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Die Gleichheit
Frauen und Mädchen haben fast die Hälfte der Zuhörerschaft gestellt und brachten überall dem Referat ein reges Interesse entgegen. Blizenden Auges folgten sie mit gespannter Aufmerksamkeit den Ausführungen der Vortragenden. Das Bewußtsein ihrer Pflicht wurde lebendig, den Kampf der Arbeiterklasse um Brot und Freiheit zu teilen, der auch der Kampf um das Recht des weiblichen Geschlechts ist. Brausender Beifall bekundete die allgemeine Zustimmung zu den Ausführungen der Referentin. Überall wurde der Wunsch laut, daß bald wieder eine Agitationsversammlung stattfinden möge, welche die Frauen und ihre Lage besonders berücksichtige. In manchen Orten steigerte die liebe Polizei,-um den Bestand des Staates besorgt, nicht unerheblich die Wirkung der Agitation. In Windecken war der überwachende Beamte besonders nervös. Die Furcht vor dem roten Umsturzgespenst hatte es ihm gründlich angetan! Wehe dem Versammlungsbesucher, der nicht den unzweifelhaften Stempel würdigen Alters auf der Stirne trug und zu jung aussah! Verbandsbücher und Invalidenkarten mußten an Stelle des Geburtsscheins legitimieren! Der Erfolg der liebevollen Beachtung, die der Polizeigewaltige der Veranstaltung widmete, war augenscheinlich. Für glänzenden Besuch der Versammlung hatte die Hetze der Frommen und Stillen gesorgt. Der Saal war gesteckt voll, so daß viele der Erschienenen sich mit einem Plaze im Garten begnügen mußten. Ahnlich überfüllt war die Versammlung in Spiel berg . Hier waren alle Tische aus dem Saale entfernt worden, und trotzdem war dieser noch zu klein, um die Scharen von Besuchern aufzunehmen, die aus den umliegenden Dörfern herbeifamen. Sie hatten oft stundenlange Wege hinter sich, und was für welche! Auch der Herr Pfarrer war in der Versammlung erschienen. Aber der gleiche Herr, der von seiner sicheren Kanzel herunter mit mächtiger Beredsamkeit gegen die„ Roten " zu Felde zieht, schwieg fein stille. Trotz der wiederholten Aufforderung des Parteisekretärs Dißmann ließ er sich nicht zum Reden bewegen. Als die Pause verstrichen war, nach welcher die Diskussion beginnen sollte, war der Platz des Herrn Pfarrers leer, er hatte vorgezogen, lautlos zu verschwinden. Freilich, in der Kirche ist es leicht, die gläubige Gemeinde vor den bösen Umstürzlern gruselig zu machen, aber einer Gegenrede wollte der tapfere Streiter Christi nicht standhalten. Der Erfolg dieser Versammlung war groß. Aus der Bilder- und Bücherausstellung, die Genosse Dißmann im Saale arrangiert hatte, wurden für 20 Mt. Weihnachtsgeschenke eingekauft, dazu für 10 Mt. Broschüren zum Zwecke der weiteren Aufklärung, und viele Nachbestellungen liefen noch ein. Eine erfreuliche Erscheinung in manchen Orten ist, daß die Parteiorganisation bereits mehr Mitglieder besitzt, als 1907 für die Sozialdemokratie Stimmen abgegeben wurden. Das ist das Werk der unermüdlichen Arbeit der Genossen und Genossinnen, die auch die Gleichgültigsten erweckt hat. Die Unterzeichnete sprach noch in einer Versammlung zu Frankfurt a. M., um dem Metallarbeiterverband Mitglieder zu gewinnen. Auch sie war von Erfolg gekrönt, trotzdem sie darunter litt, daß die Arbeiterinnen in den verschiedenen Betrieben verschiedenen Arbeitsschluß haben. Die Arbeit unter den Massen trägt überall gute Frucht. Darum, Genofsinnen, an die Aufllärungsarbeit! Marie Wackwitz .
