Nr. 9 Die Gleichheit 131 Vaters ergreifen— besuchte er sehr unregelmäßig. Schon hatte er das medizinische Studium an den Nagel gehängt und das theologische mit größerem Erfolg begonnen, als er durch einen befreundeten Professor angeregt wurde, sich als Naturforscher an einer Weltreise zu beteiligen. Diese Reise, die sich über einen Zeitraum von etwa fünf Iahren erstreckte, ist das einzige äußere Erlebnis, das von einschneidender Bedeutung für Darwins Zukunft gewesen ist. Sie hat nicht nur seine Beobachtungsgabe aufs vorzüglichste ausgebildet; sie hat ihn auch zu vergleichenden Studien(über die südamerikanische Tier- und Pflanzenwelt) geführt, denen er selbst die erste Anregung zur Begründung der Entwicklungslehre zuerkennt.— Von jetzt an entfaltet er einen stillen, zähen Fleiß; das Forschen, das stetige,„hartnäckige" Fortschreiten im wissenschaftlichen Erkennen wird der sittliche Grundzug seines ganzen Wesens. Bald nach seiner Rückkehr nach England zieht er sich mit seinem jungen Weibe auf ein Landgut zurück, das er von da ab nur noch ganz vorüber- gehend verlassen hat. Hier, wenige Meilen von London ent- fernt, hat er 1882, als 72 jähriger Greis, noch immer mit wissenschaftlichen Entwürfen beschäftigt, sein erlebnisarmes und inhaltreiches Dasein beschlossen. In der Westminsterabtei in London ist sein Grab, ganz in der Nähe seines großen Lands- mannes, des Physikers Isaak Newton . * ♦ * Wir kommen zum Schlüsse auf den Vergleich der beiden Großen, Darwin und Marx, zurück, die dem 19. Jahrhundert das Gepräge gegeben haben. Beide sind sie von ihrem Gebiet aus zu den Gesetzen des Lebens vorgedrungen. Diese Gesetze sind in der organischen Natur sowohl als in der menschlichen Gemeinschaft Formen der Entwicklung. So begründete der eine die Geschichte der Natur, der andere diejenige der Gesellschaft. Und beide sendeten den hellen Strahl der Erkenntnis in fernste Vergangenheiten und Zukünfte. Die preußische Fürsorgeerziehung am Pranger. Vor der Strafkammer zu Itzehoe ist kürzlich über Menschen- schinderei unerhörtester Art verhandelt worden, über Bestialitäten und Grausamkeiten, die wiederzugeben die Feder sich sträubt. Die Scheußlichkeit der enthüllten Missetaten wird dadurch noch gesteigert, daß sie an völlig Wehrlosen von denen verübt worden sind, die berufen waren, sie zu beschützen und zu erziehen. Auf der An- klagebank saßen Colander, der Hausvater der Mädchenerziehungs- anstatt„Blohmösche Wildnis" bei Glückstadt in Schleswig-Holstein und seine würdige Ehehälfte. Das genannte Mädchenheim ist mit der Landeskorrektionsanstalt in Glückstadt verbunden, deren Leiter der Vater des Angeklagten ist. Das Ehepaar Colander wurde beschuldigt, in den Jahren 1901 bis 1908 die ihnen von der Landesaufsichtsbehörde übergebenen weiblichen Zöglinge, Mäd- chen von 18 bis 21 Jahren, in einer Weise gemißhandelt zu haben, die allen Begriffen von Menschlichkeit ins Gesicht schlägt. Der sauber« Hausvater hat die Mädchen in Ketten gelegt und dann mit Ketten über Hals und Arme geschlagen; er hat sie wie Zug- vieh vor Pflug und Egge gespannt; er hat sie hungern lassen. Stundenlang haben im Winter Mädchen zur Strafe für Bettnässen mit einem Bettuche über dem Kopf vor der Haustür stehen müssen. Ein Mädchen mußte zur Strafe für Unsauberleit Kaffee aus dem Nachtgeschirr trinken und wurde dabei geschlagen. Einem anderen wurde auf Befehl des Hausvaters das Gesicht mit Kot beschmiert. Daß Zöglinge an den Haaren geschleift, geschlagen und mit Arrest bestraft wurden, scheint zu den Alltäglichkeiten gehört zu haben. Frau Colander wurde beschuldigt, daß sie ein Mädchen auf ein Brett schnallen ließ und dann mit einem dicken Stock prügelte. Ein anderes Opfer ihrer„Erziehungskunst" blieb mit auf dem Rücken gebundenen Händen drei bis vier Stunden an ein Fenster- kreuz gefesselt usw. Es ist unmöglich, all die infamen Martern aufzuzählen, welche das würdige Hausverwaltcrpaar über die ihnen anvertrauten unglücklichen Mädchen verhängt hat. Die körperlichen Züchtigungen mußte der Angeklagte meist zugeben und erklärte sie bezeichnenderweise als sein gutes„väterliches Recht". Und was ebenso bezeichnend, aber noch schimpflicher ist: seine amtlichen Vor- gesetzten, die Vertreter des Staates machten ihm nicht zum Vor- wurf, daS elterliche Recht als Prügelrecht aufgefaßt zu haben. Im Gegenteil, die körperliche Züchtigung gilt nach königlich preu- ßischer Auffassung für ein notwendiges Element der Erziehung von Kindern und künftigen Staatsbürgern. Von den gräßlichen Bestialitäten abgesehen, wurde Colander nur der allzu ausgiebige Gebrauch des väterlichen Züchtigungsrechts zum Vorwurf gemacht. Das Zeugenverhör bestätigte