Nr. 19

19. Jahrgang

Die Gleichheit

Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen

Mit den Beilagen: Für unsere Mütter und Hausfrauen und Für unsere Kinder

Die Gleichheit erscheint alle vierzehn Tage einmal. Prets der Nummer 10 Pfennig, durch die Poſt viertelfährlich ohne Bestellgeld 55 Pfennig; unter Kreuzband 85 Pfennig.

Jabres- Abonnement 2,60 Mart.

Inhaltsverzeichnis.

Stuttgart

21. Juni 1909

Die Krankenversicherung der Heimarbeiterinnen, Lanbarbeiterinnen und Dienst boten in der Reichsversicherungsordnung. Von Luise Zietz . Heime für Textilarbeiterinnen. Von Martha Hoppe. Die Steuerreform der Junker und der Kirche. Von H. B. Der Londoner Kongreß des Weltbundes für Frauenstimmrecht.( Schluß.)- Heimarbeiterelend in der Puppenindustrie. Von Eise Belli. Die Proletarier der Gifthütten rühren sich. Von ed. Aus der Bewegung: Ernst Deinhardt+ Von der Agitation. Bericht der Dresdener Kinderschutzkommission.- Politische Rundschau. Von H. B. -Gewerkschaftliche Rundschau. Notizenteil: Dienstbotenfrage.- Kinderarbeit. Frauenbewegung. Verschiedenes.

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Kellnerinnenfrage.

Die Krankenversicherung

der Heimarbeiterinnen, Landarbeiterinnen und Dienstboten in der Reichsversicherungsordnung.

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Wir haben in früheren Nummern der Gleichheit" bereits hervorgehoben, daß der Entwurf der Reichsversicherungsordnung die Einbeziehung der Hausgewerbetreibenden und Heimarbeiter, der Landarbeiter und Dienstboten in die Krankenversicherungs pflicht vorsieht. Damit wird endlich eine alte sozialdemos fratische Forderung erfüllt, die bereits bei der Schaffung des Krankenversicherungsgesetzes mit allem Nachdruck von un seren Abgeordneten vertreten worden ist.

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Leider fordert die Art der Durchführung, wie sie der Ents wurf vorschlägt, unseren schärfsten Protest heraus: Zunächst wird durch eine Reihe von Bestimmungen das Obligatorium der Versicherung durchbrochen, ferner sollen die drei ge­nannten Arbeiterkategorien und außer ihnen noch die un­ständigen Arbeiter und Arbeiterinnen sowie die im Wander­ gewerbe Beschäftigten nicht den Ortskrankenkassen, sondern nicht den Ortskrankenkassen, sondern neuzugründenden Landkrankenkassen ohne Selbstverwal. tungsrecht unterstellt werden. Vorstand und Ausschuß, die in den Landkrankenkassen die Verwaltung ausüben, sollen von den Kommunalverbänden ernannt, nicht von den Mit gliedern gewählt werden. Der Ausschuß tritt an die Stelle der Generalversammlung, er muß je zur Hälfte aus Arbeitern oder Arbeiterinnen und Arbeitgebern bestehen, er braucht jedoch feineswegs unter allen Umständen zu existieren. Durch status tarische Bestimmung fann von seiner Ernennung Abstand ge nommen werden, und nur in diesem Falle muß die Hälfte der ernannten Vorstandsmitglieder aus Arbeitervertretern be stehen. Man sieht: die Selbstverwaltung ist hier völlig vernichtet, die Versicherten sind lediglich Objekt der Gesez­gebung.

