Nr. 21
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Die Gleichheit
Etwas höher stehen die drei Arbeiterinnenheime, die in Berlin vorhanden sind, und von denen freilich nur eines den Mädchen auch Schlafplätze bietet. Sie sind nicht Anhängsel irgend eines fapitalistischen Betriebs, nehmen vielmehr- soweit der Platz reicht- Arbeiterinnen jeder Art auf. Sie werden nicht von„ frommen" Schwestern geleitet, sondern direkt oder indirekt von Anhängerinnen der bürgerlichen Frauenbewegung, die der Anschauung sind, daß durch die Wohltätigkeit" der Besitzenden die elende Lage der besitlosen Klassen gebessert werden soll. Wohltätigkeit verpflichtet außerdem die Empfangenden, und da die bürgerlichen Wohltäter und Wohltäterinnen nicht wissen oder nicht wissen wollen, daß sie die Mittel zur Betätigung ihrer sozialen Gesinnung" nur unbezahlter Arbeit, also der Ausbeutung frondender Habenichtse verdanken, so hoffen sie, daß ihre Fürsorge" in den Bedachten eine gut bürgerliche Auffassung der Gesellschaftsverhältnisse lebendig erhalten, das Bewußtsein der Klassengegensätze verdunkeln, den Klassenkampf überwinden werde. So liegt auch den Berliner Anstalten nicht die„ reine Selbstlosigkeit" zugrunde, sondern bürgerliches Klaffen interesse, das allerdings mittels Zuckerbrots und nicht mittels der Peitsche sich durchsetzen will.
Es entspricht der Art dieser Heime, daß in ihnen die persönliche Freiheit der Arbeiterinnen nicht in der Weise eingeschränkt wird, wie wir das für die Anstalten verzeichnen mußten, welche von Fabrikanten oder Organisationen gegründet wurden, in denen diese entscheidend sind. Eines der drei Berliner Heime kommt auch dem sehnlichen Wunsche vieler einsam dastehenden Arbeiterinnen entgegen, allein in einem Stübchen hausen zu fönnen: es bietet entsprechende Wohngelegenheit. Die Zimmer der Anstalt sind übrigens alle gleich hell und freundlich, auch ihr Preis ist der gleiche. Sie kosten mit einem Bett 12, mit zwei Betten 10, mit drei Betten 9 Mr. monatlich pro Person, und zwar das erste Frühstück inbegriffen. Die Zahl der Betten ist aber sehr klein, die Zimmer sind daher immer besetzt, so daß nur wenige Arbeiterinnen in der Anstalt Unterkunft finden fönnen. Der steigenden Nachfrage entsprechend, soll das Heim vergrößert werden. Gesetzt, das geschieht, so kann es doch trotz. dem für die Fabritarbeiterinnen kaum in Betracht kommen. So billig Wohn- und Schlafgelegenheiten sind, für die schlecht entlohnten Arbeiterinnen sind sie noch zu teuer. Soweit man nach einem Besuch urteilen kann, wird das Heim nur von beffer bezahlten weiblichen Erwerbstätigen bewohnt, wahrschein lich aus dem Handelsgewerbe usw.
Wenn Berliner Textilarbeiterinnen nicht bei den Eltern wohnen können, so sind sie im allgemeinen auf die Schlafstellen angewiesen und lernen hier das proletarische Wohnungselend in seiner ganzen Ausdehnung kennen. Sie haben wohl einen Platz zum Schlafen, aber nicht zum Wohnen; die Wohnung, die sie teilen, ist meist für die Familie zu klein, bei der sie Unterkunft gefunden haben, so daß ihre Anwesenheit darin als Last empfunden wird. Trotz aller Unannehmlichkeiten und Gefahren des Schlafstellenwesens sind 50000 Berliner Arbeiterinnen nur Schlafgängerinnen. Die erwähnten drei Berliner Heime suchen auch diesen Bedauernswerten etwas zu bieten. Sie sind abends von 6 bis 10 Uhr geöffnet, so daß sie von jungen Mädchen frequentiert werden können, die in der Wohnung ihrer Schlaf wirte sich nicht aufhalten können oder mögen. Den Besuche rinnen stehen Zeitungen, Bibliothek und sogar Nähmaschinen zur Verfügung. So ist Arbeiterinnen Gelegenheit geboten, sich die paar Stunden zwischen dem Verlassen der lärmenden Fabrit säle und dem Aufsuchen der elenden Schlafstelle in freundlichen Räumen aufzuhalten und die Zeit angenehm und nützlich zu verbringen. Aber wie winzig ist die Zahl der ledigen Prole tarierinnen, welche die Heime aufnehmen können, und was wird den anderen Zehntausenden geboten?
