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Die Gleichheit

wollen, nur an die Biologie und ihre Lehrer und nicht an die Opposition des dogmatischen Kirchenglaubens, der von jeher allen großen Erneuerungen der Kultur mit stumpfer Verständ nislosigkeit und kleinlichem Widerspruch entgegengetreten ist. Den Naturwissenschaften sind aus der Fassung, die Darwin feinem Problem und seiner Lösung gab, unzählige neue Fragen entsprungen, so daß jetzt der Darwinismus selber zum Pro­blem geworden ist. Und mit so manchen anderen Großen teilt Darwin das verhängnisvolle Schicksal, nicht nur von den Gegnern, sondern auch von den eigenen begeisterten Schülern mißverstanden worden zu sein. Er selber hat dazu vielleicht den ersten Anlaß gegeben. Vollauf beschäftigt mit der gewal tigen Aufgabe, vor die ihn seine vergleichenden und experimen­tellen Studien gestellt hatten, übersah er den Unterschied in dem methodischen Werte der beiden wichtigsten Theorien, mit deren Hilfe er seine Aufgabe löfte.

Der oben angegebene Titel seines Hauptwerkes nennt diese Theorien mit Namen und stellt sie auch schon in ihrem gegen seitigen Verhältnis hin: Entstehung durch natürliche Zucht wahl! Diese Worte müssen wir herausheben und unterstreichen. Die meisten Anhänger und Vertreter des Darwinismus, so vor allem Ernst Haeckel , sind der Meinung, daß Darwin durch die Entdeckung der natürlichen Zuchtwahl dem uralten Prinzip der Entwicklung des organischen Lebens den wissenschaftlichen Beweis und damit die unerschütterliche Stüße gegeben habe. Diese Auslegung wird von Darwin selbst an vielen Stellen seiner Werte gefördert. Aber der Forschungsweg, den er ein­geschlagen hat, um zu seinen Theorien zu gelangen, hebt sie auf.

Wir betrachten zunächst den Begriff der Entwicklung( der organischen Lebewelt). Er wird in dem Titel des Hauptwerkes durch den Ausdruck Entstehung der Arten " umschrieben. Die Biologie strebt, gleich jeder Wissenschaft, nach einem gesetz­mäßigen Aufbau ihrer Erscheinungen. Im Unterschied von der Physik und der Mathematik erreicht sie dies Biel dadurch, daß fie die Organismen vergleicht und nach dem Grade ihrer Ahn lichkeit zusammenstellt. So werden die einzelnen Individuen zu Arten, die Arten zu Familien, diese zu Gattungen usw. vereinigt. Die unzähligen Individuen der Hauskaße zum Beis spiel werden alle zu der Art: Hausfazze verbunden und dadurch unterschieden von den nahe verwandten des Tigers, des Löwen . Diese Arten, mitsamt der Art Haustage werden ihrerseits unter einem höheren Begriff der Familie: Ragen vereinigt. Die Fas milie Katzen wiederum zeigt, zum Beispiel in ihrem Gebiß, das der Ernährungsweise entspricht, wesentliche Übereinstimmungen mit anderen Arten, die in manchen anderen Merkmalen jedoch sich von den Kazen scheiden. Zu dieser größeren Gruppe ge­hören nebst den Katzen die Familie der Hunde, der Marder, ber Bären, der Hyänen usw. Man faßt sie alle unter dem Namen Raubtiere zusammen. So wachsen die Kreise, und der legte, der alle übrigen umspannt, ist der Begriff des Lebewesens überhaupt.

Wir sehen, daß das Prinzip, das hier die empirische For schung zum Aufbau eines Systems leitet, die Ahnlichkeit der Erscheinungen ist. Eine umfangreiche Arbeit war in dieser Weise vor Darwin geleistet worden. Aber das bestimmende Moment dieser Arbeit, die Ahnlichkeit der Formen und die dar­auf bauende Vergleichung und Einteilung war den Forschern verborgen geblieben. Man nahm an, daß die vielen Pflanzen­und Tierarten beim Beginn alles organischen Lebens in ihrer noch heute bestehenden Zahl und Form von einem Schöpfer oder durch einzelne willkürliche Afte der Natur unabhängig voneinander und als unveränderlich für alle Zeiten( konstant) ins Dasein gerufen worden seien.

So tritt die metaphysische Konstanz der Art in einen logis schen Widerspruch zu dem Leitbegriff der Ahnlichkeit, mittels dessen der Begriff der Art gebildet worden war. Dieser Wider­spruch in seinen Fundamenten erschütterte den Aufbau des naturwissenschaftlichen Systems.

Ahnlichkeit als Motiv der empirischen Forschungsarbeit oder Konstanz das ist die Frage; sie wird zum Grund­

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problem Darwins.

