Nr. 19

Die Gleichheit

Delegierten im Saale. Um das Verhalten des Kongresses und seiner Leitung richtig zu werten, darf man eins nicht vergessen. Es gelangten mehr als ein Bäckerdugend Resolutionen zur Annahme, in welchen die Frauenrechtlerinnen aller möglichen Herrgottsvaterländer zu den errungenen Erfolgen feierlich be­glückwünscht wurden. Niemand wird aber bestreiten, daß das Streben nach der politischen Emanzipation des weiblichen Ge­schlechts durch den Kampf der Suffragettes in England mehr gefördert worden ist, als etwa durch die welterschütternde Be gebenheit, daß ein neuer Staatsminister in Island sich als Freund des Frauenwahlrechts bekannt hat.

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Kein Zweifel: das widerspruchsvolle Verhalten der inter­nationalen Frauenrechtlerinnen zu den Suffragettes spiegelt in der Hauptsache den Gegensatz der Suffragists zu diesem wieder. Aber was liegt auf dem Grunde dieses Gegensatzes selbst, der so widerspruchsvoll erscheint? Das ist die Frage! Die Frauen­rechtlerinnen drücken sich um ihre Beantwortung zum Teil un­ehrlich, zum Teil hilflos herum. Und das begreift sich. Sie können den treibenden Kräften des Konflikts zwischen den eng­lischen Schwestern" nicht nachspüren, können sie nicht bloß­legen, ohne daß die schillernde Seifenblase des frauenrechtle rischen Lieblingsdogmas plagt, die Frauenbewegung an und für sich und als solche" stünde über der Parteipolitik" und bliebe ihrem Einfluß entzogen. Es ist nicht die Verschiedenheit des Biels, welche Suffragists und Suffragettes trennt. Die feind­lichen Schwestern sind ein Herz und eine Seele in der Forde­rung des Damenwahlrechts allein. Die klügsten Führerinnen der Gemäßigten" sind auch viel zu erfahrene Realpolitikerinnen, um aus frautantenhaftem Gruseln heraus den Radikalen" auf die Dauer ernstlich darob zu grollen, daß ihre Taktik manchem braven Bürger etwas shocking" dünfen mag. Diese Taktik hat die Feuerprobe der Praxis bestanden, und gerade in England ist die Theorie nichts, die Erfahrung alles". Geht man den Dingen auf den Grund, so enthüllt sich der Gegen­satz zwischen Suffragettes und Suffragists als der Gegensatz zwischen den Konservativen und den Liberalen. Parteipolitik ist seine stärkste Wurzel.

Es ist in England offenes Geheimnis, daß vor allem kon­servative Kreise es sind, welche den Suffragettes die riesigen Geldmittel für die Praxis ihrer revolutionären" Kampfes methoden liefern. Nur Tollhäusler aber können vermuten, daß die Konservativen aus Begeisterung für die schönen Augen der Damen und die schönen Augen des Prinzips der Gleichberech­tigung der Geschlechter in die tiesen Taschen fassen. Ihre Opfer freudigkeit" wirft mit der Wurst nach der Speckseite, sie will Parteiinteressen fördern. Der Kampf für das Frauenwahlrecht, wie die Suffragettes ihn führen, stärkt zunächst und voraus­sichtlich in Zukunft noch mehr die parlamentarische Macht der Konservativen. Und sollte er zum Ziel kommen, so würde die Einführung des geforderten Frauenwahlrechts mit seinen Be­schränkungen und seiner Häufung von Pluralstimmen ebenfalls am meisten dieser Partei frommen. Jedoch, was dem einen eine Nachtigall, ist dem anderen eine Eule. Die Agitation der Suffragettes schwächt die Position der Liberalen und vermehrt die Schwierigkeiten ihrer Regierung in dem Augenblick, wo diese von rechts und links her ins Gedränge kommt, wo sie sich zwischen Imperialismus, Defizit, Sozialreform um nur einiges zu nennen durchkämpfen soll. Mehr als ein Wahl­freis ist bei Nachwahlen dank dem frauenrechtlerischen Ein­greifen von den Liberalen an die Konservativen übergegangen.

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Doch von der augenblicklichen Lage abgesehen, schafft die Frage des beschränkten Frauenwahlrechts selbst für die Liberalen erhebliche Schwierigkeiten. Sicherlich: ein Teil von ihnen würde in gut kapitalistischer Gesinnung der Forderung gern zustimmen. Der Flügel der Radikalen" dagegen besteht aus mehr oder minder überzeugten Verfechtern des alten demokratischen Prin zips. Er lehnt das beschränkte Frauenwahlrecht als eine Maß regel ab, die nur der Reaktion nüßen würde, er heischt das allgemeine Wahlrecht aller Großjährigen. Und wie manche Liberalen fich für das Frauenwahlrecht überhaupt verpflichtet haben, ohne Frage nach dec Art, so sind wieder andere aus

