Nr. 23
Die Gleichheit
Jutekapitalisten und Jutearbeiter.
Die Kapitalisten der Juteindustrie erleben glänzende Zeiten. Aus ihren Unternehmungen holen die Aktionäre goldene Früchte. Selbst die furchtbare Krise, unter welcher die gesamte Textilindustrie in den letzten Jahren seufzte, vermochte nicht die Rentabilität der Betriebe zu beeinträchtigen. Und die Direktoren der Gesellschaften sind keine Fanatiker. Sie bestehen nicht darauf, Herren im Hause zu sein. So sehr sie die Konkurrenz als eine wirksame Triebkraft der kapitalistischen Produktion anerkennen, so sehr sind sie doch mit Hilfe ihrer Organisation bestrebt, in bestimmten Grenzen die Konkurrenz des einzelnen auszuschalten. Sie üben Solidarität, unterwerfen sich willig den Beschlüssen ihrer Organisation und legen sich damit Beschränkungen auf, um ihren Unternehmen und sich selbst zu nüßen. Die Organis sation der Juteindustriellen arbeitet ausgezeichnet. Alle großen Betriebe, mit Ausnahme des in Landsberg a. W. befindlichen, gehören ihr an.„ Verband deutscher Juteindustrieller, G. m. b. H., Braunschweig " ist ihr Name. Den Vorsitz führt ein Braunschweiger Kommerzienrat. Neben den verschiedenen Sizungen des Aufsichtsrats findet allvierteljährlich im Hotel„ Continental" in Berlin eine Generalversammlung statt. Die„ Angelegenheiten unseres Arbeitgeberverbandes" bilden immer den ersten Punkt der Tagesordnung. Sodann werden all die verschiedenen Fragen eingehend besprochen, die den Einkauf des Rohstoffes, den Pro duktionsprozeß, den Verkauf der fertigen Ware usw. betreffen, entsprechende Beschlüsse werden gefaßt. Jedes einzelne Mitglied hat sich den Beschlüssen zu unterwerfen, bei deren Zustande tommen ein juristischer Beirat zur Seite steht. Die Form der Offerten und Verkäufe, Preise, sowie alle sonstigen beim Ver fauf von Garn und Geweben in Frage kommenden Bedingungen werden durch die Generalversammlungen festgesetzt. Besondere Spezialberichterstatter melden regelmäßig alles Wissenswerte über die Bewegungen auf dem Rohstoffmarkt. Das Duantum des Jahresproduktes der einzelnen Betriebe wird von der Vereini gung bestimmt. Jede technische Veränderung innerhalb eines Betriebs darf nur vorgenommen werden, wenn die General versammlung des Verbandes ihre Zustimmung gibt. So wollte zu Beginn dieses Jahres die Jutefabrik zu Bonn a. Rh. sechs neue Spinnstühle anschaffen, und zwar 2 Stück 3% i à 80 Spin deln, 2 Stück 4 i à 74 Spindeln und 2 Stück 5 i à 60 Spindeln, zusammen 428 Spindeln. Dafür wollte sie sieben Spinnstühle vernichten: 4 Stück 3% i à 64 Spindeln, 1 Stuhl 3% i à 52 Spindeln und 2 Stühle 4 i à 60 Spindeln, zusammen 428 Spindeln. Die Firma konnte das nur, nachdem der Gesamtvers band seine Zustimmung gegeben hatte, und diese wurde durch die Generalversammlung vom 18. Februar 1909 erteilt. Jn gleicher Weise haben eine ganze Anzahl anderer Betriebe um die Zu stimmung des Verbandes zur Vornahme technischer Veränderungen innerhalb des Betriebs nachsuchen müssen. Selbstver ständlich ist der jeweilige Bestand den Verbandsfunktionären genau bekannt. Damit keine dem Verband angeschlossene Firma den Beschlüssen zuwiderhandele, ist den Verbandsleitern das Recht gegeben, zu jeder Zeit durch sachverständige Personen die Geschäftsbücher und Betriebseinrichtungen zu kontrollieren. Bis ins kleinste beherrscht die Zentrale die einzelnen Betriebe.
