194 Die Gleichheit Nr. 13, Ein Haus mag klein sein; solange die es umgebenden Häuser ebenfalls klein sind, befriedigt es alle gesellschaftlichen Ansprüche an eine Wohnung. Erhebt sich aber neben dem kleinen Hause ein Palast, so schrumpft das kleine Haus zur Hütte zusammen. Das kleine Haus beiveist nun, daß sein Inhaber keine oder nur die geringsten Ansprüche zu machen hat. Und es mag im Laufe der Zivilisation noch so sehr in die Höhe schießen, wenn der benachbarte Palast in gleichem oder gar höherem Maße in die Höhe schießt, wird der Bewohner des verhältnismäßig kleinen Hauses sich immer unbehaglicher, unbefriedigter, ge- drückter in seinen vier Pfählen finden. Und weiter heißt es: Obgleich also die Genüsse des Arbeiters gestiegen sind,' ist die gesellschaftliche Befriedigung, diesie gewähren, gefallen im Ver- gleich mit den vermehrten Genüssen des Kapitalisten.' Unsere Bedürfnisse und Genüsse entspringen aus der Ge- sellschaft, wir messen sie daher an der Gesellschaft, wir messen sie nicht an den Gegenständen ihrer Befriedi- gung. Weil sie gesellschaftlicher Natur sind, sind sie rela- tiver' Natur." Das heißt mit anderen Worten: Wenn man das Viel oder Wenig dessen, was bestimmte Menschen sich leisten können, bc- urteilen will, so muß man es messen an den gesamten Lebensgewohnheiten und Bedürfnissen der Zeit, in der diese bestimmten Menschen leben. Ob also die Gesamtlage der Arbeiter sich verbessert oder verschlechtert, kann nur da- durch festgestellt werden, daß man untersucht, in welchem Umfang die Lage der Besitzenden sich gehoben oder gesenkt hat, das heißt man muß die beiden Lagen miteinander vergleichen. Diese Betrachtungsweise nennt man(im Gegensatz zur absoluten) die relative, und sie ist die einzige, die wissenschaftlichen Wert besitzt. Wenn wir diese Betrachtungsweise anwenden, so ergibt sich, daß der Wohlstand des Besitzenden in viel höherem Maße zunimmt als der des Proletariers, dieser also im Vergleich mit dem Kapitalisten nicht in die Höhe kommt. Jahr für Jahr bestätigt die Steuerstatistik diese Tatsache, und etwas anderes hat auch Marx weder gesagt, noch sagen wollen. Wir sehen also: Das, was unser Altmeister als ein dem Kapitalis- mus innewohnendes Gesetz erkannt hat, ist richtig: die Lage der Arbeiter verschlechtert sich andauernd im Vergleich zu der Lage der Kapitalisten, weil deren Einkommen in schnelle- rem Tempo, in größerem Maße wächst als das der Prole- tarier, es findet also eine relative Verelendung statt. Das läßt sich mit keiner Kunst fortdisputieren: es bleibt dabei. Aber nicht ewig wird es dabei bteiben. Wenn erst der Mahn- ruf desselben Karl Marx :Arbeiter aller Länder ver- einigt euch!" zur Wirklichkeit gewordm ist, dann werden auch die Fesseln des Proletariats fallen. An die Stelle der Aus- beutung des Menschen durch den Menschen tritt die Gemein- samkeit, die Solidarität aller, die zu ungeahntem Wohlstand, zu hoher Kultur für alle führen wird. Das ist das Ziel des organisierten, klassenbewußt kämpfenden Proletariats, und dieses Ziel wird es erreichen! iL C. Der Weg der kapitalistischen Wirtschaft. Allen Marx -Vernichtenl" und-Korrektoren" zum Trotz geht die wirtschaftliche Entivicklung ihren durch die Gesetze des Kapitalismus vorgezeichneten Weg. Sie zwingt ein immer größeres Heer Proletarier in den kapitalistischen Frondienst, zerreißt die heilig gepriesenen Familienbande, macht schnell wachsende Scharen von Kindern und Frauen zu Lohnsklaven, vermindert den Anteil der Selbständigen an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen und läßt auf der anderen Seite das aus- beutende Kapital in immer weniger Händen sich zusammen- ' Weil sein Lohn gestiegen ist. ' Dessen Einnahmen noch viel mehr gestiegen sind. ' Relativ= verhältnismäßig, im Vergleich mit anderem; das Gegen- teil von absolut. ballen, läßt industrielle Riesenbetriebe erstehen, die ihre Polypen- arme