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Die Gleichheit
zeige, wie der dargestellten Not entgegengearbeitet werden kann. Daß zu den Mitteln, die dafür in Betracht kommen, die starke gewerkschaftliche Organisation mit ihrem erzieherischen Einfluß gehört, betont der Verfasser rückhaltlos.
Die Heubacher Gegend wird von dem Verfasser als die interessanteste bezeichnet, welche für die deutsche Korsettindustrie in Betracht kommt. Sie weist nämlich eine Industrialisierung einer reinen Bauernschaft auf, die geradezu typisch für die fapitalistische Entwicklung ist. Heubach hat zwei Korsettfabriken, die neben zirka 500 Fabrifarbeitern in fünf Hauptorten 900 bis 1000, im ganzen 1200 bis 1500 Heimarbeiter beschäftigen, die weitaus meisten weibliche. Wie stellt sich deren tägliche Arbeitszeit? Auf 10 bis 20 Stunden, durchschnittlich auf 14 bis 16 Stunden für Erwachsene; auf 4 bis 6 Stunden für Kinder. Die Einzelverdienste schwanken zwischen 5 bis 11 Mt., durchschnittlich von 7 bis 8 Mt. pro Woche. Ganz feltene Fälle eines Wochenlohns von 17 Mt. tommen vor. Der Familien verdienst, den Mann und Frau mit 2 bis 3 Kindern erzielen, erreicht im Höchftfall wöchentlich 20 Mt. In den Fabriken be schäftigte Personen verdienen wöchentlich noch 2 bis 5 Mt. durch 6 bis 9stündige tägliche Heimarbeit. Von den Löhnen der Heimarbeiter müssen noch die Ausgaben für Faden abgezogen werden, die zwischen 40 Pf. bis 3 Mt. schwanken. Maschinen und Zubehör müssen von den Heimarbeitenden selbst gestellt werden. Diese Angaben Rosenbergs find einer Spezialenquete entnommen, die die Vereinigten Gewerkschaften Gmünd im Jahre 1907 vorgenommen haben. Dr. Rosenberg hat sie int wesentlichen bestätigt gefunden. Er hebt hervor, daß diese Enquete bezüglich der Zahl der Heimarbeiter der Wirklichkeit näher komme als die amtliche Statistit, die allerdings von 1895 ftammit.
Rosenberg stellt dem Verdienst der Heubacher Heimarbeiter schaft eine Übersicht über die Preise der Lebensmittel gegenüber. Sie waren schon damals zum Teil Teuerungspreise, sind aber heute, zumal für Fleisch, bereits überholt. Da nimmt die Feststellung nicht wunder, daß die Nahrung der Heimarbeiter fast ausschließlich aus Mehlspeisen, Kartoffeln und Gemüse besteht, Fleisch gibt's nur Sonntags und in fleinen Quanten. Wie wird es erklärlich, daß sich in der Heubacher Gegend die Heimarbeit mit ihren typischen Begleitern übermäßig langer Arbeitszeit und jämmerlichem Verdienst, was sagen wir Verdienst: Hungerlohn entwickeln und binnen etwa 15 Jahren einen blühenden Industriezweig schaffen konnte?
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Die Bevölkerung von Heubach und Umgegend war früher nur landwirtschaftlich tätig. Die Masse hatte nur einen Zwergbesitz an Grund und Boden mit geringem Biehstand; der Eigenbetrieb sicherte nur halbwegs den Unterhalt der Familie. Den Besitlosen fam Allmendland zugute, jeder stand im Holzgennß im Werte von 20 Mt. aus dem Heubacher Gemeindewald. Es herrschte das System der Dreifelderwirtschaft mit eingebauter Brache. Die Handelskammer Heidenheim erklärte dem Dr. Rosen berg, daß die nämlichen Verhältnisse noch mehrfach in der weiteren Umgegend vorkommen und als überbleibsel der früheren Markgenossenschaften anzusehen sind. Aber die Macht der neuen fapitalistischen Zeit erwies sich als stärker als die schützende Kraft der schwachen überlebfel des alten urwüchsigen Kommunismus. Trotz des Gemeindenutens konnten die Besitzlosen und Zwergbesitzer in den Dörfern der Gegend den Unterhalt der Familie nicht mehr mit landwirtschaftlicher Arbeit bestreiten. Biele griffen zum Hausterhandel; in einzelnen Orten war der Bettel die letzte Zuflucht. So fand die vor einigen Jahrzehnten einsetzende industrielle Entwicklung in der Gegend an der Scholle flebende, feßhafte und billige Arbeitskräfte. In diesem Zusammenhang ist eine Außerung des Landwirtschaftsinspektors Schmidberger verständlich, daß die Industrie von der Landwirtschaft schmarogt". Rosenbergs Aufzeichnungen belegen es, daß der industrielle Verdienst der Heimarbeiter nur ergänzt, was an dem landwirtschaftlichen Ertrag für den Bedarf der Familie fehlt.
Rosenberg hat auch persönlich in den Stätten der Heimarbeit die Verhältnisse erforscht. Was er dabei festgestellt hat,
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teilt er durch vier Beispiele mit, die er als typisch für die allgemeine Lage der Heimarbeiter in der Heubacher Korsettindustrie bezeichnet.
