346 Die Gleichheit Nr. 22 steuer an sich den Konservativm war, im letzten Grunde haben sie sich so heftig gegen sie gestemmt, weil sie den preußischen Minister- Präsidenten stürzen wollten, der eine Wahlreform in Preußen ver- sprachen hatte. Einen ernsthaften Kampf um die Macht wollten aber Kanzler und Liberale gegen die Junker nicht aufnehmen, weil sie fürchten, daß daZ Proletariat, daß die Sozialdemokratie auZ solchen Kämpfen Vorteil ziehen wird. Die gemeinsame Gefahr des „roten Umsturzes" führte jedoch nicht eine Sammlung der bürger- lichen Parteien auf der mittleren Linie herbei, wie Bülow sie zag- Haft mit starkem Abweichen nach rechts gesucht hat. Sie steigerte vielmehr die Macht der Junker und machte die Parteien des Bürger- tum? zu ihrem Schwanz, zu demütigen Schutzgenossen. Daran ändert auch die augenblickliche zornwütige Stimmung der Liberalen nichts; sie werden bald wieder bei den Junkern und ihrer Regie- rung unterkriechen. Denn das Experiment Bülow hat gezeigt, daß eine Regierung der mittleren Linie nicht mehr möglich ist. Eine wirklich liberale Regierung aber ist noch weit mehr ausgeschlossen, denn die Liberalen mit Einschluß der Freisinnigen wagen nicht, rücksichtslos gegen die Konservativen um die Macht zu kämpfen. Sie könnten in diesem Kampfe ja nur siegen, wenn sie die Unter- stützung der Arbeiterklasse hätten. Und die entschieden liberale Politik, die sie dann treiben müßten, damit die Sozialdemokratie ein Stück Wegs mit ihnen zusammengehen könnte, die fürchten dies« famosen Liberalen mehr als die Herrschaft der Junker. So bleibt die konservative, offen reaktionäre Regierung die einzig mögliche. Für das Proletariat bedeutet das verschärften Kampf. Es wird um jeden Schritt vorwärts auf der Bahn zu seiner Befreiung gegen zähe und skrupellose Feinde schwer zu ringen haben. Aber die Ausschreitungen der Reaktion: die volksausplündernde Zoll- und Steuerpolitik, die Versuche, die Wahlreform in Preußen zu ver- hindern, und andere Tücken noch, werden auch neue Kräfte in der Arbeiterklasse wecken, Scharen neuer Kämpfer erstehen lassen.— Für die besonderen Arbeiterinteressen, für die Sozialreform fleht es zunächst sehr düster aus. Nachfolger Bethmann-Hollwegs im Staatssekretariat des Innern ist der bisherige preußische Handels- minister Delbrück geworden. Man weiß von diesem Manne, daß er den Arbeiterschutz nur so weit für berechtigt hält, wie ihn die Unternehmer erlauben, und daß er jede selbständige Betätigung der Arbeiter für eine sehr gefährliche Sache ansteht, kurz, daß seine ganze Gedankenwelt die der großindustriellen Scharfmacher ist. Und dieser Mann, der würdig wäre, Generalsekretär des Zentral« Verbandes der Industriellen zu werden, ist der Staatssekretär für Sozialpolitik geworden! Im Gefolge des Kanzlerwechsels haben noch andere Ministerverschiebungeen stattgefunden. Der als Reichs- schatzsekretär unmöglich gewordene Sydow wurde zum preußischen Handelsminister ernannt und durch den Unterstaatssekretär Mermuth ersetzt; der kranke preußische Kultusminister Holle erhielt seine Ent- lassung, und der bisherige Oberpräsident von Trott zu Solz trat seine Nachfolge an. Diese Veränderungen interessieren die Arbeiter- klaffe weniger, doch kennzeichnet es die Situation, daß die preußische Volksschule wieder einem in der Wolle gefärbten Reaktionär