326 Die Gleichheit Nr.2l von Gesängnissen unterscheiden. Auch einem Gefängnisdirektor steht das Recht zu. Besuche von den Gefangenen fernzuhalten. Für uns freilich bedurfte es nicht erst dieser Feststellung, um über die Natur der Arbeiter- und Arbeiterinnenkasernen ins klare zu kommen. Wir wissen längst, daß Arbeiterwohnungen, die den Großindustriellen gehören, sich von den Staatspensionen nur durch den Namen unterscheiden. Wir wissen auch längst, daß Arbciterinnenheime, Arbeiterwohnungen, Krippen und wie der Wohlfartsschwindel noch heißen möge, nichts weiter sind als eine Kette, die die Arbeiterschaft an den Betrieb fesseln und ihre Kampfeslust und Kampfestüchtigkeit knebeln soll. Damit wird dem Unternehnier die Möglichkeit gegeben,seine" Arbeiterinnen und Arbeiter nach Willkür auszubeuten. In welchem Maße das dann geschieht, beweist ein Umstand: gerade dort, wo die Wohlfahrtsplage am meisten grassiert, herrschen die erbärmlichsten Löhne und längsten Arbeitszeiten vor. Die Wohlfahrt der Unternehmer gedeiht also prächtig bei dem System. Allmählich lernen die Arbeiterinnen einsehen, daß die kapita« listischen Wohlfahrtseinrichtungen Ruten sind, mit denen sie gezüchtigt werden. Sie beginnen sich gegen den Zwang ihrer Beglückung aufzulehnen. Nicht beivußt, sondern instinktiv noch empfinden die meisten, wie schwer sie unter dem Schein der Fürsorge geschädigt werden. Erfreulicherweise haben unter der großen Masse der Gleichgültigen schon einzelne den Mut gefunden, offen hervorzutreten, Klagen zu erheben, Kritik zu üben und fiir den Organisationsgedanken mit der Kraft der Überzeugung einzutreten. Das aber gerade in solchen Bezirken, wo die Haus- ordnungen der Heime jede freie Betätigung beinahe unmöglich machen. Diese Bahnbrecherinnen für die gewerkschaftliche Or- ganisierung ihrer Arbeitsschwestern sehen ein, daß bessere Löhne und kürzere Arbeitszeit die Mittel sind, das Selbstbewußtsein der Ausgebeuteten zu heben, und daß zum Selbstbewußtsein erwachte Menschen alles, was nur den Schein der Wohltätig- keit trägt, als Demütigung empfinden. Die Unterwürfigkeit des Denkens und Schmiegens, wie sie die Hausordnungen der Heime großpäppeln wollen, erniedrigt die Arbeiterin zur Sklavin. Zum freien Menschen wird sie durch das Zusammenarbeiten mit allen denen erhoben, die mittels der Organisation den Kampf gegen das ausbeutende Kapital aufgenommen haben. Je größer die Zahl der Arbeiterinnen wird, die sich in der Organisation zusammenfinden, um so eher wird auch die Möglichkeit geschassen, die Heime so umzugestalten, daß die persönliche Freiheit der Mädchen nicht mehr von den Unternehmern und ihren Helfers« Helfern beschränkt werden darf. Die Arbeiterinnen haben mehr als genug Grund, alle In« stitute, die jetzt unter dem Namen Arbeiterinnenheime para« dieren, dem Unternehmertum und seinen frommen oder nicht- frommen Helferinnen zu überlassen. Ihre Kraft müssen sie zusammenfassen, um mit Hilfe der Organisation ihre Wirtschaft« liche Lage so weit zu bessern, daß sie sich ein Heim schaffen können, das ihre geistige und sittliche Energie stärkt, ihrer Klasse und damit sich selbst eine Welt zu erobern. Billiges Brot! Der polittsch wenig aufgeklärten Proletarierin erscheinen Bäcker, Fleischer und Krämer als ihre schlimmsten Feinde. Ihnen glaubt sie es zuschreiben zu müssen, daß die notwendig« sten Lebensmittel teurer werden, daß sie und die Ihrigen den Hungerriemen immer fester schnallen müssen. Sie findet daher nicht genug Anklagen für die Schlimmen. Sie bedenkt aber nicht, daß hinter ihnen andere Leute stehen, welche die eigent­lichen Urheber der Teuerungspreise und damit der proletarischen Leiden sind. Das kann ihr klar werden, wenn sie ihre Scheu vor der Politik überwindet und ihr Augenmerk auf die Bor- gänge richtet, die sich gerade jetzt im deutschen Reichstag ab- spielen. Hier tobt ein erbitterter Kamps. Seit Monaten wehrt sich die Sozialdemokratie, die Vertreterin der arbeitenden Massen, gegen die Millionenlasten, die in der Form von indirekten Steuern die besitzenden Klaffen dem Volle aufbürden wollen. Die ganze Volksfeindlichkeit der Regierung und der Reichs- tagsmehrheit kam besonders