Beispiel 1. Eine Familie in Unterbettringen. Anderthalb Stun den von Heubach . 12 Personen. Landbesitz 9 bis 12 Hektar. Bieh bestand 4 Kühe und Kleinvieh. Also verhältnismäßig viel. Bum Lebensunterhalt reicht die Landwirtschaft nicht aus, deshalb müſſen zwei Mädchen Korsett nähen. Das eine Mädchen näht täglich 15
Stunden, das andere besorgt nebenher noch Hausarbeit. Beide er zielen zusammen 850 bis 950 Mt. Wenn die Industrie nicht wäre, bezahlte Heimarbeit dem besseren Verdienst in der Fabrit vor, weil müßten sie in einen Dienst gehen. Die Mädchen ziehen die schlecht der Weg nach Heubach zu weit ist, und sie dann keine Bauernmädchen" mehr feien. Dieser Fall liegt zufolge des Grundbesitzes noch relativ günstig. Die Mutter pflegt die Mädchen gut, da sie sonst schwindsüchtig werden".
Beispiel 2. Eine ledige Arbeiterin in Oberbeftringen. Kein Landbesig. Sie wohnt aur Miete. Sie arbeitet täglich 18% Stunden und erzielt jährlich 360 bis 370 Mt. Verdienst. Mit ihrem Erwerb hat sie früher zum Haushalt der Eltern beigetragen. Als diese starben, sei sie zu alt gewesen, um ein neues Leben als Fabrif Nebenberuf, jetzt Hauptberuf geworden ist. mädchen zu beginnen. Sie blieb beim Korfettnähen, das einst
Beispiel 3. Heimarbeiterfamilie in Bargau . Drei Viertelstunden von Heubach . 8 Personen. Mann, Frau, ein Mädchen und ein Kind nähen Korsett. Landbesitz 2,15 Hektar Wiese. Kein Vieh. Das Haus hat eine Arbeitsstätte mit 40,25 Rubikmeter Raumgehalt und zwei Schlafräume mit je 36 Rubikmeter Luftinhalt. Der Mann gibt für sich eine tägliche Arbeitszeit von 15 bis 18 Stunden an. Der jährliche Verdienst von Mann und Frau zusammen beträgt jährlich 4 bis 6 Wochen Arbeit. Der Wiesenertrag( Futter) bringt 900 Mt., von den beiden Mädchen 300 Mt. Das Feld erfordert
einen Erlös von 250 bis 300 Mt.
Beispiel 4. Ein Zuschneider in Henbach. Fabrikarbeiter. Die Familie besteht aus Mann, Frau und drei Kindern im Alter von 5, 3 und 1 Jahren. Kein Grundbesig. Der Mann wohnt zur Miete. Er verdient bei 64 bis 69 stündiger Arbeitszeit netto 19 bis 20 Mt. wöchentlich. Die Frau verdient zu Hause 6 Mt. Nach einem ausführlichen Haushaltungsbudget braucht die Familie für ihren Unterhalt wöchentlich 18 Mt. oder jährlich 936 Mt. Für Miete, Heizung und Licht 195 Mt. Für Schuhe und Kleidung zirka 212 Mt. Für Sonntagsgeld und Weihnachtsausgaben 60 Mt. Zusammen 1403 Mt. Der Jahresverdienst beträgt 1300 bis 1350 Mt., er ist somit absolut unzulänglich. Diesen Angaben liegen allerdings nicht die täglichen Aufzeichnungen in einem Wirtschaftsbuch zugrunde, weil feines geführt wird. Doch spricht alles für ihre Rich tigkeit. Der Arbeiter wird sich in seiner Genügsamkeit weitere Beschränkungen auferlegen, um die Kargheit des Verdienstes auszugleichen.
Dr. Rosenberg hatte auch an die Schultheißen der in Be tracht kommenden Orte einen Fragebogen verschickt, der ihre Meinung darüber einholte: Welche Schäden sich infolge der Korsettheimarbeit herausgestellt haben a. für die Gesundheit, b. für den Haushalt, c. für die Bestellung des Feldes". Die Antworten sind bezeichnend. Ein Schaden für die Bestellung des Feldes wird allgemein in Abrede gestellt. Zur Frage b lauten die Antworten:„ Der Haushalt leidet";" die Arbeiterinnen können den Haushalt nicht richtig führen“,„ die Mädchen lernen sonst nichts" usw. Was die Frage nach den Gesundheitsschädigungen anbelangt, so heißt es von den Korsettarbeiterinnen:„ manche schon frühzeitig gestorben".
Rosenberg stellte mit Erstaunen fest, daß die Heimarbeiterschaft im Heubacher Bezirk über die lange Arbeitszeit kaum eine Klage führt. Die Hauptsache für die Leute ist, daß sie ihre Lage im Vergleich zur Vergangenheit ein Weniges gebessert sehen. Daß dies nur durch eine unmenschlich lange Arbeitszeit möglich wird, durch die größten Entbehrungen und eine unverantwortliche Ausbeutung ihrer eigenen Kinder, wird von ihnen nicht begriffen.
Daß die Heimarbeiter und Heimarbeiterinnen den in der Gegend vorhandenen Raiffeisenkaffen feine Riesensummen 31tragen können, versteht sich wohl. Trotzdem wird das von mancher Seite den Leuten zum Vorwurf gemacht. So klagt ein katholischer Pfarrer, aber das Geld wird schlecht angelegt zu Buzz und Sonntagsstaat. Die Leute bleiben lieber bei ihrer