Nr. 9

Das Prinzip der Ähnlichkeit ordnet die Individuen wie der Faden die einzelnen Perlen zu einer zusammenhängenden Kette; es ist der notwendige Ausgangspunkt, die wissenschaftliche Vor­aussetzung der biologischen Klassifikation. Sollen die Arten in­folge eines metaphyfischen Schöpfungsaftes konstant sein, so ist ihre Ahnlichkeit, ihre klassifikatorische Beziehung zueinander ein unerklärliches Wunder. Indem das vom Standpunkt der Wissenschaft aus unzulässige Wunder verworfen wird, wird die Ähnlichkeit erklärt und begründet; und sie muß als das einheitschaffende Prinzip der Erscheinungen, als notwendig bes gründet werden, wenn anders auf ihr die Möglichkeit der bio­logischen Wissenschaft beruht. Also dürfen die Arten nicht als konstant hingenommen, sie müssen vielmehr als veränderlich er­fannt werden. Und auf diese Veränderung ist die Ahnlichkeit der Formen zu beziehen; aus ihr ist sie entwicklungsgeschicht­lich abzuleiten.

So lautet furz gefaßt der Schluß Darwins: Die Arten sind nicht konstant; sie haben sich auseinander entwickelt, die höheren aus niederen. Diese Entwicklung erklärt ihre Ahnlich­feit. Diese Ahnlichkeit beruht daher auf der Blutsverwandts schaft der Formen. So sind die Systeme der Zoologie und Botanik, die auf dem Prinzip der ähnlichkeit oder der Bluts verwandtschaft aufgebaut sind, nur ein anderer Ausdruck für die gesamte Geschichte des organischen Lebens.

Dieser Beweis der Deszendenz, lediglich aus der Ahn­lichkeit der Organismen und aus ihrer Klassifikation, das ist die unsterbliche Tat Darwins. In ihr hat er keinen Vor­läufer gehabt; sie ist sein ureigenstes Verdienst, das nicht mehr angefochten werden sollte.*

Darwin hat durch seinen Beweisgang das Dogma der bis blischen Schöpfungsgeschichte ein für allemal zerstört; er hat den Gott der Zoologie und der Botanik als eine überflüssige und irreleitende Hypothese aufgehoben. Er hat die Wissenschaft von den Lebewesen auf eigene Füße gestellt, den Schutt meta­physischer Vorurteile beiseite geräumt.

Das macht die Größe Darwins aus, daß er den Gedanken der Entwicklung lediglich aus der Anlage der zoologischen und botanischen Klassifikation ableitete. Diese Ableitung ist der einzige zwingende Beweis des Entwicklungsgedankens. Das ordnende Gesetz muß begründet werden aus der gesetzmäßigen Ordnung des Systems, in dem es sich entfaltet. Das System der organischen Natur ist das System ihrer Entwicklung. Das ist der Kern der Sache.

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Zu der immensen Arbeit, die Darwin bis zu seinem letzten Lebensjahre geleistet hat, und zu der gewaltig aufrauschenden Bewegung, die von ihm ausging, steht der gleichförmige Ver Lauf seines Lebens und die schlichte Art seines Charakters in vollendetem Gegensatz- gleich einem Eiland, das sich in ruhigen, zarten Linien aus dem Drange der Wogen erhebt. Nur wenig läßt sich von seinem Leben erzählen. Darin offenbart sich der Forscher, daß das Pflichtgefühl seinen Problemen gegenüber zum Gesetz seines Daseins geworden ist; daß die Persönlichkeit zurücktritt vor der Sache, für die sie sich einsetzt. Als Sohn eines begüterten Arztes ist er im Jahre 1809 geboren. Früh trat seine Neigung zum Sammeln und seine Liebe zur Natur hervor; so gewährten ihm Schule und Universität weit weniger Vergnügen als Jagden und Ausflüge zu Pferde. Die Grammatik der flas sischen Sprachen bewältigte er nur mit Mühe, und die Vor­lesungen auf der Universität er sollte zuerst den Beruf seines

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* Wir sind also im Gegensatz zur herrschenden Meinung, die vor allem von Ernst Haeckel vertreten wird, der Ansicht, daß die Zuchtwahlhypothese nicht in direktem Zusammenhang mit dem Beweis der Entwicklungstheorie steht; daß es falsch ist, mit dem Namen Darwinismus" nur die Er. flärung der Abstammung durch die Zuchtwahl und nicht vielmehr ihren Beweis aus dem System zu verstehen. Das fragliche Verhältnis der beiden Lehren zueinander soll in einem zweiten Aufsatz behandelt werden. An dieser Stelle sei noch hervorgehoben, daß wir die maßgebende An­bedeutungsvollen Abhandlung eines russischen Gelehrten( S. Tschulot: Zur regung zu unserer Auffassung einer für die Geschichte der Lehre Darwins Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie, 1907, im Biologischen Zentralblatt") verdanken.

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E. L.