stark zum Ausdruck, als die Sozial- demokratie die Aufhebung der Getreidezölle und die Beseiti- gung der Einfuhrscheine forderte, um dadurch das Brot zu ver- billigen. Dank diesen Zöllen und Ausfuhrprämien hat Deutsch  « land tatsächlich höhere Getreidepreise als andere Länder. Und dies in einer Zeit, in der eine furchtbare wirtschaftliche Krise wütet, mehr als eine Million Arbeitsloser das Land überflutet, die Löhne sinken und die Not ständig wächst. Wie hoch die Getreidepreise sind, erhellt daraus, daß noch im Jahre 1894 der nichts weniger als bescheidene Graf Kanitz in einem An- trag forderte, der Reichstag   solle den Preis des Doppelzentners Weizen auf 215 Mk., den des Roggens auf 165 Mk. festsetzen. Jetzt aber kostet Weizen 291 Mk. und Roggen 190 bis 192 Mark. Dabei verbürgt nichts, daß die Preise nicht noch mehr steigen. Die Landwirte suchen nach gewohnter Art die Schuld an den hohen Getreidepreisen auf die Händler zu wälzen, doch ist das vergebene Liebesmühe. Denn es steht fest, daß sowohl im Jahre 1907 wie 1908 in den Monaten September bis De- zember die Gctreidepreise höher waren als die Jahresdurch- schnittspreise, und gerade in dieser Zeit verkauften nicht die Händler, sondern die Landwirte das Getreide. Die Junker begnügen sich aber nicht damit, durch die Getreidezölle den Preis des einheimischen Getreides zu steigern, das System der Einfuhrscheine schafft ihnen noch darüber hinaus einen Extra- prosit. Daß durch die wahnwitzige Ausfuhr deutschen Getreides ins Ausland künstliche Hungersnot geschaffen wird, mußte selbst die ultramontaneKölnische Volkszeitung" zugeben. Als im Jahr 1902 das Zolltarifgesetz verabschiedet wurde, hielt es das Zentrum für angebracht, sich als Wohltäter der Witwen und Waisen aufzuspielen. Es forderte damals, daß die Überschüsse über den vorgesehenen Ertrag der Getreidezölle den Witwen und Waisen zugute kommen sollten. Mit andern Worten: den Witwen und Waisen, die durch die künstliche Verteuerung des Brotes geschaffen wurden, wollte man wenig- stens einen Bettelpfennig reichen. Was ist aber in Wirklichkeit aus dieser Verheißung geworden? Das schamlose System der Einsuhrscheine, das den Agrariern zugute kommt, verschlingt die Überschüsse, die Zentrümler und andere Volksbetrüger vor den Augen der Massen gaukeln ließen. Die Witwen und Waisen haben das Nachsehen. Von dem Ertrag der Zölle im Jahre 1907 wurden 49749000 Mk. durch Einfuhrscheine beglichen, 1908 sogar 90706000 Mk., und in den ersten fünf Monaten dieses Jahres beläuft sich die Summe, die das Reich dank den Einfuhrscheinen den Agrariern blechen mußte, auf 42875000 Mk. gegen 28500000 Mk. in dem gleichen Zeitraum des Vorjahres. Kurz, der Weizen der Agrarier blüht, während das Volk darbt. Vergebens wiesen angesichts dieser Lage die sozialdemokra- tischen Abgeordneten Molkenbuhr und Südekum auf die Ge- fahren hin, die die steigenden Brotpreise dem Lande bringen, auf den engen Zusammenhang zwischen Teuerungspreisen für Brot und sozialem Elend jeder Art: Schädigung der Gesund- heit und Arbeitstüchtigkeit, Ausbreitung der Epidemien, stei- gende Kindersterblichkeit, Zunahme der Prostitution, der Be- trügereien, Diebstähle usw. Die satten Herren von der Rechten hatten für die sozialdemokratische Forderung nur ein höhnisches Lachen. Das Zentrum hoffte augenscheinlich auf schwaches Gedächtnis seiner Arbeiterwähler. Es ließ die heuchlerisch« Maske der Arbeiterfreundlichkeit fallen und leugnete den Schaden, der dem Volke aus der agrarischen Wucherpolitik erwächst, be- stritt die herrschende Not: ja, mehr noch, von den Lippen eines Zentrumsmannes, des Dr. Heim, fielen die Worte: Dr. Südekum(Sozialdemokrat) sagt: Das Volk hat zunächst das Recht, zu essen, ich sage: Das Volk hat zunächst das Recht, zu arbeiten." In diesem Ausspruch zeigt sich die Zentrumspartei   feigenblattlos als Vorkämpferin für das Vorrecht, für die Herrschaftsstellung des Besitzes. Die werk- tätigen Massen dürfen nach seiner Auffassung nur leben, um zu arbeiten, und zwar um für fremden Reichtum zu arbeiten. Diese Lektion, die das Zentrum seinen Wählern aus der Ar- beiterklasse erteilt, wird hoffentlich ihre Wirkung nicht verfehlen.