Nr. 23

Die Gleichheit

Mittel zur Hälfte aus diesen Einnahmen und den Zinsen des angesammelten Fonds, zur anderen Hälfte durch Beiträge der Arbeitgeber und Versicherten aufgebracht werden könnten. In fünf Jahren sollte also ein Fonds von 455 Millionen Mark angesammelt werden, so daß im Jahre 1910 eine stattliche Summe für die Zwecke der Versicherung zur Verfügung stehen würde.

Auch über die Höhe der Renten wurde schon gesprochen. Die Befürworter des Zolltarifs schlugen vor, daß den Witwen 100 Mt. oder 80 Mt., den Kindern 33 Mt. oder 40 Mt. pro Jahr gezahlt werden sollte. Dies sollten natürlich nur Mindest sätze sein, denn man gab zu, daß eine Frau mit zwei Kindern mit 166 Mt. pro Jahr oder 17 Pf. pro Tag und Kopf nicht auskommen fönne.

über die Zahl der in Betracht kommenden Hinterbliebenen wurden damals ebenfalls schon Berechnungen angestellt. Im Jahre 1890 lebten in Deutschland 2207000 Witwen. Diese Zahl würde entsprechend dem Zuwachs der Bevölkerung im Jahre 1910 auf fast 3 Millionen gestiegen sein. Auf 100 Witwen seien zirka 52 Arbeiterwitwen zu rechnen, so daß also 1550000 Witwen zu unterstützen wären. Auf je 10 Witwen fönne man 17 Kinder unter 15 Jahren rechnen. Es kämen also noch zirka 2600000 Waisen für die Versicherung hinzu. Sollen die Witwen je 100 mt. und die Waisen je 33 Mt. Rente haben, so würden zur Durchführung der Reform jähr lich 239 Millionen Mark erforderlich sein.

Bei den weiteren Beratungen des Zolltarifs wurden jedoch noch Verschlechterungen betreffs der Rücklagen zum Hinter bliebenenfonds beschlossen, so daß es unmöglich ward, die oben­genannten Summen aufzubringen. Es hieß auch, daß Land­wirtschaft und Handwerk unmöglich höhere Beiträge zur Ver­sicherung vertragen könnten. Als klipp und klar nachgewiesen wurde, daß ja dann die ganze Hinterbliebenenversicherung auf dem Papier stehen bleiben würde, kam die faule Ausrede, daß man ja nicht allen Witwen, sondern nur den hilfsbedürf­tigen Witwen Renten zuweisen wolle. Bei Beratung des Zoll tarifs war mit feiner Silbe von der Hilfsbedürftigkeit die Rede gewesen. Jeder Arbeiter hatte gehofft, daß seine Witwe und seine Kinder einstmals eine Rente erhalten würden. Das nennt man die Arbeiter mit dem Tarif aussöhnen".

Jahrelang ruhte nun die Frage in der Öffentlichkeit, und jedermann glaubte, daß die Regierung eifrig" Gelder an­sammle, um im Jahre 1910 pünktlich die Hinterbliebenenver­ficherung einzuführen. Mit großer Spannung wurde daher der neue Entwurf der angekündigten Reichsversicherungsordnung erwartet. Leider wurden aber durch diesen Entwurf wieder viele Hoffnungen der Arbeiter zerstört, deuen man zugemutet hatte, willig die vielen Millionen Mark an indirekten Steuern zu zahlen, und die man mit Versprechungen auf die Zukunft abspeiste.

Was bringt uns nun der neue Entwurf?

Vieles und doch herzlich wenig für die Hinterbliebenen. Viele neue und dehnbare Bestimmungen, Worte und Paragraphen und Hungerrenten....

Die neue Versicherung soll an die bestehende Invaliden­versicherung angegliedert werden. Damit werden also zwei Gefeßze vereinigt. Doppelt notwendig wäre es daher, den Ver­sicherten mehr Verwaltungs- und Bestimmungsrechte in der Invalidenversicherung einzuräumen. Die Zukunft der Ver­ficherten und auch ihrer armen Familien hängt ja oft genug von dieser Versicherung ab. Doch der Gesetzgeber läßt alles beim alten. Bureaukratisch sollen die Versicherungsanstalten auch fünftig weiter verwaltet werden. Als Staffage nur werden einzelne Versicherte und Unternehmer an den Beratungen der Anstalten teilnehmen können, im übrigen aber sollen die Herren Landesräte ungestört allein verwalten. Wir müssen deshalb mit aller Entschiedenheit fordern, daß endlich den Versicherten mehr Rechte, größerer Einfluß auf die Verwaltung der Ver­ficherungsanstalt eingeräumt wird.