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Die Juteunternehmungen selbst fahren nicht schlecht dabei. Direktoren und Aktionäre kommen auf ihre Rechnung. Stellt man die am 31. Dezember und 31. März abschließenden Aktiengesellschaften zusammen, so ergibt sich nach der Leipziger Monatsschrift für Textilindustrie" bei den zwölf Werken, die einen Vergleich ihrer Dividendenergebnisse mit dem Vorjahr zulassen, mit einem Aktienkapital von 21 422000 Mt. für 1907 eine Dividenden summe von 2479 500 Mt. und 1908 eine solche von 2829500 Mt. oder durchschnittlich für je 100 Mt. Aktienkapital 1907 11,58 Mr. und 1908 13,21 Mt. Die gesamte Dividendensumme war demnach 1908 noch um 350 000 Mt. und die Durchschnittsdividende um 1,63 Mt. höher als im Jahre 1907; es ist also im Jahre 1908 eine Steigerung um 14,1 Prozent gegen das Vorjahr eingetreten. Die Jutekapitalisten gelangen zu fabelhaftem Reichtum. Aber neben dem Reichtum wohnt die Not. Der Beutezug des Kapitals
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führt über Tausende von Leichen langsam verhungerter Proletarier. Das Juteproletariat verkommt im Elend. Ob man diese Arbeiterschaft im Norden oder im Süden Deutschlands aufsucht, überall zeigt sich das gleiche Bild des Jammers. Vor einigen Monaten unternahmen einige Braunschweiger Genossen eine Inspektionsreise zu den Jutearbeitern in Vechelde bei Braun schweig . Der dortige Jutebetrieb war der erste dieser Art in Deutschland . Er gehört der Aktiengesellschaft für Jute und Flachsindustrie in Braunschweig . Ein zweiter Betrieb der Gesellschaft befindet sich in der Stadt Braunschweig . Über die Zu stände im letzteren Betrieb haben wir vor kurzem berichtet. In Vechelde werden etwa 500 Arbeiter und Arbeiterinnen beschäftigt. Die Firma liebt es, ausländische Arbeiter einzustellen. Früher holte man tschechische Proletarier. Seitdem infolge der Aufklärungsarbeit unserer Genossen in Österreich der tschechische Arbeiter zum Bewußtsein seiner Klassenlage gekommen ist, beschränkt sich der Betrieb auf Russen und Galizier . Männer- und Frauenlöhne zusammengerechnet beträgt der Durch schnittsverdienst 9,18 Mt. pro Woche. Die Ernährung ist schlecht. Warmes Mittagessen gibt es nur Sonntags. Sauerkohl mit Kartoffeln und ein wenig Fett brodeln in allen Wohnungen auf den primitiven Feuerstätten.
Das„ Heim" der Arbeiter ist grauenhaft. Sie wohnen in Dachböden, Ställen oder sonstigen elenden Räumen. In einem Stalle, der 31,20 Kubikmeter Luft hatte, wohnten acht Personen: ein alter verunglückter Mann, ein Ehepaar mit vier Kindern und ein 17 jähriges Logismädchen. Der älteste Sohn der Familie ist 18 Jahre alt. Der Verunglückte hatte im Betrieb beide Füße verloren. Die acht Personen schlafen in zwei nebeneinander stehenden Betten gewöhnlicher Größe. Außer den beiden Betten stehen noch ein Stuhl, eine rohe Holzkiste zum Aufbewahren der Töpfe, eine Kohlenkiste und ein 70 Zentimeter hoher und 20 Zentimeter breiter Kanonenofen im Zimmer. Anstrich oder Tapete an den Wänden gibt es nicht. Der Stall kostet 4 Mt. wöchentlich Miete. Ein anderer Stall. Hier sind die Wände nicht mit Puz versehen. Die nackten Backsteinmauern grinsen, mit einer dünnen Eisschicht überzogen Eisschicht überzogen der Besuch erfolgte im März-, den Be suchern entgegen. Der Fußboden liegt 20 Bentimeter tiefer als der Erdboden. Das eiserne Stallfenster ist zerbrochen und mit Säcken zugestopft. Der Stall ist 2,70 Meter hoch, 3,35 Meter breit und 4,20 Meter lang. Eine Familie mit fünf Kindern ist hier einquartiert. Eine Bodenkammer, 2,15 Meter breit, 3 Meter lang und 1,65 Meter hoch wird von zwei Menschen bewohnt. Gegen 20 Wohnungen wurden besucht und überall zeigte sich die gleiche Not: unzureichender Luftraum, von Nässe triefende Wände, Fußböden aus Gips oder Steinen, ungenügendes Licht, überfüllung der Räume, alt und jung beider Geschlechter auf faulendem Stroh mit Lumpen bedeckt zusammenschlafend, die Wohnungen jeder Behaglichkeit und erst recht jeden Schmuckes entbehrend. Die Folge ist physische und moralische Entartung der Arbeiter und Arbeiterinnen, die unter so menschenunwürdigen Verhältnissen leben. 1116 mal hatte ein Vorgesetzter des Betriebs in Braunschweig eine Arbeiterin geschlechtlich gebraucht. So wurde gerichtlich festgestellt. Im Jahre 1908 erkrankten in Vechelde über 200 Personen an einer ansteckenden Augenkrankheit und an Kräze. Gegenwärtig beziehen 25 Prozent der Vechelder Mitglieder des Textilarbeiterverbandes Krankenunterstüßung, weil an diesen häßlichen Krankheiten daniederliegend.
Schulunterricht erhalten die Kinder der ausländischen Arbeiter in Vechelde vielfach nicht. Die Juteindustriellen halten Schulunterricht für Jutearbeiter für überflüssig. Die Generalversammlung ihres Verbandes vom 18. Februar dieses Jahres beschäftigte sich mit der Frage der Fortbildungsschule. Der Bremer Direktor Haasemann empfahl, darauf hinzustreben, wie dies in Bremen durchgeführt worden sei, die Fortbildungsschulen nur auf gelernte Arbeiter und Reichsdeutsche an zuwenden, nicht aber auf Ausländer". Es heißt dann weiter im offiziellen, allerdings nicht für die Offentlichkeit bestimmten Protokoll:„ Die Stellungnahme gegen die Fortbildungsschule an und für sich verspreche heute wohl kaum Erfolg