auS« geliefert worden ist. Noch ehe die neuen Steuern in Kraft getreten sind, kommen schon die Vorboten der Verteuerungen, die sie bringen wer- den. Die Brauer, die Gastwirte, die Tabak-, die Zündhölzchen -, die Glühstrumps- und Glühbirnenfabrikanten rüsten zu Preis- erhöhungen, die die Steuerbeträge noch erheblich überschreiten und vor allem den Arbeiterhaushalt drückend belasten werden. Das Zentrum trägt daran die Hauptschuld und hat überdem die Versprechungen schmählich gebrochen, die es 1907 seinen Wählern in der Steuersrage gemacht hat. Mit Besorgnis sieht es deshalb, wie es in der katholischen Arbeiterschaft gärt, und schickt sich zu einem besonderen Lügenfeldzug an, in dem die katholischen Ar- beitersekretäre den gläubigen Proletariern beweisen sollen, daß daS Zentrum nicht anders handeln konnte. Die Sozialdemokratie muß diesen Augenblick ausnützen und die verlogene Mache der Schwarzen durchkreuzen. Was die Zentrumspolitiker 1907 ver- sprachen, was insbesondere die christlichen„Arbeitervertteter" zur Steuersrage sagten, und was die christlichen Arbeiterorganisationen von der Reichsfinanzresorm forderten: das steht in so krassem Gegen- satze zu den Taten des Zentrums, daß eine wahrheitsgemäße Auf- klärung ihren Eindruck nicht verfehlen kann. Die erste Quittung für sein Verhalten hat das Zentrum schon bei der Reichstags- ersatzw ahl im pfälzischen Wahlkreis Neustadt-Landau erhallen, wo eS 1600 Stimmen verlor, während die Sozialdemokratie 2000 gewann. Di« Nationalliberalen und die Landbündler verloren 6600 Stimmen— obgleich die Nationalliberalen sich als Oppo- sitionspartei gaben, die an der Sleuerbescherung nicht schuld seien. Di» Wähler haben nicht vergessen, daß die Nationalliberalen bereit waren, 400 Millionen indirekter Steuern zu bewilligen, und daß ihre schließliche Opposition für die Katz war. Die National- liberalen müssen in der Stichwahl das Mandat gegen die Sozial- demokratie verteidigen. Die bayerische Regierung hat die Beschwerde des Lamb- rechter Gemeinderats wegen der Nichtbestätigung des Bür- germeisters und des zweiten Adjunkten mit der Bestätigung des letzteren und der Billigung der Nichtbestätigung des Bürger- Meisters beantwortet. Und zwar weil dieser als Gastwirt von der Sozialdemokratie abhängig sei, so daß die Gewähr für Pflicht- gemäße Handhabung der Polizeigewalt fehle. Da nur die Ab- hängigkeit von der Sozialdemokratie, nicht die von anderen Parteien als Hindernis für die Bestätigung bezeichnet wird, so ändert dies salomonische Urteil nichts daran, daß auch in Bayern von staats- bürgerlicher Gleichberechtigung der Sozialdemokratie nicht die Rede ist. H. B, Gewerkschaftliche Rundschau« Nur eine Gruppe von Gewerkschaftsorganisationen kann sich rühmen, trotz deS letzten Krisenjahres eine Mitgliederzunahme er- fahren zu haben: die„Gelben". Dort, wo das Sumpfgewächs dieser Art von Gewerkschaften gleichsam in Reinkultur, in Treib- haushitze gezüchtet wird, nämlich im Augsburger Werk, sollen von 3300 Beschäftigten 2646 als„Stütze der Herren im Hause" organi- sierl sein. Es heißt weiter, daß in sämtlichen Betrieben Augsburgs von 13600 Arbeitern 6900 in gelben Gewerkschaften stecken. Im ganzen Reich soll die Zahl der„gelb" Organisierten beinahe 80000 betragen. Diese Ziffer— trotz der relativen Jugend der gelben Bewegung— wird