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Von den Organisationen. Nähabende sind von den organi sierten Nürnberger Genossinnen eingerichtet worden. Sie finden regelmäßig jeden Dienstag abend von 8 bis 10 Uhr im Bürgerfaal", Schonerstraße, statt und sind kostenlos. Zutritt dazu haben alle Frauen und Mädchen, sofern sie gewerkschaftlich oder politisch organisiert sind. Die Leitung der Nähabende haben die Genossinnen Bohl und Stein übernommen, die von Beruf Schneiderinnen sind. Zweck der Veranstaltung ist, den organisierten Frauen und Mädchen Gelegenheit zu bieten, Nähen und Zuschneiden zu erlernen. Jede einzelne Teilnehmerin ist berechtigt, Stoff zu Bluse oder Rock usw. mitzubringen, ihn zuschneiden zu lassen und dadurch mit der Schneiderei vertraut zu werden. Auch das Umändern und Ausbessern getragener Kleider, das Anfertigen von Kinderkleidchen aus solchen usw. wird gelehrt. Der Andrang zu den Nähabenden war so stark, daß vier Abteilungen mit je 90 Teilnehmerinnen eingerichtet wurden. An jedem Abend hatten die vier Leiterinnen der Kurse alle Hände voll zu tun. Die Einrichtung entspricht offenbar einem Bedürfnis vieler proletarischer Frauen und Mädchen und wird sie an die Organisationen fesseln. Helene Grünberg .
Vom aktiven und passiven Wahlrecht der Frauen zu den Krankenkassen haben die Genofsinnen von Schwerin i. M. Ge brauch gemacht. Am 16. November fand eine Generalversammlung der Allgemeinen Ortskrankenkasse dieser Stadt statt, an der zuni erstenmal zwei Frauen als Vertreter der Mitglieder teilnahmen, und zwar die Genoffinnen Janzen und Törber. Bei der Vertreterwahl übten ebenfalls mehrere weibliche Mitglieder ihr Wahlrecht aus. Die bürgerlichen Frauen, die unter der Leitung der
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Gattin eines Bankdirektors organisiert sein wollen, kümmerten sich um diese Wahlen gar nicht, obgleich fie doch Gelegenheit geboten hätten, daß Frauen das einzige Wahlrecht ausüben, das ihnen in Deutschland zusteht. Wir hoffen, daß unsere proletarische Frauenorganisation, die bereits 47 Mitglieder zählt, immer größere Fortschritte macht, so daß sie sich mit Erfolg politisch und auf allen Gebieten betätigen kann, auf denen die Frauen einige farge Rechte haben. Der Erfolg, daß zwei Genossinnen als Vertreter der Krankenfaffenmitglieder gewählt wurden, muß uns anfpornen, bei nächster Gelegenheit darauf bedacht zu sein, eine Genoffin in den Vorstand der Kaffe zu wählen. Bei der diesmaligen Wahl wurden für das eine ausscheidende Vorstandsmitglied für die Arbeitgeber Genosse Tischlermeister Koß und für die zwei ausscheidenden Vorstandsmitglieder für die Arbeitnehmer die Genossen Maler Pralow und Schlosser Westpfahl gewählt. Klara Zörber.