Eine schwere ideelle und materielle Benachteiligung der Ver­ficherten muß die Folge davon sein. Erklärlich genug: Alle drei genannten Arbeiterkategorien find wirtschaftlich und sozial am schlechtesten gestellt. Bei Landarbeitern und Dienstboten kommt außerdem noch ihre ausnahmerechtliche Stellung hinzu, wodurch sie zum Baria innerhalb der Arbeiterklasse degradiert werden. Die Landarbeiter, Dienstboten und Heimarbeiter haben das eine gemeinsam, freilich aus ganz verschiedenen Gründen,

Zuschriften an die Redaktion der Gleichbeit find zu richten an Frau Klara Zetkin ( 3undel), Wilhelmshöhe, Post Degerloch bei Stuttgart . Die Expedition befindet sich in Stuttgart , Furtbach- Straße 12.

daß zu ihrer materiellen Not die soziale Vereinsammung und die geistige Not, ja sogar die intellektuelle Verödung kommt. Was dem Leben des industriellen Arbeiters, der Arbeiterin Inhalt gibt, was sie geistig und sittlich emporhebt: die Beteili gung in der Arbeiterbewegung, das Erkennen der Zusammen­hänge und der Entwicklungsgesetze des Wirtschaftslebens der Völker, die bewußte Einwirkung auf sie durch solidarisches Empfinden, Wollen und Handeln, die Teilnahme an der Schaf fung, dem Aufbau und der Verwaltung der eigenen Organi sation: das alles fehlt dem Landarbeiter, der arbeiterin faft vollständig, ganz zu schweigen von allen sonstigen geistigen An­regungen, die das Stadtleben mit sich bringt. Die rechtliche Gebundenheit, die Vereinzelung und der Mangel an Freizeit haben auch den Dienstboten der Städte diesen Lebensinhalt bisher geraubt. Erst in der jüngsten Zeit beginnt die Dienst botenbewegung hierin Wandel zu schaffen.

Aber auch die industriell tätigen Heimarbeiter und Heim­arbeiterinnen find durch den ungemein hohen Grad kapita listischer Ausbeutung, der ihnen Hirn und Knochen gleicher­maßen zermürbt, sowie durch ihre Isolierung größtenteils um die geistig- sittlichen sowie um die wirtschaftlichen Vorteile der Arbeiterbewegung gekommen. In der Teilnahme an der Ver­waltung der Krankenkassen wäre nun wenn auch nur in winzigem Maße die Möglichkeit einer sozialen Betätigung für sie gegeben. Damit hätte ihr Leben ein Stück höheren Inhalt erhalten, und es würde auch zweifellos ihr Selbst. bewußtsein geweckt haben, wenn die Leitung und Regelung ihrer Angelegenheit ihnen selbst überlassen wäre.

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Die Ausübung der Selbstverwaltung bedeutet für die Versicherten aber auch gleichzeitig ein Stück Macht, indem sie damit die Möglichkeit erlangen, durch Statutenänderungen die Leistungen der Kasse zu erhöhen und so die Kranken, Wöchnerinnen- und Schwangerenfürsorge für die Mitglieder und ihre Familien erweitern und verbessern zu können. Bei auf merksamer Durchsicht des Entwurfes und seiner Begründung kommt man zu der Überzeugung, daß just um deswillen die Regierung die genannten Arbeiterkategorien von der Selbst verwaltung ausschließt. Soweit die Dienstboten in Frage kom men, ist es in den Motiven ausdrücklich betont worden. heißt wörtlich:

,, Endlich beugt der Entwurf den Unzuträglichkeiten, die hier und da aus der gemeinsamen Teilnahme von Herrschaft und Ge sinde an der Rassenverwaltung besorgt werden, dadurch vor, daß er die überweisung der Dienstboten an die von ihm geplanten Landkrankenkassen als Regel vorsieht."

Das Obligatorium der Versicherung wird durchbrochen, in­dem die§§ 205 und 503 für die Landarbeiter und-arbeiterinnen bestimmen, daß auf Antrag des Arbeitgebers die Befreiung von der Versicherungspflicht erfolgen kann, sofern die Arbeits­fähigkeit dauernd beschränkt ist, oder sofern die Versicherten bei Erkrankungen einen Rechtsanspruch auf gleiche Leistungen, wie sie die Kasse gewährt, an ihren Arbeitgeber haben.

Für die Dienstboten bestimmen die§§ 528 und 529, daß die Landesregierung sie von der Versicherungspflicht befreien kann,