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Die Gleichheit
Nr. 5
Professor der Botanik an der Züricher Universität sich stets mit Stolz einen Sozialdemokraten nannte. Ihr wißt, daß sein Herz den Arbeitern gehörte; für ihre Befreiung trat er ein, wo er nur immer konnte, und das mit dem ganzen Eifer seines lebhaften
guckten den Sattlern rasch das" Wenden" der linksseitig genähten Taschen ab. Die Unternehmer der Reiseeffektenbranche brauchten nun feine Sattler mehr, die im allgemeinen besser entlohnt werden mußten, sie benötigten nur noch Taschen Temperamentes; für sie kämpfte er in Wort und Schrift, solange
macher. Dadurch, daß ein großer Teil der Damentaschenfabrikation in die Heimarbeit überging, die in der Portefeuilleindustrie eine so bedeutende Rolle spielt, näherten sich die Arbeitsbedingungen der Sattler und Portefeuiller noch mehr. Damit war der Anfang vom Ende der selbständigen Portefeuillerorganisation besiegelt. Gleich nach Abschluß der von beiden Arbeitergruppen gemeinsam geführten Tarifbewegung im Jahre 1908 berieten die Leitungen der beiden Organisationen in mehreren Konferenzen über die Verschmelzung der Verbände. Der außerordentliche Verbandstag Ostern 1909 in Köln be schloß sie, und sie wurde schon am 1. Juli 1909 perfeft. Der Beschluß blieb nicht ohne Rückwirkung auf die Organisation der Unternehmer. Die„ Vereinigung der Lederwaren- und Reiseartikelfabrikanten" hat beschlossen, die Streitversicherung einzuführen.
Der Verband der Portefeuiller und Ledergalanteriearbeiter gab seine Selbständigkeit auf, als er auf der Höhe stand und seine Leistungsfähigkeit bewiesen hatte. Er hatte die Berufsangehörigen durch eine 8- jährige intensive Aufklärungsarbeit gewerkschaftlich geschult und ihre Arbeitsbedingungen wesentlich verbessert. Indem er sich mit der verwandten Berufsorganisation verschmolz, konnte er die Konsequenzen der Einsicht in die wirtschaftliche Entwicklung ziehen. Es spricht für die gefestigte Überzeugung vom Wert des gewerkschaftlichen Zusammenschlusses, daß nicht ein einziges Mitglied die Fusion mit dem Sattler verband als Vorwand benutzt hat, der Organisation fahnenflüchtig zu werden. Der im Jahre 1901 gegründete„ Groschenverband" hat seine Mitglieder in den acht Jahren so weit gewerkschaftlich erzogen, daß sie jetzt gern in Berlin 75 Pf., in Offenbach 55 Pf., in Nürnberg 60 Pf. Wochenbeitrag leisten. Im ersten Vierteljahr seines Bestehens hat der neue Verband nahezu um 400 Mitglieder zugenommen, darunter einen starken Prozentsaz Portefeuiller.
Auch der Stand der Finanzen des Portefeuillerverbandes hat gesundes Leben bekundet. Vom 11. November 1900 bis 30. Juni 1909 hatte er insgesamt eine Einnahme von 381579 Marf, wovon 354112 Mt. allein auf die Mitgliederbeiträge entfallen. Zu berücksichtigen ist dabei, daß der wöchentliche Beitrag bis zum 30. Juni 1904 nur 20 Pf. für männliche und 10 Pf. für weibliche Mitglieder betrug. Aufnahmegebühren wurden damals nicht erhoben. Der Verband verausgabte während der 8 Jahre seines Bestehens insgesamt 220520 Mt., davon 11407 Mr. für Unterstützung von Lohnbewegungen und Streits, 25455 Mt. an Arbeitslosen- und 32989 Mt. an Krankenunterstüßung. Der Überschuß von 161 059 Mt., dazu noch zirka 19000 Mt. in den Lokalfassen, wurde dem neuen Sattlers und Portefeuillerverband als Morgengabe gebracht. Dieser wird fortsetzen, was die beiden Verbände begonnen haben, die sich vereinigten, um der fortschreitenden Konzentration des Kapitals, des Unternehmertums eine größere Konzentration der gewerk schaftlich organisierten Arbeiter entgegenzustellen. Mit aller Treue wird er wirken für die Klärung des Klassenbewußtseins und damit für die Ausbreitung und Befestigung der Organisation. Mit allem Eifer wird er seine Kraft einsetzen, um die foziale Lage der Berufsgenossen und-genossinner zu heben, um sie auf dem Wege zur Macht zu führen.
H. W.
Aus dem Leben eines ehemaligen Heimarbeiters.
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Als wir neulich in Zürich die Heimarbeitausstellung hatten, wurde ich an einen erinnert, der obzwar er später ein sehr befannter Gelehrter geworden ist auf die Freuden einer sonnigen Kindheit verzichten mußte, um für ein paar Pfennige Stundenlohn mühselige Arbeit zu verrichten. Der Mann ist Arnold Dodel . Ihr fennt ihn gewiß alle, liebe Genossinnen? Zwar nicht persönlich, aber doch seinem Namen und Wesen nach. Ihr wißt, daß dieser
er Kräfte hatte, und über jeden Sieg der Arbeiterfache war er hoher Freude voll.