In Bocholt soll es nicht tagen. Also wollen es die Parteigänger der Steuerwucherer vom Zentrum. Mit der Uniform von Polizeiern versuchen sie das Licht der Aufklärung zu verhängen. Daß sie dabei in Widerspruch geraten zu dem Gebot:„ Du sollst nicht falsches Zeugnis reden wider deinen Nächsten" und zu dem Chriftuswort:„ Liebe deinen Nächsten wie dich selbst", ficht diese Maul christen wenig an. Es gilt, die erregten Arbeitermassen über den Verrat ihrer Zentrumsabgeordneten zu täuschen, und zu diesem edlen Zwecke ist den Führern der christlichen Gewerkschaften jedes Mittel recht. Seit dem Inkrafttreten der Finanzreform befinden sie sich in beständiger Angst um ihre Existenz. Auch der frömmsten Arbeiter, die den christlichen Gewerkschaften angehören, hat sich maßlose Empörung bemächtigt. Lug und Trug, die bisher schon zu den vornehmsten Mitteln gehörten, um die katholische Arbeiterschaft in der Gefolgschaft der christlichen Arbeiterführer, das heißt des Zentrums, zu halten, spielen jetzt erst recht eine große Rolle. Die Mitwirkung an der schamlosen Volksausbeutung lügen die Herren in eine Tat der Vaterlandsliebe um. Die von den freien Gewerkschaften betriebene intensive Aufklärungsarbeit zerreißt das Lügengewebe und öffnet den katholischen Arbeitern die Augen über den Verrat ihrer Führer. Daher werden alle Mittel aufgeboten, die Arbeiter vor dem Besuch der Versammlungen der freien Ge werkschaften zu bewahren. Zum Glück für die genasführten Arbeiter bleibt die Liebesmühe manchmal ohne Erfolg. So geschah es auch in Bocholt . Bocholt gehört zum Wahlkreis, der die Ehre hat, im Reichstag vom Borsigenden des christlichen Textilarbeiterverbandes, Herrn Karl Matthias Schiffer , vertreten zu werden, der eben falls den Volksbetrug mitgemacht hat. In diesem schwärzesten Winkel des Münsterlandes haben die aufgeklärten Textilarbeiter mit zäher Ausdauer gearbeitet, und das mit Erfolg. Trotz aller Schwierigkeiten haben die freien Gewerkschaften und die sozialdemokratische Partei in Bocholt Fuß gefaßt. Das war den„ Christen" längst ein Dorn im Auge. Als nun in Bocholt eine Versammlung des Deutschen Textilarbeiterverbandes stattfinden sollte, die den katholischen Arbeitern ihre Führer im Lichte der Wahrheit zeigen sollte, galt es, das drohende Unheil möglichst zu vereiteln. Die Behörden befannen sich darauf, was ihres Amtes ift. Die öffentliche Tertilarbeiterversammlung wurde zur politischen Volksversammlung gestempelt und die dort referierenden Personen zu sozialdemokratischen Agitatoren. Den Vorwand dazu gab das Thema: Voltsentrechtung, Steuerdruck und gewerkschaftlicher Rampf". Die Polizei verbot furzerhand die Versammlung. Ob sie wohl eine Versammlung, die der christliche Textilarbeiterverband mit Karl Matthias Schiffer als Referenten einberufen hätte, auch als eine politische angesehen und verboten hätte? Wahrscheinlich hätte sie sich dann daran erinnert, daß es so etwas wie ein Vereinsgesetz gibt, dem das Verbot widersprach. Die Christen sprengten den ganzen Nachmittag ihre Truppen im Orte umber, um das Bersammlungsverbot bekannt zu machen und die Arbeiter ab. zuhalten, der nun einberufenen politischen Veranstaltung bei zuwohnen, die unter polizeilicher Bewachung tagte. Diese nahm trotz allem einen glänzenden Verlauf. Eine solche Versammlung hatte das fromme Bocholt noch nicht gesehen. Das Lokal faßte die Masse der Erschienenen nicht, in den schnell gewonnenen Näumen saßen und standen die Leute, darunter auch einige Frauen, in drangvoll fürchterlicher Enge, und viele fanden feinen Zutritt mehr. An der anwesenden Polizei wie den Führern der christlichen Gewerkschaften, die sich nicht in die Versammlung gewagt hatten, wurde die schärffte Kritik geübt. Die Versammlung war von einer Begeisterung durchglüht, die hoffen läßt, daß die von den christlichen Führern genarrten Arbeiter das Joch der geistigen Knechtschaft abzuschütteln gewillt sind. Die Empörung über die Mithilfe dieser Herren bei der Boltsausplünderung mußte gerade in dem frommen Bocholt hohe Wogen treiben. Karl Matthias
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