch die Ver- antwortung hierfür fällt so gut wie ausschließlich der herrschen« den Gesellschaftsordnung zu. Diese raubt den Kindern des Volkes die Erziehung durch das Elternhaus, indem sie oft beide Eltern zu überlanger Fronarbest in den Dienst der Profit- macherei zwingt. Hunderttausende von Proletarierkindern wachsen infolge der Fabrikarbeit der Mutter ohne Erziehung auf. Wichtigste Ursache der kindlichen Missetaten ist die wirt- schaftliche Not, die auch die Mehrzahl der erwachsenen Verbrecher auf die schiefe Ebene treibt. Fast zwei Drittel aller Verbrechen Jugendlicher sind Eigentumsvergehen, hauptsächlich Diebstahl. Besonders stark beteiligt sind die unehelichen Kinder, bei denen ja die wirtschaftliche Not und der dadurch verursachte Mangel an Erziehung am krassesten hervorzutreten pflegt. So sind zum Beispiel in den preußischen Strafanstalten die unehelich geborenen Personen um 30 Prozent, in den schweizerischen gar um fast 100 Prozent stärker vertreten, als es ihnen nach ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung zukäme. Auch betteffs der Waisen- linder läßt sich Ähnliches aus der Stattstik feststellen. Die Schulbildung der jugendlichen Sträflinge ist eine durchaus un- genügende, wie die Gefängnisstatistiken beweisen. Nur in der Religion werden die Kenntnisse durchweg(zum Beispiel in der schweizerischen Kriminalstatistik) als genügend angegeben. Auch ein Beweis, was von dem heuchlerischen Gerede zu halten ist, daß nur die Religion der angeblich herrschenden Verrohung Einhalt gebieten könne! In höchstem Maße entsittlichend müssen natürlich auf die Jugend die schlechten Wohnungsverhältnisse wirken, die wir heilte in Stadt und Land antreffen. Mit Recht sagt Professor v. Liszt  , wohl der einsichtigste bürgerliche Kriminalist:Eine gründliche Beseitigung der Mißstände, die heute fast überall, nicht nur in den Großstädten, mit dem Wohnungswesen der arbeitenden Klassen verbunden sind, wird sich ganz zweifellos als ein wirksameres Njittel zur Verminderung der Kriminalität erweisen, als eine ganze Anzahl von neuen Paragraphen im Strafgesetzbuch.' In höchstem Maße sittenverderbend wirkt des weiteren die ubermäßige Ausbeutung der jugendlichen Arbeitskraft. insoweit wirklich von einer Verrohung unserer Jugend ge- sprochen werden kann, kommt diese so gut wie ausschließlich das Konto unserer herrschenden Klassen. Und auf das schärfste muß das Proletariat dagegen protestieren, daß der allein schuldige Kapitalismus   nun auch noch die Kinder de'' Besitzlosen vor das Gericht und ist das Gefängnis schleppt und sie so vielleicht für immer ruiniert. Denn mir um die Kinder der Besitzlosen handelt es sich, da sich für die Kinder der Reichen erforderlichenfalls gar leicht ein Gutachter findet, der bekundet, daß diese die erforderlicheEinsicht' nicht gehabt haben. Eine der edelsten und wichtigsten Aufgaben unserer Genossen im Reichstag bei der bevorstehenden Reform des Strafgesetzbuchs muß es sein, für eine erhebliche Erhöhung der Strafmündigkeits- grenze, mindestens bis zum vollendeten 16. Lebensjahr, zu wirken. Für immer aber wird auf der Sündenliste des Kapitalismus die Schmach verzeichnet stehen, daß er Zehntausende von Kindern zu Verbrechern gemacht und in die Gesängnisse gesteckt hat. Dr. Siegsrieda. Verkausermnenelend. Unlängst ging durch die sozialdemokrattsche Presse eine Notiz über die elende Lage der Arbeiterinnen im Bäcker- und Konditorgewerbe. Der Beachtung nicht minder wert sind die Lohn- und Arbeitsverhältnisse der in den Bäckereien und Konditoreien tätigen Verkäuferinnen. Eine große Anzahl von Proletarierinnen, die meist von den Kämpfen und Zielen ihrer Klassengcnossinnen nichts wissen, sind in Berlin   in den genannten Geschäften zu den traurigsten Bedingungen beschäfttgt. Die Verkäuferinnen in den Läden und Filialen der Berliner  Großbetriebe des Bäckerei- und Konditoreigewerbes sind ver« hältnismäßig noch nicht so übel daran. Gewiß bedürfen auch ihre Arbeitsbedingungen wegen der Niedrigkeit der Entlohnung und der Länge der Arbeitszeit dringend einer gründlichen Besse- rung. Allein die Mädchen sind wenigstens der Ausbeutung und dem Zwang enthoben, die mit Wohnung und Beköstigung im Hause des Arbeitgebers verbunden sind, mich ist ihre Stellung, innerhalb gewisser Grenzen natürlich, persönlich frei. Trostlos aber ist die Lage der Mädchen, die in den kleinen Bäckereien Berlins   als Verkäuferinnen angestellt sind. Was uns in ihrem großen Elend entgegentritt, das ist der Todeskampf des dem Untergang geweihten Kleingewerbes. Die kleineren Betriebe suchen in der Bäckerei und Konditorei wie in atideren Gewerben durch die unerhörteste Ausnützung ihrer wenigen bezahlten Hilfskräfte sich über Wasser zu halten und der über- mächtigen Konkurrenz der großen Betriebe Trotz zu bieten. Es ist etwas Alltägliches, daß dieVerkäuferinnen' in den kleinen Bäckereien Berlins   schon in den frühesten Morgen- stunden das Frühstücksgebäck selbst austtagen müssen. Sie werden außerdem neben ihrer eigentlichen Berufstätigkeit zu allen möglichen Hausarbeiten, auch den gröbsten, verwendet, die sonst gewöhnlich Dienstboten übertragen sind. Es verbessert die Würde und Unabhängigkeit ihrer Stellung nicht, daß sie stets unter der persönlichen Aufsicht und Fuchtel ihrerHerr- schaff stehen. Die Mädchen erhalten für ihre Arbeit, die 13 bis 15 Stunden täglich dauert und nur zu oft den Namen der Lohnsklaverei verdient, einGehalt', das etwa 25 bis 30 Mk., ja manchmal nur 20 Mk. im Monat bettägt. In der ihrer Anstellung vorausgehenden Lehrzeit von einigen Monaten bleibt die Bezahlung natürlich noch weit hinter der angegebenen Summe zurück. Dazu gesellt sich das ganze Elend des Kost- und Logis- zwanges, dem die Verkäuferinnen in ihrer erdrückenden Mehr- heit unterworfen sind, ein Elend, welches deutlich die bekannte Tatsache bestätigt, daß diepatriarchalische' Form des alten handwerksmäßigen Verhältnisses zwischen Arbeitgebern und Ar- beitnehmern in unseren Tagen nur als Deckmantel für die schrankenloseste kapitalistische Ausbeutung dient. Alle die trau­rigen Bilder, die auf dem Hamburger Gewerkschaftskongreß vom Berichterstatter und den Diskussionsrednern zum Punkt Beseitigung des Kost- und Logiszwanges' entrollt wurden, wiederholen sich, wenn man die Lage der Verkäuferinnen betrachtet, die in den kleinen Berliner   Bäckereien tätig sind. DieKommission zur Beseitigung des Kost- und Logiszwanges beim Arbeitgeber' kann hier ein reiches Material und ein