Arnold Dodel stammte aus einem armen Bauernhaus im Thur gau . Sein Vater, ein stiller, sinnender Mann, von dem der Sohn stets mit Verehrung gesprochen hat, betrieb die Schusterei, während die Mutter, eine rechtschaffene, brave Bäuerin, die Feldwirtschaft besorgte. Es waren drei Töchter und drei Söhne vorhanden, und das Brot war immer Inapp. Als aber ein paar Teuerungsjahre famen, der Vater Geld aufnehmen und verzinsen mußte, da wurde das im Hause Dodel ganz bedenklich fühlbar, und die gute Mutter seufzte oft, wenn ihr Blick auf ihre sechs Kinder fiel, denn sie wußte nicht, wie sie sie satt machen sollte. Dodel hat mir mehr als einmal erzählt, wie ärmlich es damals zu Hause herging: morgens vor der Schule gab es Kartoffeln und Kaffee, mittags ein Hafer- oder Mehlmus, Hülsenfrüchte oder dergleichen und abends wiederum Kartoffeln und Kaffee. Nur in den besseren Jahren wurde Sonntags zu Mittag eine Fleischbrühe gekocht von einem Pfund Rindfleisch, mit Brotscheibchen und Schnittlauch. Darauf freuten sich die Kinder, besonders die Buben, die ganze Woche hindurch, obwohl bei einer Familie von acht Personen nicht viel Fleisch auf den einzelnen kommen konnte, was ihr, Genossinnen, ja recht gut wißt. Außer den Sonntagen waren im Jahre noch ein oder zwei Festtage, wo man im Dodelschen Hause sich etwas zugute tat". Das war der Himmelfahrtstag, der einzige Tag im Jahre, an dem die Kinder Butterbrot erhielten, während sie sonst nur trocken Brot kannten. Es soll immer eine helle Freude gewesen sein, wenn es Butterbrot gab. Dodel lachte oft darüber, denn in seinen späteren Jahren hat er nie Butterbrot gegessen. Das, was ihm in seiner Kindheit als der Gipfel des guten Essens erschien, hatte später keinen Reiz für ihn; er aß als alter Mann immer trockenes Brot zum Kaffee, so wie er überhaupt außerordentlich einfach und anspruchslos in bezug auf Essen war. Ein zweiter Festtag für den kleinen Arnold und seine Geschwister war der Fastnachtsdienstag; da but Mutter Dodel nämlich„ Chüechli", eine Art Schmalzgebackenes, so wie es in verschiedenen Arten auch bei uns in Deutschland um diese Zeit üblich ist. Hiermit war aller Luxus aufgezählt, den die Familie Dodel im Essen zu machen in der Lage war- bescheiden genug also!
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Arnold hat mir auch erzählt, daß er oft neidisch hat zusehen müssen, wie seine Großmutter, eine etwas wohlhabendere, aber anscheinend geizige und launische Frau, dem jüngeren Bruder Karl ein Spiegelei briet. Er selbst, das viel zartere und kränkliche Büblein, bekam feines. Die Großmutter hatte ihn nicht so gern wie den Jüngeren, eben weil er ein elender und hintender kleiner Bursche war. Zu stolz, öffentlich zu zeigen, wie bitter ihn die ungerechte Zurücksetzung kränkte und wie heiß auch in seiner kleinen Seele die Sehnsucht nach einem duftenden Spiegelei brannte, schlich sich unser armer Arnold dann oft hinter die elterliche Scheuer und weinte dort herzbrechende Tränen. Arnold erzählte auch von einem Kameraden, der gelegentlich von Hause ein paar Stückchen Zucker mit in die Schule brachte und sie stolz und behaglich vor den Mitschülern schmauste, ohne einen einzigen von ihnen an seinem Genuß teilnehmen zu lassen. Damals glaubte Arnold, es tönne fast nichts Schöneres geben, als auch einmal über Zucker verfügen zu dürfen, und er sagte am Abend zu seiner Mutter: " Du, Mutter, wenn ich groß bin, dann kaufe ich mir einmal einen ganzen Wagen voll Zucker und esse ihn ganz allein auf!"
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In diese ärmliche Dürftigkeit brachen die Teuerungen der viersiger und fünfziger Jahre- Arnold war 1848 geboren wie ein reißendes Tier ein. Das Geld reichte kaum mehr zum Notwendigsten, und die paar Festtage, wie bescheiden sie auch schon gewesen waren, mußten aus dem Jahreskalender gestrichen werden. Die täglichen Portionen an Brot, Kartoffeln usw. wurden erheblich beschnitten; und das war recht bitter, besonders für die Buben, die eben im besten Wachsen und mit gehörigem Appetit ausgerüstet waren. Für unseren Arnold aber war das schwerste, daß es jetzt hieß:„ Der Bub muß mitverdienen!" Freilich, hätte er hinaus gekonnt auf den Acker wie die beiden Brüder, um dort Feldarbeit zu verrichten, so wäre er damit gern einverstanden gewesen, denn er liebte die Natur schon als Kind, trieb sich mit Vorliebe im Freien umher und machte sich auch gern nach seinen fleinen Kräften nüglich. Aber da lag der Hase im Pfeffer! Arnold hatte in seinen ersten Lebensjahren schwere Krankheiten durch gemacht, und davon war ihm ein trummes Knie und ein ver