über die ganze Welt ausstrecken. Besonders in Preußen, der Domäne politischer Herrschaft der Junker, hat die industrielle Konzentration und ihr Gegen- stück, die Proletarisierung, im letzten Jahrzwölft gewaltige Fort- schritte gemacht. Den zahlenmäßigen Nachweis dafür bieten die Ergebnisse der Betriebszählung vom 12. Juni 1907, die in ihren Hauptresultaten nun vorliegen. Die charakteristischen, scharf hervortretenden Merkmale sind diese: Eine weit über die Bevölkerungszunahme hinausgehende Erweiterung des Kreises der Erwerbstätigen ; ein Zuströmen weiblicher Arbeitskräfte zur Er- werbsarbeit, das diesen Steigerungsgrad wieder- um weit überflügelt; eine Verminderung der von der Landwirtschaft lebenden Bevölkerung und eine Zunahme der nichtlandwirtschaftlichen Volksschichten; schließlich ein relativer, teilweise sogar ein absoluter Rück- gang der Selbständigen . Wir machen darüber die folgenden Angaben, wobei die Er- gebnisse der letzten Zählung mit denen aus dem Jahre 1895 in Vergleich gesetzt sind. In dem Zeitraum von zwölf Jahren stieg die Einwohnerzahl Preußens von 31490315 auf 37989393 oder um ÄO'/» Prozent. Der Kreis der Erwerbstätigen im Hauptberuf erweiterte sich von rund 12 Millionen auf rund 10 Millionen Personen; das macht 33'/« Prozent aus. Be- rücksichtigt man nur die gewerblich Tätigen, so ergibt sich eine prozentuale Steigerung von 43'/. Prozent. Demnach entfällt der größere Teil des Zuwachses auf die hauptberuflich Er- werbstätigen in gewerblichen Unternehmen. Die Zahl der Dienenden für den häuslichen Dienst", wie es in der amt- lichen Statistik heißt, hat eine Verminderung von 835100 auf 812147 erfahren. Zugenommen hat die Zahl der berufslosen Selbständigen , und zwar von 1221598 aus 2067044. Das Mehr stellen zum größten Teile Invaliden- und Altcrsrentner. Eine soziale Bedeutung hat demnach die hier eingetretene quan- titative Verschiebung nicht. Etwas anderes ist es mit der Veränderung in dem Stärkeverhältnis zwischen männlichen und weiblichen Berufstätigen. Der Zuwachs der männlichen Bevölkerung macht 21,4 Pro- zent aus; die weibliche Einwohnerschaft vermehrte sich um nur 19,9 Prozent. Trotzdem ist die weibliche Arbeitskraft an der Zunahme der Erwerbstätigen prozentual erheblich stärker be- teiligt als die männliche. 1895 waren von je 100 der männ - lichen Bevölkerung 59,63 hauptberuflich erwerbstätig, 1907 war dieser Anteil auf 60,06 gestiegen; für die weibliche Bevölkerung jedoch ergibt sich eine Anteilssteigerung von 17,45 auf 24,44 oder in absoluten Zahlen von 2'/i Millionen auf 4'/» Millionen der hauptberuflich Erwerbstätigen. Von der Gesamtzunahme der hauptberuflich Erwerbstätigen, die rund 4 Millionen ausmacht, entfallen mithin 4,9 Millionen auf das weibliche Geschlecht. Untersucht man, wie sich die unselbständigen berufstätigen Frauen auf die verschiedenen Erwerbsgruppcn verteilen, und in welchem Verhältnis sie in diesen vertreten sind, so ergeben sich folgende Resultate: In der Landwirtschaft stieg die Zahl der Arbeiterinnen und weiblichen Angestellten von 1280672 auf 2555525, gleichzeitig sank hier die Zahl der männlichen Arbeitskräfte von 2096084 auf 1963726; in Industrie und Gewerbe ging die Zahl der weiblichen unselbständigen Arbeits- kräfte von 489787 auf 734899 in die Höhe, die der männ- lichen erfuhr eine Steigerung von 3133954 auf 4767462; in Handel und Verkehr nahmen die weiblichen Unselbständigen von 205413 auf 377333 zu, die männlichen von 665955 auf 1038325; für die in wechselnder Lohnarbeit beschäftigten Frauen und Mädchen wurde eine Vermehrung von 148377 auf 5J99398 verzeichnet, während die in Frage kommenden Männer ein Sinken ihrer Zahl von 155753 auf 112330 zu buchen hatten. Prozentual nahm in diesen Gruppen die Zahl der Arbeiterinnen und weiblichen Angestellten um 8t Prozent zu, während die der männlichen Beschäftigten eine Vermehrung von nur 31 Prozent erfuhr.