106

Die Gleichheit

der wohlwollenden Fürsorge der herrschenden Klassen überlassen. Aber eben durch diese Fürsorge", in der schamloseste Voltsauspowerung ihren Ausdruck findet, werden die proletarischen Hausfrauen immer mehr zum Denken und Handeln für die Gemeinschaft ihrer Klasse veranlaßt. Ihre Hausfrauenpflichten haben sich ja bedeutend ver ringert, denn seit dem letzten Steuerraub sind die Kochtöpfe der Arbeiterfamilien nachgerade so leer geworden wie die Köpfe der hinterpommerschen Junker. An ihren Kinderwiegen, die nie ein Sonnenstrahl des Glückes umkost, sitzt die Sorge und singt das ein­tönige Lied von der Verdammnis unserer Klasse. Die letzten Fäden, die die Familie der Habenichtse noch zusammenhielten, zerreißt die Not mit grausamen Händen. Aufklärung heischend, kommen die proletarischen Schmerzensmütter in unsere Reihen. Die junkerliche Rotte Korah  , die, um den eigenen sagenhaften Familiensinn" zu schützen, den Familiensinn der Armen zynisch mit Füßen trat, hat das Letzte getan, um die Frauen aus ihrer Lässigkeit aufzurütteln. Noch nie waren unsere Versammlungen von den Arbeiterfrauen und Mädchen so zahlreich besucht wie in den Monaten seit dem Inkrafttreten der Reichsfinanz, reform". Besonders in den kleinen Orten auf dem Lande usw., wo der Besuch einer öffentlichen Ver­sammlung seitens unserer Geschlechtsgenossinnen bislang als größtes Scheuel und Greuel galt, gärt und brodelt es recht stürmisch unter den Frauen.

In Altenburg   und Umgebung habe ich in acht Versammlungen das Thema behandelt: Die Wirkung der neuen Steuern auf Haus­halt und Familienleben". Es gab die Gelegenheit, den Proletarie­rinnen flar vor Augen zu führen, in welch erbarmungsloser Weise sie in der heutigen Gesellschaftsordnung zertreten und vergewaltigt werden, und wie gerade das System der indirekten Besteuerung den Zersehungsprozeß der proletarischen Familie ungemein bes schleunigt. In allen Versammlungen waren die Frauen sehr start vertreten, besonders in Meuselwig und Schmölln  , wo der Be­fuch im allgemeinen ein außerordentlich guter war. Mit gespanntester Aufmerksamkeit lauschten die Frauen den Ausführungen und zogen auch zum Schlusse die Konsequenzen daraus, indem sie ihren Beis tritt zur Partei erklärten. In Ronneburg   gab es ein kleines Inter­mezzo. Einer der anwesenden bewaffneten Schutzengel hatte sich auf die dunkle Galerie gesetzt und war allda dem Schlummergott in die Arme gesunken. Er schnarchte bald so fürchterlich, als wollte er die Posaunen von Jericho   um ihre Reputation bringen. Der vorsitzende Genosse bat den Herrn, sich fünftig für seine Nachtruhe ein anderes Plätzchen auszusuchen, als eine sozialdemokratische Ver­sammlung.

In Pölzig   sprach ich in einer Festversammlung der Fabrik arbeiter über die Lage des deutschen   Proletariats im allgemeinen und der deutschen   Tabatarbeiter im besonderen. Die Arbeitslosig= feit, die als Folge der Erhöhung der Tabaksteuer auftritt, macht sich auch in diesem Orte recht start bemerkbar und droht den Ar­beitern und Arbeiterinnen mit der gänzlichen Vernichtung ihrer fümmerlichen Existenz. Kopf an Kopf gedrängt stand die Menge in dem geräumigen Saale, die Hausflur und die Treppe waren bis auf das legte Pläßchen besett. Es ist eine schöne, erhebende Aufgabe für uns, diese Ausgebeuteten, Entrechteten mit Kampfes mut und Zufunftsfreudigkeit zu beseelen, fie aufzurütteln aus der verzweiflungsvollen Ergebung, der sie der Jammer ihrer Lage so leicht anheimfallen läßt.

