150 Die Gleichheit Nr. 10 hüllte die Affäre des Gouverneurs Reinbott von Moskau , in der eine förmliche Partnerschaft der Polizei mit dem Ver- brccherlum aulgedeckt wurde.— Die aus tausend Wunden blutende Sozialdemokratie hat trotz allem ihre Arbeit fort- geführt. In der Duma tat ihre kleine Vertretung ihr mög- lichstes und stellte sich mutig der kriegshetzenden panslavistischen Strömung entgegen, die aus den Balkanwirren Nahrung sog, und der sich der feige Liberalismus, die Kadettenpartei, sofort beugte. Die Gewerkschaften sind meist, die politischen Organi- satiouen völlig auf geheimes Wirken angewiesen. Die söge- nannte Intelligenz hat die Reihen der Partei fast völlig ver- lassen. Unerschrocken ist das Proletariat trotz allem auf seinem vorgeschobenen Posten gestanden. Gegen die Unabhängigkeit Finnlands unternahm der Zarismus noch keine entscheidenden Schläge, doch fehlt es nicht an Anzeichen, daß er sie führen wird, sobald er die Gelegen- heit gekommen glaubt. Die Auflösung des Landtags änderte nichts an den inneren Verhältnissen; die Parteien treten in ungefähr derselben Stärke in das Parlament zurück. Die Sozialdemokratie behauptete sich glänzend und eroberte noch einige neue Sitze. Groß war die Wahlbeteiligung der Frauen. Bei den Reichstagswahlen in Schweden eroberte die Sozialdemokratie 16 neue Sitze und brachte es auf über 80 Mandate. Da die Konservativen geschwächt, die Liberalen gestärkt wurden, eröffneten sich der Wahlreform günstigere Aus- sichten.— JnDänemark erlitt der rechte Flügel der Demokraten einen bösen Stoß durch die Aufdeckung der Riesenschwindeleien seines Führers, des früheren Justizministcrs Alberti. Die Sozialdemokratie Belgiens konnte die Annexion des Kongostaates vor den Kammerwahlen verhindern. Die Wahlen brachten ihr fünf neue Mandate, darunter zwei mit Hilfe der Liberalen. Da aber diese Verbündeten drei Sitze verloren, gelang es nicht, die klerikale Mehrheit zu brechen. Immerhin sank sie von zwölf auf acht Stimmen. Nach de« Wahlen ließ sich die Annexion des Kongo nicht mehr hintan- halten. Belgien ist Kolonialstaat geworden, und Leopold II. und seine Clique haben aus Kosten der Belgier Millionen- gewinne geschnappt. Die Ermordung des Königs und Thronfolgers von Portu- gal, eine Antwort auf das verfassungswidrige Gewaltregime, das der Ministerpräsident Franca etabliert hatte, zeigte den Herrschenden, daß Bajonette keine dauernde Sitzgelegenheit zu bieten vermögen. Die Kampagne für die Präsidentenwahl in den Vereinigten Staaten von Nordamerika deckte vielerlei über die Korrup- tion in den Reihen der beiden großen kapitalistischen Parteien auf, in denen so mancher sitzt, der sich von den Unternehmer- Vereinigungen, den Trusts, zur Vertretung ihrer Interessen kaufen läßt. Demokraten und Republikaner warfen sich gegen- festig ihre schmutzige Wäsche an den Kopf. Leider hat weder vies Schauspiel noch die feindliche Haltung der Gerichte gegen die gewerkschaftlichen Kämpfe des Proletariats die große Masse der Arbeiter zur Abwendung von den kapitalistischen Parteien zu veranlassen vermocht. In den Gewerkschaften machten sich zwar Anzeichen des Regimes selbständiger Arbesterpolitik bemerkbar, doch endete die Gärung mit einem Bittgang des Präsidenten Gompers vom Arbeiterbund zu den Wahltagungen der bürgerlichen Parteien. Gompers empfahl darauf den Ar- bestem, für den demokratischen Kandidaten zu stimmen, dessen Partei zwar von einer Anerkennung der Arbciterforderungen weit entfernt war, aber doch ein wenig verbindlichere Redens- arten für sie gesunden hatte als die Republikaner . Genützt hat das den Demokraten nichts, denn der republikanische Kau- didat Taft siegte mit großer Majorität. Leider vermochte der sozialdemokratische Kandidat Debs seine Stimmenzahl trotz eifrigster Agitation nur um einige Zehntausend über die 400000 Stimmen zu bringen, die er bei der Vorwahl erhielt. Während die Arbeiterfeindlichkeit der Bourgeoisie wächst, mangelt der großen Mehrheit des amerikanischen Proletariats noch das Klassenbewußtsein. H. B, Etwas vom Tabakarbeiterelend. Nachdem die nach innen und außen völlig verkracht» Politik Deutschlands ihr möglichstes getan hat, durch Militarismus, Flottenrüstungen und Kolonialwirtschaft die Reichskaffe bis auf den Grund zu leeren, sollen wie immer die arbeitenden, die ausge- beuteten Massen des Volkes sie wieder füllen. Die sogenannte Ncichsfinanzresorm, die dem Reichstag vorliegt, ist, wie wir bereits gezeigt haben, nichts als ein Anschlag auf die Taschen