Die Berliner Anstalten geben auch Mittag- und Abendtisch zu mäßigen Preisen. Die Frauenrundschau" des„ Berliner Tageblattes" berichtete vor einiger Zeit, daß 1907 in den drei Heimen 86343 Personen Mittagessen und 22330 Personen Abendessen eingenommen haben. Wie bei den gegenwärtigen Lebensmittelpreisen Quantität und Qualität der Speisen sein
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müssen, wenn der Preis der Mahlzeit sich auf 30 Pf. stellt, kann sich jeder denken. Die Vorstandsdamen, die gesättigt von guten Gerichten oder in Erwartung einer ordentlichen Mahlzeit die Speisen der Heimküchen kosten, werden den Tisch daselbst zweifellos gut finden. Aber es ist wohl ein Unterschied, ob man eine Kostprobe nimmt, oder ob man die durch die Arbeit verbrauchten Körperkräfte durch eine Mahlzeit erneuern muß. Wie dem jedoch auch sei: die Massenspeisung in den Heimen ist jeden. falls der sonst unter Arbeiterinnen üblichen trockenen falten Kost noch vorzuziehen. Die„ Rundschau" bedauerte, daß nicht die erforderlichen großen Mittel zur Verfügung stehen, damit wie in Heim III auch in den beiden anderen Anstalten Schlafgelegenheit für die Arbeiterinnen geschaffen werden kann. Sie möchte, daß die Unternehmer den Heimen bestimmte Zuschüsse leisten, und begründet diesen ihren Wunsch damit, daß die Industriellen doch mittelbar den größten Nutzen von den Wohlfahrtseinrichtungen haben würden, die ihren Arbeiterinnen ein gesundes Wohnen ermöglichten. Sie verweist darauf, daß die Stadt Berlin den Heimen jährlich 2000 Mr. Zuschuß gewähre. Die Unternehmer erkennen jedoch viel besser als die Verfasserin der„ Rundschau", daß in Berlin derartige Anstalten unrentabel sind, darum lassen sie die Hände davon. Sie wissen sehr wohl, daß die Heime nur dort existenzfähig sind, wo wie dies meist der Fall ist für die Arbeiterinnen der Zwang zum Wohnen in ihnen besteht. Hebt eine Fabrikleitung diesen Zwang auf, so steht auch das Heim' bald wieder leer, wie das die Augsburger Kammgarnspinnerei erfahren hat. Sie war gezwungen, die betreffende Vorschrift fallen zu lassen, weil sie keine jugendlichen Arbeiterinnen mehr bekam, die sich ihr fügen wollten.
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Die Arbeiterinnenheime, so wie sie jetzt bestehen, ganz gleich, ob sie von bürgerlichen Frauenrechtlerinnen oder von frommen Schwestern geleitet und verwaltet werden, sind im allgemeinen wie alle anderen Wohlfahrtseinrichtungen der herrschenden Klassen zu bewerten, genau in ihres Wesens Kern zu prüfen und in ihrer Wirksamkeit der schärfften Kritik zu unterziehen. Mittelbar oder unmittelbar steht das Interesse der ausbeutenden Minderheit für sie in dem Vordergrund, wollen sie die Ausge beuteten mit der heutigen Gesellschaftsordnung der Auspowerung und Unterdrückung der Menschen durch den Menschen aus söhnen und als geduldige Bins- und Tributpflichtige der Be sitzenden erhalten. Wo die Heime aber gar als Anhängsel von Fabrikbetrieben auftreten oder auch als Unternehmungen fapitalistischer Organisationen, sind sie rücksichtslos zu bekämpfen. Sie sind dann nichts als brutale Werkzeuge der kapitalistischen Ausbeutung des weiblichen Proletariats. Besonders scharfen Kampf müssen natürlich solche Heime herausfordern, die noch über das übliche Maß der Ausbentung hinaus den Arbeite rinnen das freie Selbstbestimmungsrecht rauben und sie zu Hörigen des Kapitals erniedrigen.
In vielen Heimen wie auch in sogenannten Arbeiterwohnungen laffen die Unternehmer die dort kasernierten Arbeitssklaven durch ihre Aufseher ständig kontrollieren. Sie erhalten berichtet, wer da aus- und eingeht. Läßt sich ein Beamter oder Beauftragter der Gewerkschaft in den Privatstraßen solcher Fabrikviertel sehen, so machen die Unternehmer von ihrem Hausrecht Gebrauch und weisen den Verwegenen von ihrem Grund und Boden. Die Privatstraße der Jutespinnerei in Delmenhorst zum Beispiel ist durch ein Gitter abgeschlossen, und mittels einer Warnungstafel hat die Fabrikleitung fundgegeben, daß sie sich das Recht vorbehält, allen ihr nicht genehmen Per sonen das Betreten der in ihrem Eigentum stehenden Straße zu verbieten. Ein Beamter des Textilarbeiterverbandes, der dieses Verbot nicht respektierte, wurde dieserhalb des Hausfriedensbruchs angeklagt und für schuldig befunden. Das Ge richt begründete seine Entscheidung damit, daß die Bewohner der Straße sich der Anordnung der Fabrikleitung dadurch unterworfen hätten, daß sie die Wohnungen mieteten, die der Fabrit gehören und an der Straße gelegen find. Mit diesem Spruch hat ein oldenburgischer Richter festgestellt, daß die Fabrikwohnungen sowohl wie die Arbeiterinnenheime sich nur wenig