In den Kreisen Hildesheim  , Hannover   Stadt, Lüneburg  und Göttingen   referierte ich in zwanzig Versammlungen über die Themata: Die Finanzreform und die Frauen"," Die Frau als Stütze des Mannes im wirtschaftlichen Kampfe"," Die Stellung der Frauen in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft". In Salz detfurth( Kreis Hildesheim  ), Soltau  , Winsen  ( Kreis Lüneburg  ) und Borenden( Kreis Göttingen  ) konnten wir den Grundstein zur Frauenorganisation legen, in fast allen anderen Orten gewann die Partei einen beträchtlichen Zuwachs an weiblichen und männlichen Mitgliedern. In Gronau   war die auf den 14. November ein­berufene Versammlung des Bußtags wegen verboten worden. Sie wurde daraufhin verschoben und nahm einen glänzenden Verlauf. Der dortige Herr Gendarm hat sich bereits in ziemlich weiten Kreisen einen Namen durch die Schnoddrigkeit gemacht, mit der er seine staatserhaltende Tätigkeit auszuüben beliebt. Er sand leider" gar feinen Anlaß, seine Schneid zu zeigen.

Es zeigt sich überall, daß die Frauenbewegung doch einen raschen Aufschwung nimmt, wo die Genossen es sich angelegen sein lassen, fie wenigstens für den Anfang mit Rat und Tat zu fördern. Da gegen faßt sie schwer Fuß, wo die Genossen aus Saumseligkeit oder Philisterhaftigkeit diese Pflicht vernachlässigen. Dieser Umstand sollte jeden einzelnen anspornen, auch in bezug auf die Frauen­agitation so zu handeln, wie er nach den Programmfäßen unserer

Nr. 7

Partei zu handeln verpflichtet ist. Wir alle müssen am Werke der Aufklärung weiterschaffen, damit die Millionen deutscher Prole­tarierinnen recht bald auf das Eiapopeia von oben stolz antworten fönnen: Reif sind wir, unsere Leiden zu klagen, Reif sind wir, unsere Wünsche zu sagen, Reif find wir, euch nicht mehr zu ertragen, Reif, für die Freiheit alles zu wagen.

