Nr. 3
Die Gleichheit
mehr einfallen werde, Deutschland irgendwelche Pläne anzuver trauen, die ehrliche Berschwiegenheit erfordern.
Hat also die Veröffentlichung im Ausland einen Eindruck her vorgerufen, der äußerst ungünstig und schädlich für Deutschlands Stellung ist, so hat sie im Reiche selber geradezu niederschmetternd auf die weitesten Kreise der politisch„ Gutgesinnten" gewirkt. Von wenigen jämmerlichen Ausnahmen abgesehen, die bezeichnender weise meist freisinnige Marke tragen, führt die bürgerliche Presse gegen den Kaiser eine Sprache, die für deutsche Verhältnisse bisher unerhört war und unter anderen Umständen sozialdemokratischen Blättern Majestätsbeleidigungsanflagen über Anflagen eingebracht hätte. Bis in die Reihen der Konservativen geht der Entrüstungssturm, und ein so reaktionäres Blatt wie die„ Rheinisch- Westfälische Beitung", das Organ der Kohlen- und Eisenbarone des Westens, fordert eine Verfassungsänderung, damit die Wiederholung solcher Borkommnisse unmöglich gemacht werde. Besonders entsetzt sind bie nationalen Engländerfresser ob der Parteinahme Wilhelms II. gegen die Buren, ob der Lieferung des Feldzugsplans zu einer Beit, da Deutschland offiziell strengste Neutralität zu wahren hatte und in den sogenannten nationalen Kreisen die Englandsheze wilde Wogen schlug. Die deutsche Sozialdemokratie hat an dieser Sezze niemals teilgenommen, und in der Verurteilung der taisers lichen Beihilfe zum Niederwerfen der Buren wird sie hinter keiner Partei zurückstehen. Den Krieg gegen die Buren hat sie stets als einen folonialen Raubzug gebrandmarkt.
Aber ob man mit den Zielen der einzelnen kaiserlichen Handlungen einverstanden ist oder nicht, das ist nicht das Wesentlichste bei der Beurteilung des Vorfalls. Das Wesentlichste ist vielmehr bie Tatsache, daß diese Handlungen vom Monarchen vorgenommen worden sind, der staatsrechtlich unverantwortlich ist. Der verant wortliche Leiter der deutschen Politit, der allein vom Reichstag zur Rede gestellt werden tann, hatte keinen Einfluß auf sie. Ja mehr noch: diese Afte standen zum Teil in direktem Gegensatz zu der vom Reichskanzler vor der Welt vertretenen Politit. So zum Beispiel die Beihilfe zur Niederwerfung der Buren. Wesentlich ist bie Tatsache, daß die deutsche Politit vor aller Welt in heilloser Weise kompromittiert worden ist. Im Ausland muß der Wert deutscher Versprechungen und Versicherungen unter Null sinken, weil bie amtliche Politit jederzeit durch eine Handlung des Kaisers burchkreuzt werden kann, der zu impulsiven Attionen sehr geneigt ist. Deutschland ist ein unzuverlässiger Partner", folgerte mit Recht ein englisches Blatt.
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Alle Welt fragte natürlich ungeduldig, was der Reichskanzler angesichts der Veröffentlichung des Daily Telegraph " tun werde. Daß er nichts von ihr gewußt, daß er auch durch diese kaiserliche Handlung völlig überrascht worden sei wie durch so manche andere: das war die allgemeine überzeugung. Und ebenso allgemein war das Empfinden, daß er sie nicht nachträglich verantworten fönne, wenn er nicht des letzten Restes von Autorität verlustig gehen wolle. Man konnte schon deshalb an seine vorherige Zustimmung zu der Beröffentlichung oder seine nachträgliche Deckung derselben nicht glauben, weil man selbst einem Bülow zutrauen muß, daß er die schädlichen Wirkungen der Publikation voraussehen kann. Der so fortige Rücktritt vom Amte wäre der einzig mögliche Ausweg für einen Minister gewesen, der sich als mehr betrachtet, denn einen zu allem bereiten Diener des Monarchen. Bülow hat das auch empfunden, aber zu dem nötigen Schritt selbst hat er sich nicht aufzuschwingen vermocht. Er ist auf eine flägliche und plumpe Ausrede verfallen, die für Deutschland zum Schaden den beißen ben Spott fügen muß. Bülow übernimmt die Verantwortung und übernimmt sie doch wieder nicht! Das Odium, daß er die schädliche Handlung gebilligt habe, will er nicht auf sich nehmen, aber er will es auch nicht wahr haben, daß der Kaiser ohne Rücksprache mit dem verantwortlichen Leiter der Reichspolitik gehandelt habe. Und so läßt er denn halbamtlich eine unmögliche Geschichte er zählen. Das Manuskript der Veröffentlichung ist danach dem Reichskanzler vom Kaiser nach Norderney zur Prüfung gesandt worden, ob Bedenken gegen sie bestünden. Der Kanzler aber hat die kaiserliche Sendung nicht gelesen! Er hat sie einfach zur Prüfung an das Auswärtige Amt weitergegeben, dessen Ghef, der Staatssekretär v. Schön, in Urlaub war. Dort hat irgend ein untergeordneter Beamter die beabsichtigte Veröffentlichung unbe denklich gefunden. Bülow hat auf dessen Bericht hin ohne eigene Prüfung seine Zustimmung zu ihr erteilt. Jezt erklärt er, daß er das nicht getan, daß er Bedenken geltend gemacht haben würde, wenn er selbst den Artikel vorher gelesen hätte. Der Reichstanzler hat dem Kaiser nun seinen Rücktritt angeboten, der Kaiser aber hat ihn nicht angenommen. Bülow bleibt, hat jedoch zur Bedingung gemacht, daß er den Sachverhalt veröffentlichen dürfe,
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um die ungerechtfertigten Angriffe auf den Kaiser widerlegen zu fönnen.