der armen und kleinen Leute, die nicht bloß sparen, nein darben sollen, damit die Reichen und Satten nicht in ihren Geldsack zu greifen brauchen. Wir haben bereits nachgewiesen, daß verschiedene der Steuerpläne, wenn sie in die Praxis umgesetzt werden, sowohl die Lebenshai- tung der Massen verteuern und verschlechtern, wie auch ihren Ver- dienst vermindern müssen. Kaum eine Kategorie von Arbeitern und Arbeiterinnen würde aber so hart mit dieser zwiefachen Rute gepeitscht werden, wie die Tabakarbeiterschaft. Kein Wunder da- her, daß die furchtbar drohende Gefahr diese im ganzen Reiche aufrüttelte und selbst die Arbeiter und Arbeiterinnen au? ihrer Lethargie riß, die bisher dumpf und stumpf ihre LebenSlast ge- tragen haben und dem Kampfe ihrer Brüder und Schwestern fern- blieben. Ein Heer von 163245 Arbeitern und Arbeiterinnen sieht sich einer beispiellosen Verschlechterung der Löhne und der Arbeits- bedingungen, ja zu vielen Tausenden dem Untergang preisgegeben, wenn die Steuerschraube gegen die Tabakindustrie fester angezogen wird. Nicht weniger als 758 Orte sind für ihr Schicksal mit dem Wohl und Wehe der Tabakarbeiterschaft verknüpft und werden also durch die Belastung der Tabakindustrie in schwere Mitleiden- schaft gezogen. In der Tabakindustri« treten üble Erscheinungen der kapita- listischen Produktionsweise deutlich zutage: schonungslose Frauen- und Kinderausbeutung, schmachvoll niedrige Löhne, Heimarbeit mit all ihren Schädigungen für Einkommen und Lebensgestallung, für Gesundheit, Bildung und Kainpsestüchtigkeit. Weib und Kind müssen mitschuften, um dem Lohne des Mannes etwas hinzuzu- fügen, und was sie alle zusammen verdienen, ist zu viel zum Sterben und zu wenig zum Leben. Eine auffallend hohe Sterblichkeit der Tabakarbeiterschaft bezeugt die Sünden der kapitalistischen Aus- beutung. Das„letzte Stückchen Brot" würde den Ärmsten durch eine Mehrbelastung des Tabaks vom Munde gerissen werden. Die Zahlen reden eine eindringliche Sprache. Von den in Sachsen in der Tabakindustrie beschäftigten 30000 Arbeitern und Arbeiterinnen sind die Hälfte Heimarbeiter, das heißt Leute, die im allgemeinen viel weniger verdienen, als sie für ihren Unterhalt brauchen, und die sich deshalb nie ordentlich satt essen können. Und das obgleich ihre Arbeitszeit sehr lang ist. In Frankenberg arbeiten zum Beispiel 700 bis 800 Heimarbeit-- rinnen 6 bis 16 Stunden täglich. Ihre Löhne sind äußerst niedrig, die Wohnungen elend. In Hamburg-Ottensen sind ebenfalls fast nur Heimarbeiter zu tresjen. 320 Arbeiter verdienen zusammen mit ihrer Frau nur 20 Mk. wöchentlich, und es kommen sogar Wochenlöhne unter 15 Ml. vor. In Oh lau(Schlesien ) beträgt der Durchschnittslohn noch nicht 400 Mk. im Jahre. Hunde- und Pferdefleisch gelten da als Delikatesse. Die Not der Tabakarbeiter im Bezirk Minden wird durch die Feststellungen der Handels- kammer über die Zahl der schulpflichtigen Kinder bezeichnet, die in der Tabakmdustrie tätig sind. Sie beträgt 5322. Und wie viele Kleine werden der Kontrolle entgangen sein! Wie groß das Elend der Tabakarbeiterschaft Westfalens ist, erhellt am besten daraus, daß es selbst den Pastoren über die Hutschnur geht. So erklärte Pastor Bodelschwingh in einer Predigt auf Grund der Totenbücher: „Die Tabakarbeiter sterben früh, am ersten stirbt meist die Frau. Sterben sie nicht früh, so werden sie meist früh invalide." Die Kleinen kennen keine Kindheit. Schon in frühester Jugend müssen sie verdienen und lernen am eigenen Leibe die ganz» Herrlichkeit der kapitalistischen Ordnung kennen. Im Maingau verdienen die Arbeiter und Arbeilerinnen 5 bis 7 Mk. wöchentlich. Und da- von soll eine Familie leben! Der Protest der Tabakarbeiterschaft dagegen, daß ihrer Industrie eine höhere Steuerlast aufgebürdet werden soll, ist um so begreif- licher, als sie ihre elende Lebenslage nicht allein der Ausbeutungs- gier ihrer„Brotgeber" verdanken, sondern zum großen Teil auch der Tabaksteuer von 1879. Wenn zum Beispiel in Bremen vor 1879 die Kautabakarbeiter 40 Stollen auf ein Kilo brauchten(dort wird der Atlordloh» nach Gewicht berechnet), so werden die Rollen jetzt so dünn gemacht, daß sie 120 Rollen für denselben Preis fertigstellen müssen. Die Banderolensteuer auf Zigaretten hat gleicherweise in den letzten Jahren für die Arbeiterschaft die ver- derblichsten Folgen gezeitigt. Die Zigarettenarbeiter können ein
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20 (15.2.1909) 10
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