B. Selinger.

Der Agitation dienten elf Versammlungen, die vom 3. bis 14. No­vember in der Provinz Posen   abgehalten wurden. Sehr erschwert wird hier das aufklärende Wirken der Sozialdemokratie durch den Mangel an geeigneten Versammlungslokalen. Sogar in größeren Städten steht der organisierten, flaffenbewußten Arbeiterschaft zur Beratung ihrer wichtigsten Angelegenheiten nur ein Lokal zur Ver­fügung, das oft zu klein ist, um eine größere Zahl von Ver sammlungsbesuchern aufzunehmen. So hat nur ein geringer Bruchteil der arbeitenden Bevölkerung Gelegenheit, sich in Ver­sammlungen Aufklärung zu verschaffen. Die Behörde läßt wie die katholische Geistlichkeit ihren ganzen Einfluß spielen, damit der Be­tätigung der Genossen möglichst viel Schwierigkeiten und Hemm nisse bereitet werden. Aber troß alledem geht es auch in der Provinz Posen   vorwärts. In allen Versammlungen referierte die Unter­zeichnete über Die Steuern und die Frauen". Die Versammlungen in Rawitsch  , Schwerin   a. W., Posen, Nakel und Kolmar waren sehr gut besucht, in Bromberg   war das Lokal so überfüllt, daß der bekannte Apfel nicht zur Erde fallen konnte. Es war den Genossen deshalb auch nicht möglich, unmittelbar nach der Ver­sammlung in der üblichen Weise neue Mitglieder in die Partei auf­zunehmen. Trotzdem meldeten sich sieben Personen zum Beitritt. Den größten äußeren Erfolg erzielten wir in Rawitsch   und Kolmar. Im ersteren Ort gewann die sozialdemokratische Partei 41 Mitglieder, darunter 30 Frauen. Das Ergebnis dieser Versamm­lung ist um so höher zu bewerten, als der Wirt auf Veranlassung der Behörden anfänglich nicht zu bewegen war, sein Lokal zu der Versammlung herzuge ben. Erst um 3 Uhr nachmittags, als unsere Genossen einen letzten Versuch machten, das Lokal zu erhalten, gab der Mann seine Zusage. Eiligst galt es nun, die Laufzettel zu verbreiten, da die Versammlung noch an dem gleichen Tage stattfinden mußte. Die beste Antwort auf all diese Schikanen haben die Versammlungsteilnehmer der Behörde durch die Stärkung der Parteiorganisation gegeben. In Kolmar traten 29 Personen der Partei bei, außerdem wurden noch 11 Mitglieder für den Fabrik­arbeiterverband gewonnen. In Posen wurden der Partei 12 Mitglieder zugeführt. Auch in allen anderen Orten, so in Schwerin  , Birnbaum, Schneidemüht, Schönlante und Lissa wurden neue Anhänger geworben. Eine Ausnahme ist nur für hohen­salza zu verzeichnen. Hier konnte wegen zu schwachen Versamm lungsbesuchs bloß eine Besprechung abgehalten werden. Im ganzen hat diese Agitationstour der Sozialdemokratie einen Zuwachs von 130 Mitgliedern gebracht. Die Bewegung marschiert also auch in der Provinz Posen  . Johanna Reize.

Im Mansfelder Bergbaurevier  , wo vor kurzem ein schwerer Kampf zwischen dem ausbeutenden Grubenkapital und den aus­gebeuteten Knappen die Geister der Enterbten wachgerüttelt hat, hielt die Unterzeichnete mehrere Versammlungen ab. In Hettstedt  war der große Saal dermaßen überfüllt, daß kein Gang frei blieb und Tausende heimkehren mußten. Die Männer hatten große Leitern in den Saal gestellt und sich auf die Sprossen gesezt, so daß prächtige Menschenpyramiden emporragten. Über 2000 Personen, zum großen Teile Frauen, lauschten den Ausführungen der Rednerin. Sie sprach über Die wirtschaftliche und politische Stellung der Frau" und fand stürmische Zustimmung, als sie auf die starte und ungerechte Belastung des Arbeitereinkommens durch direkte und indirekte Steuern hinwies. An der Hand von Zahlen zeigte sie, wie die unentbehr­lichsten Lebensmittel des Arbeiters, Fleisch, Brot, Kaffee, Salz usw., besteuert und verteuert werden, während viele Vurusartikel der Reichen, Vermögen und Erbschaften steuerfrei bleiben. An den Steuerlasten trägt die Proletarierin ebenso schwer wie der Mann, ganz gleich, ob sie in der Fabrik oder als Heimarbeiterin front, oder aber den Haus­halt führt. Darum, so folgerte die Referentin weiter, ist es dringend notwendig, daß die Proletarierinnen sich organisieren, um ihren Männern und Brüdern in der Stunde der Not und des Kampfes als treue Gefährtinnen anfeuernd und helfend zur Seite zu stehen. Die Schmach muß ein Ende nehmen, daß, wie dies leider in manchen Orten noch der Fall gewesen ist, die Frau, Mutter oder Schwieger­mutter als Arbeitswillige ihren männlichen Anverwandten in den Rücken fällt. Die Aufforderung, der Partei als Mitglieder bei­zutreten, wurde von 180 Frauen und 19 Männern sofort beherzigt. Am nächsten Tage schlossen sich ihr beinahe noch hundert weitere