So die unmögliche Geschichte, die den Kaiser von dem Vorwurf entlasten soll, daß er unter Umgebung des verantwortlichen Reichsfanzlers gehandelt habe, die aber auch gleichzeitig diesen von der moralischen Verantwortung für das angerichtete Malheur befreien will. Daß das Ausland der Geschichte Glauben schenken wird, halten wir für ausgeschlossen. Was das Inland anbelangt, so ist neben der sozialdemokratischen Presse bereits ein bürgerliches Blatt, das Zentrumsorgan ,, Germania ", zu nennen, das ihr den Glauben verweigert, das sie als eine Erfindung behandelt, bestimmt, den Kaiser zu decken, ohne den Kanzler allzusehr bloßzustellen. Schließlich, wenn der Kaiser wirklich in diesem Falle den Kangler nicht übergangen haben sollte, so bleibt doch eine Tatsache bestehen. Die halbamtliche Erklärung sagt nichts darüber, ob er bei der Mitteilung der vertraulichen französisch- russischen Vorschläge an die Königin Biftoria, ob er bei der Sendung des Feldzugsplans Bülow zur Mitwirkung berufen habe.
In einem wirklichen Verfassungsstaat, in einem parlamentarisch regierten Lande wäre der Vorfall unmöglich. Wenn er sich aber doch ereignen sollte, so würde die Monarchie gefährdet sein. Ein nationalliberales Blatt, das„ Leipziger Tageblatt ", hat das festgestellt. Was wird sich in Deutschland ergeben? Die Bourgeoisie empfindet jetzt schmerzlich die Schäden des Absolutismus, den sie kurzfichtiger weise üppig hat aufschießen lassen, weil er ihr zur Niederhaltung der Arbeiterklasse brauchbar erschien. Wird sie ihm jetzt die Flügel zu beschneiden wagen? Wird sie im Reichstag dem Fürsten Bülow erklären, daß er als Kanzler unmöglich geworden ist? Daß sie ihm tein Vertrauen mehr schenken kann? Wenn der Entrüstungslärm ihrer Presse mehr als Theaterdonner gewesen ist, so muß sie es tun. Aber warten wir ab, ob die bürgerlichen Parteien den Mut haben werden, der augenblicklich in den Spalten ihrer Presse seine Spannkraft übt.
Das tlassenbewußte Proletariat wird jedenfalls aus der Affäre ben notwendigen Schluß ziehen. Es wird mit aller Kraft pros testieren gegen den unerträglichen Zustand, daß die Geschicke einer großen Nation durch die Handlungen eines einzelnen entschieden werden dürfen, der keine Verantwortung vor dem Volke hat. Eine stürmische Reichstagstampagne steht bevor.
Wegen der ausgiebigen Behandlung, die der Fall erforderte, muß die Betrachtung der übrigen Geschehnisse der beiden Berichts. wochen für die nächste Rundschau zurückgestellt werden. H. B.
Gewerkschaftliche Rundschau.
über die Streits und Aussperrungen im Jahre 1907 find nun auch die statistischen Zusammenstellungen der General. tommission erschienen. Sie bestätigen die schon bekannte Tat sache, daß das Jahr 1907 im Verhältnis zum Vorjahr eine starke Verminderung der eigentlichen wirtschaftlichen Kämpfe, der Streits und Aussperrungen, gebracht hat. Sicher ist das zum Teil dem nicht geringen Einfluß der Depression zuzuschreiben, welche das Wirtschaftsleben Deutschlands ergriffen hat. Irrig aber wäre es, aus der Verminderung der Kämpfe auf eine abnehmende Attions. fähigkeit der Gewerkschaften zu schließen. Es darf nicht übersehen werden, daß viele Lohnbewegungen, die durch Vergleich und güt. liche Beilegung endeten, nur deshalb einen den Arbeitern annehm baren Abschluß fanden, weil die gute gewerkschaftliche Organi sation die Unternehmer zur Nachgiebigkeit zwang. Gerade die wachsende Zahl friedlicher Bewegungen läßt die wachsende Macht der Gewerkschaften erkennen. Im Berichtsjahr verminderte sich die Zahl der Streits und Aussperrungen um 19,8 Prozent: es wurden 2792 Rämpfe gezählt gegen 3480 im Jahre 1906. Die Zahl der an den Kämpfen beteiligten Personen ist nicht so start zurückgegangen, sondern nur um 11,1 Prozent gesunken. Das ist eigent lich von größerer Bedeutung als die Zahl der Kämpfe. Die an diesen beteiligten Organisationen haben dafür 12 300 000 mt. aufgewendet, rund 933 000 t. weniger als im Jahre 1906. Inter essant ist die Feststellung, daß die an Rämpfen beteiligten Verbände die Kriegsfosten immer mehr aus der eigenen Kasse decken, also ohne Hilfe anderer berufsfremder Organisationen. Abgesehen von unerheblichen Schwankungen setzt sich in dieser Beziehung eine andauernde Tendenz mit steigender Kraft durch. Während die an Kämpfen beteiligten Gewerkschaften zur Unterstüßung derselben 1892 aus eigenen Mitteln nur 34 Prozent aufbrachten, 1894 gar nur 24 Prozent, trugen fie 1907 aus eigenen Mitteln nahezu 98 Prozent der Aufwendungen. Ein gutes Zeichen gesunder Finanzlage in den Verbänden!