niemand verblüffen, der verfolgt, wie es ge< macht wird, damit sich die Vereine der„gutgesinnten" staatsnütz« lichen Arbeitswilligen füllen. Wie groß ist nicht die sittliche Ent- rüstung aller Nutznießer und Schützer der kapitalistischen Aus- beutungswirtschaft ob des angeblichen„sozialdemokratischen Ter- rorismus" der politisch und gewertschaftlich organisierten Proletarier und Proletarierinnen! Wer aber von diesen empfindsamen, freiheits- begeisterten Herrschaften redet auch nur still und bescheiden von dem„sanften Druck", den Unternehmer, städtische Behörden und andere Hochmögende auf„ihre" Arbeiter ausüben, um sie in die gelben Organisationen zu treiben? Besonders in kleineren Städten, wo sich die kommunalen Arbeiter oft aus Unfallrentnern oder sonst in der Erwerbsfähigkeit beschränkten Proletariern rekrutieren, ent- decken diese zwiefach Abhängigen auf„Anregung" der Vorgesetzten das dringende Bedürfnis, Mitglieder der gelben Organisation zu werden, um die Brotstelle zu behalten und„wohlgelitten" zu sein. Wir wissen, daß sogar Insassen von Armenhäusern und Stiftungen in Reih und Glied der Gelben getreten sind. Auch mancher voll- wertige Arbeiter läßt sich durch seinen gelben Vorgesetzten zur Mit- gliedschaft in der Organisation der Streikbrecher bestimmen. Er möchte dadurch materieller Schädigung vorbeugen. Wie leicht fügt eS nicht„der Zufall", daß ein unbelehrbarer, bockbeiniger Arbeiter bei Vergebung von Akkordarbeiten gerade die schlechteste Beschästtgung und damit den geringsten Verdienst erhält! Obgleich die Mitgliederzahl der„Gelben" somit keinem Kenner der Sache Bewunderung abringen kann, ruft sie doch ein Gefühl der Be- schämung ob der Zehntausende Proletarier wach, die zu Verrätern an den Interessen ihrer Brüder und Schwestern werden, zu Ver- rätern auch an dem eigenen Wohl und der eigenen Würde. In der Tat: Kann ei etwas Dümmeres, Niederträchtigeres für einen Proletarier geben, als dem Kampfe seiner Klasse für eine kultur- gemäße Existenz in den Arm zu fallen? Ist etwas menschlich, persönlich Erniedrigenderes zu denken, als daß Ausgebeutete sich aus serviler Gesinnung oder materieller Vorteile des Augenblicks willen zu Kettenhunden des Kapitalismus machen, die vor den Herren wedeln und nach den gewerkschaftlichen Kämpfern schnappen? Die denkenden Arbeiter und Arbeilerinnen müssen aber zu Kämpfenden werden und erheben sich als solche über die Enge und Niedrigkeit, über das Helotentum ihrer Lage und beweisen, daß ihnen ihr Menschentum teuer ist. Es gibt nur einen Gedanken, der die Schmach der„gelben" Fabrikgesangvereine, Pseifenklubs usw. weniger brennend empfinden läßt. Es ist die Gewißheit, daß der aus- beutende Kapitalismus seine Schutztruppe aus geistigen Sklaven nicht auf die Dauer halten kann. Seine Natur und seine Praktiken bringen auch sie früher oder später zur Erkenntnis ihrer Klassenlage und ihrer Klassenpflicht. Und diesen Prozeß des geistigen und sittlichen Erwachens gilt es durch unaufhörliche Agitation zu beschleunigen. Übrigens ist ein neues Gewächs auf dem gelben Sumpfboden emporgeschossen. Gelbe Verein» der Krankenkassenbeamten haben sich gebildet. So verschiedentlich in S ach sen, letzthin auch einer
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20 (2.8.1909) 22
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