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Rücksicht auf ihre proletarische Gefolgschaft gezwungen, für eine wirklich demokratische Reform des Wahlrechts einzutreten. Man übersehe bei der Wertung dieses Umstandes nicht, daß die Ge­werkschaften sich auf den Generalversammlungen der einzelnen Unions wie auf ihren allgemeinen Jahreskongressen wieder und wieder mit aller Schärfe gegen das beschränkte Frauen­wahlrecht erklärt haben. So steht der Liberalismus dieser Forderung nicht einig und geschlossen gegenüber, und seine Rechte fann in der Sache nicht die Hand der Konservativen drücken, ohne daß ihm seine Linke dafür kräftig auf die Finger schlägt. Trotz alledem heißt es aber Farbe bekennen. Die stürmische Agitation der Suffragettes hat das Banner des beschränkten Frauenwahlrechts vor der breitesten Öffentlichkeit entfaltet. So ist es doppelt unmöglich, daß die politische Emanzipation des weiblichen Besitzes in idyllischer Stille vor sich gehen könnte. Die Forderung lenkt die Aufmerksamkeit der Habenichtse ohne Unterschied des Geschlechts auf die Notwendigkeit einer wirklich demokratischen Wahlrechtsreform, die ihnen volles Bürgerrecht sichern würde. Noch ist es nur ein leichtes Kräuseln, das die Oberfläche ihrer Massen bewegt, aber es muß zum unwidersteh lichen Wogendrang einer Volksbewegung großen Stils für das allgemeine Wahlrecht aller Großjährigen anwachsen, wenn die Sozialisten die Gunst der Stunde nützen. Rechts die Szylla des beschränkten Frauenwahlrechts, der wachsenden Macht der Konservativen, links die Charybdis des allgemeinen Wahlrechts, steigender politischer Reife, Unabhängigkeit und Kraft des Proletariats: das ist die Zukunft, welche das Aufrollen der Wahlrechtsfrage durch die Suffragettes dem englischen Libe­ralismus zeigt. Aus diesen Zusammenhängen heraus be greift sich das Verhalten der Liberalen und der Suffragists zu der Agitation der Suffragettes. Die maßgebenden Führe­rinnen der frauenrechtlerischen Gemäßigten" sind Bein vom Bein und Fleisch vom Fleisch des Liberalismus. Nicht die fünstlich ausgeheckten Geseze einer Nichts- als- Frauenbewegung bestimmen ihre Haltung in der Wahlrechtsfrage, ihre Richt­schnur ist das Interesse der liberalen Partei. Auch als Kämpfe­rinnen für das Frauenrecht handeln sie vor allem als Partei­politikerinnen.

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Eines hervorstechenden Charakterzuges des frauenrechtle rischen Kongresses muß noch gedacht werden. Seines widerlichen Byzantinismus. Die ersten Vorfämpferinnen der modernen Frauenbewegung standen im Lager der Revolution und halfen Throne stürzen. Ihre Nachfahren dienerten in London fromm vor dem Wochenbett der nämlichen Königin von Hol land, die ihnen voriges Jahr in Amsterdam die kühlste Nicht­achtung bewiesen hat. Aber freilich! Wie fürstlich und doch echt volkstümlich hatte die hohe Frau das wett gemacht. Sie geruhte allergnädigst, während der Kongreßwoche niederzu­kommen. Welch ehrende Demonstration für die Schwestern schaft" aller Frauen, welch wirksame Förderung der Sache des Frauenstimmrechts! Die tagenden Frauenrechtlerinnen haben solch königliche Huld nicht gebührend gewürdigt. Sie hätten den Säugling von Gottes Gnaden" zur Ehrenpräsidentin des " Weltbundes" ernennen müssen. Es wäre dies das treffendste Symbol des Geistes gewesen, der ihn beherrscht.

Der fam unverfälscht noch in einer anderen Episode zum Ausdruck. Frau Wicksell , eine Schwedin, wurde als Vor­standsmitglied des" Weltbundes" vorgeschlagen. Sie erklärte sich bereit, für sich und ihr Land diese Ehre anzunehmen", wenn die Delegierten feinen Stein des Anstoßes darin erblickten, daß sie mit ihrem Manne seit zwanzig Jahren in freier Ehe lebe. Eine zwanzigjährige Ehe ohne gesetzlichen Zwang, aus freiem sittlichem Wollen, kurz eine Ehe, die unmöglich der Schmutz der Seele zu zweien" sein konnte! Mußte nicht ein Strom warmer Sympathie der tapferen Frau zufluten, in deren per­sönlichstem Lebensschicksal die Zukunftshoffnungen auf eine be­freite, gereinigte Liebe aufleuchten? Durfte der denkfaule, vor­urteilsvolle Glaube an die sittlich tragende Kraft leerer Formeln dieser Ehe die Achtung versagen, ohne daß er in die Schranken ge­wiesen wurde? Auf diesem Kongreß freier Frauen" durfte er es.. Die getränkte Sittlichkeit einer südafrikanischen Delegierten