Wenn die Regierung, wie Herr Direktor Caspar so stark betonte, die Parität absolut wahren will, warum gibt sie dann

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nicht auch bei den Verwaltungen der Versicherungsanstalten diese ihre Absicht kund? Würde man nach dem proklamierten Grundsatz auch hier verfahren, so hätten die wirklichen Bei­tragszahler Arbeitnehmer und Unternehmer und nicht die Landräte die Majorität in den Vorständen.

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Frauenarbeit

( Fortsetzung folgt.)

in der Landwirtschaft Pommerns . Der Ausbeutung der gewerblich tätigen Frau sind gesetz­liche Schranken gezogen, die zwar dem profitsüchtigen Kapita­listen einen weiten Spielraum lassen, aber immerhin die ärgste Ausnutzung der weiblichen Arbeitskraft etwas einengen. Die in der Landwirtschaft tätige Frau dagegen ist dem agrarischen Unternehmer schutzlos preisgegeben. Für sie besteht kein Maximalarbeitstag, kein Verbot der Nacht- und Sonntags­arbeit, kein Wöchnerinnenschutz usw. Die Agrarier, die im industriellen Deutschland dank dem Verhalten der liberalen Bourgeoisie und der politischen Unaufgeklärtheit weiter Arbeiter­kreise noch immer die politische Macht in Händen halten, haben die Klinke der Gesetzgebung in der Hand. Und mit Argus­augen wachen sie darüber, daß nichts geschieht, was ihre materiellen Interessen ungünstig beeinflussen, was sie in der Ausbeutung der Landsklaven behindern könnte. Daher die rechtlose Lage der Landarbeiter, daher der Mangel jeglichen Arbeiterinnenschutzes in der Landwirtschaft.

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Mehr als in der Industrie ist in Pommern im landwirts schaftlichen Betrieb die verheiratete Frau als Lohnsklavin anzutreffen. Zwei Ursachen sind vor allem maßgebend dafür. Einmal wird der Landarbeiter so schlecht entlohnt, daß er auf den Mitverdienst seiner Frau angewiesen ist, will er sich nicht hungernd durchs Leben schlagen. Des weiteren veranlassen die Landflucht die Folge der rechtlich und wirtschaftlich schlechten Lage des ländlichen Proletariats- und der dadurch eingetretene Mangel an Landarbeitern den Agrarier, sich nicht nur den Mann, sondern auch dessen Frau und Kinder als Ausbeutungsobjekte zu sichern. Tatsächlich verdingt sich nicht nur der Landarbeiter als solcher allein dem Gutsherrn, sondern auch seine ganze Familie wird der Ausbeutungslust des letzteren zur Verfügung gestellt. Strafen aller Art bedrohen den, dessen Frau es etwa wagen würde, bei einem Bauern besser bezahlte Arbeit zu suchen. Ist nämlich schon der Lohn des Mannes ein geradezu erbärmlicher- ein Deputant mit zwei erwachsenen männlichen Hofgängern erhält zum Beispiel auf den hinterpommerschen Gütern felten mehr als 800 Mk.( die Naturalien zum Marktpreis gerechnet)-, so ist die Entloh nung der Frau geradezu als ein Trinkgeld zu bezeichnen. So erhalten beispielsweise die Deputantenfrauen auf dem Gute Gramenz( Kreis Neustettin , das dem Kaiser gehört) den , üblichen" Tagelohn von sage und schreibe- 40 Pf.! Und das bei einer Arbeitszeit von 13 bis 17 Stunden! Denselben wahrhaft fürstlichen Lohn zahlt laut Kontrakt die Besitzerin des Gutes Klein- Soltikow( Kreis Schlawe), Frau v. Schlieffen. Diese Dame, in deren persönlichen Ausgaben 40 Pf. jedenfalls gleich Null sind, verlangt noch außerdem in ihrem Sklaven­kontrakt von dem Arbeiter:

,, Er darf keinen Menschen in seiner Wohnung haben, der nicht bereit ist, gegen diesen Tagelohn auf herrschaftliche Arbeit zu gehen, und er selbst wie seine Familie dürfen ohne Er­laubnis nirgendwo anders als bei ihrer Brotherrschaft arbeiten. Geht eine Person aus seiner Wohnung anderweitig auf Arbeit, so zahlt der Tagelöhner pro Tag eine Mark Strafe.

... Seine Frau ist verpflichtet, auf den Dienst zu gehen, so oft sie bestellt wird, und zahlt, wenn sie ausbleibt, ebenfalls den doppelten Tagelohn als Strafe."

Ferner verpflichtet dieser Vertrag die Frau noch, so oft an ihr die Reihe ist, zum Melfen der herrschaftlichen Kühe zu kommen". Für diese in die frühesten Morgenstunden fallende und jedenfalls der Feldarbeit vorangehende Arbeit gibt es