nicht allein die furchtbaren Anklagen, es warf auch ein grelles Licht auf Colanders leider nicht angeklagte Mitschuldige: die Aufsichtsbehörden. Mehrfach vorgenommene Revi- sionen haben keine Ahnung der bestialischen Praktiken erweckt, die in der Anstalt im Schwange waren. Der Tod von fünf Mädchen, die in ver- hältnismäßig kurzer Zeit starben, war nicht ausreichend, Verdacht zu erwecken! Der Geheime Sanitätsrat Dr. Hallig hat im Heim „alles in bester Ordnung gefunden". Und doch gab er zu, daß die im Verlaufe der Verhandlungen erwiesenen Mißstände im Asyl das Leben Schwacher und Schwindsüchtiger gefährden mußten. Auf Bürgermeister Brandes, Mitglied der Aufsichtsbehörde, machte die Anstalt den Eindruck eines musterhaften Betriebs— die Mädchen hatten ja„Haltung". Hausvater Colander war also an seinem Platze. Auch Pastor Jakobsohn glaubte seine Pflicht erfüllt zu haben, wenn er die Mädchen durch seine Predigten zu Tränen rührte. Das gedrückte Wesen der Unglücklichen fiel ihm auf, er merkte wohl, daß etwas faul war im Staate Dänemark , ja er war innerlich überzeugt, daß Colander sich für das ihm anvertraute Amt nicht eigne, allein—„was dich nicht brennt, das blase nicht". Ahnliches gilt von einem zweiten geistlichen Aufsichtsrat, dem Herrn Pastor Wolf. Schließlich war es nicht so leicht, mit einer Kritik des Heims durchzudringen. Colanders Vater war ja verantwort- sicher Direktor der Anstalt. Wenn man bedenkt, daß es sich meist um Mädchen handelte, die als Minderjährige um geringfügiger Vergehen willen der königlich preußischen Fürsorge ausgeliefert waren, so fällt die vorliegende Schuld doppelt schwer ins Gewicht. Nicht die Schuld der Angeklagten allein, wir betonen das. So verbrecherisch sie gehandelt haben, sie gehörten wahrlich nicht allein auf die Armesünderbank. Schuldig ist die Aufsichtsbehörde, schuldig ist vor allem das System der Zwangssürsorgeerziehung, das derartige schmachvolle Zustände möglich macht. Das System, das eine korrupte Vetternwirtschaft zuläßt, der zufolge das äußerst wichtige Amt eines Hausvaters einem Mann anvertraut wurde, dem alle nötige Vorbildung, dem jede Begabung und Neigung dafür fehlte, der nach eigener Aussagt „Ekel und Abscheu" dagegen empfand. Warum? Weil dieser Mann zum Militärdienst nicht tauglich war und daher auch in seinem Beruf als Förster keine Staalskarriere machen konnte. Statt der mangelnden Eignung brachte er für seine Amtstätigkeit außer seiner einflußreichen Verwandtschaft einen famosen Grundsatz mit: „Beel Prügel un wenig to eten." Allerdings stiegen zwei von den vier Aufsichtsrälen, die über seine Anstellung zu entscheiden hatten, Zweifel darüber auf, ob Colander der rechte Mann am rechten Platze sei. Aber unter den übrigen zwei war dessen Vater, und seine Stimme, die Stimme des Herrn Direktors, gab den Ausschlag. Die Verwandtschaft war auch Bürgschaft genug, daß Colander sein Amt nicht mißbrauchen werde. Daher bedurfte es keine? Reglements, keiner Dienstordnung.-- Wehe der Unglücklichen, die mit dreizehn Jahren wegen eine? leichtsinnigen falschen Schrittes der königlich preußischen Fürsorge verfällt, wie sie in der„Blohmöschen Wildnis" praktiziert wurde, Dort hat die„fürsorgliche, bessernde Erziehung" fünf Mädchen im Laufe von zwei Jahren vorzeitig ins Grab gebracht, andere, und ihre Zahl ist nicht gering, ins Bordell getrieben. Der Rest ist zweifellos physisch und moralisch zugrunde gerichtet. Vogelfrei sind die Unglücklichen, deren sich der preußische Staat„fürsorglich" an- nimmt, denn wie der Fall Colander erweist, werden sie von ihrem Peiniger selbst dann nicht befreit, wenn er wegen der gräßlichsten Missetaten bereits unter Anklage gestellt ist. Monatelang noch blieb der Prügelvater im Amt und konnte nach Herzenslust die Aussagen der vor ihm zitternden Geschöpfe beeinflussen. Doch Colander ist„gesinnungstüchtig"! Colander ist Patriot! eine Stütze der staalserhaltenden Parteien. Dieser Vorzug deckte offenbar viele Mängel, denn der Angeklagte selbst hob ihn nachdrücklich hervor. Daß die preußische Zwangsfürsorge vor allem in Itzehoe am Pranger stand, bestätigte, ohne es zu wollen, der Landes- Hauptmann Bachmann. Er erklärte, daß Prügelstrafe, Kostentziehung und Arrest auch in anderen Fürsorgeanstalten üblich sind, sie ge- hören zu den„Erziehungsmitteln ". Es liegt auf der Hand, daß und warum die Genossinnen der Fürsorgeerziehung ihre volle Aus- merksamkeit zuwenden müsse». Die„Gleichheit" hat daher vor etwa zwei Jahren in die Schreckenskammer der preußischBl Zwangsfürsorgeerziehung hineingeleuchtet.(Nr. 8, Jahrgang 1907.) Bürger-
Ausgabe
20 (1.2.1909) 9
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