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Politische Rundschau.
Die Gleichheit
Mehr und mehr tritt die preußische Wahlrechtsfrage wieder in den Vordergrund des politischen Interesses. Sie wird die wichtigste Frage sein, die die gesamte deutsche Politik der nächsten Monate beschäftigt. Das Juntertum verteidigt im preußischen Wahlunrecht eine bedeutsame Stütze seiner volksfeindlichen Vorherrschaft nicht bloß in Preußen, sondern auch im Reiche, und weit über die Grenzen Preußens geht deshalb das Interesse an diesem Kampfe. Die Junter sind entschlossen, für ihre Position bis aufs äußerste zu kämpfen. Laut genug haben ihre Wortführer in den lezten Wochen angekündigt, daß sie vor der entschiedensten Opposition gegen die Regierung nicht zurückschrecken werden, wenn es ihr ein faller follte, eine Änderung des Landtagswahlrechts vorzuschlagen, die die jetzigen Vorrechte der Großgrundbesitzer auch nur ganz geringfügig beschneiden tönnte. Die Heydebrand und Oldenburg- Januschau haben mit Drohungen an die Adresse der Minister nicht gespart. Am liebsten wäre es ihnen, wenn das Versprechen der Thronrede vom Vorjahr glatt gebrochen und am Bau des Dreitlassensystems überhaupt nicht gerüttelt würde. Dazu vermag sich der neue Minister präsident v. Bethmann Hollweg freilich doch nicht zu entschließen. Aber zu befürchten haben die Junker nichts von ihm. Dafür spricht, was jetzt aus liberaler Quelle über den Inhalt der Wahlreform bekannt wird, die dem am 11. Januar zusammentretenden Landtag im Laufe der Session zugehen soll. Es zeigt, daß der Minister präsident im Grunde auf dasselbe hinaus will, wie seine fonserva tiven Dränger. Die Reform" soll weit davon entfernt sein, die Dreiklassenschmach aufzuheben. Umgekehrt, es ist geplant, daß sie diese eher noch durch eine Verschiebung der Klassenteilung verschlimmert, die zuungunsten der Arbeiter wirken wird. Außer dem soll die Reform dem Geldfacksprivileg noch das Unrecht der Pluralstimmen anflicken. Die Öffentlichkeit der Wahl und die Ungleichheit der Wahlkreise sollen nicht angetastet werden; lediglich der Fortfall des indirekten Wahlverfahrens ist in Aussicht genommen. Das wäre eine„ Reform", die selbst von den Nationalliberalen verworfen werden müßte, wenn diese Partei auch nur die Interessen der Industriellen konsequent vertreten wollte. Trotz aller Unzuverlässigkeit der Nationalliberalen dünkt es uns doch unwahr scheinlich, daß Herr Bethmann Hollweg etwa Grund haben sollte, auf den Umfall der Partei zu rechnen. Seine Absicht könnte aber dann nur die sein, eine Wahlreform durch diese Vorlage überhaupt zu verhindern und dabei doch den Schein zu wahren, als habe die Regierung das Versprechen der Thronrede eingelöst. Daß es ihm nicht gelingt, die preußische Wahlrechtsfrage durch solche jesuitische Tattit auf absehbare Zeit zu begraben, das muß die Sorge der Sozialdemokratie sein. Die Arbeiterklasse wird den blutigen Hohn dieser Karikatur einer Wahlrechtsvorlage mit entschlossener Wiederaufnahme des Wahlrechtskampfes zu beantworten haben. Der preußische Parteitag, der am 3. Januar zusammentritt, kommt gerade recht, um das Signal zum Sturm zu geben. Die kommenden Monate werden demnach im Zeichen heißen Wahlrechtskampfes stehen müssen. - Die Arbeiterklasse Braunschweigs, die ebenfalls gegen ein schändliches Wahlunrecht ankämpft, veranstaltete neuerlich beim feierlichen Einzug des Regenten anläßlich feiner Vermählung eine wirkungsvolle Straßendemonstration.
Die Programmlosigkeit des Reichskanzlers hat sich, wie voraus zusehen, in Kürze als ein Programm politischer und sozial. politischer Reaktion entschleiert. Das hat die Beantwortung der Interpellationen klärlich gezeigt, die durch den neuesten schmählichen Versuch der Bergherren veranlaßt worden waren, mittels des Zwangsarbeitsnachweises für das Ruhrrevier den Bergarbeitern das Koalitionsrecht zu rauben. Die Unternehmer konnten aus ihr mit Beruhigung entnehmen, daß sie vom Kanzler und vom Staatssekretär des Innern keinerlei Behinderung ihrer Maßnahmen zur Versklavung der Arbeiter zu fürchten haben. Herr Delbrück blieb seiner Vergangenheit als preußischer Handelsminister getreu und handelte als entschlossener Wortführer der Unternehmerinteressen, wenn er auch als angeblich Unparteiischer sprach. Sehr gut stimmt zu biefer Haltung die Meldung, daß der Staatssekretär den Forderungen des Leipziger Arzteverbandes zur Reichsversicherungsordnung nachgegeben habe und die Vorlage ents sprechend umarbeiten lasse. Von einer Berücksichtigung der Arbeiter forderungen verlautet nichts. Den Arbeitern soll also neben der Erdrosselung der Selbstverwaltung in den Krankenkassen auch noch eine Verschlechterung der Stellung der Kaffen zu den Arzten be schert werden.
Ein tragikomischer Zwischenfall hat die Schädlichkeit der Schuh" zollpolitik neuerlich ins Licht gerückt. Damit die deutsche Braugerste im Preise hochgehalten wird, ist im Zolltarif für sie ein
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höherer Zoll als für gewöhnliche Futtergerste festgesetzt. Da aber gute Futtergerste auch vom Brauer benutzt werden kann, haben die Agrarier von der Regierung gefordert, daß sie die zum niedrigeren Bollfah eingeführte Futtergerste auf irgend eine Weise für Brauzwecke unbrauchbar machen lasse. Die den Agrariern allezeit dienstbereite Regierung hat darauf die Färbung dieser Gerste mit einem roten Farbstoff, dem Eosin, vorgeschrieben. Angeblich sollte er dem Bieh nicht schädlich sein, das mit solcher roter Gerste gefüttert wird. Jetzt stellt sich aber heraus, daß die deutschen Schweine das Eosin boch nicht vertragen tönnen. Darm, Magen und Speck färben sich rot und der Verdauungsapparat entzündet sich. So wurde an einem Eosinschwein in den Wandelgängen des Reichstags demonstriert. Die Regierung aber bleibt bei ihrer Versicherung, daß die Versuche an amtlicher Stelle das Gegenteil ergeben hätten, und will die Vorschrift nicht aufgeben. Die Geschädigten sind die Schweinefleischer und die fleinen Landwirte, die vornehmlich die Viehmästung be treiben. Ihre Interessen müssen hinter denen der Großgrundbefizer zurückstehen.
Der preußische Kriegsminister hat einen Feldzug gegen die freie Jugendbewegung unternommen. Er will der Jugend militärische Begeisterung einflößen. Zu diesem Zwecke soll sie von den einzelnen Truppenteilen zu Paraden, Manövern und Übungen als Zuschauer geladen, oder besser noch von den Vorständen der Schulen und Fortbildungsschulen dahin kommandiert werden. Auch diese Art patriotischer Jugenderziehung wird das Erwachen des Klassenbewußtseins im Nachwuchs der Arbeiterklasse nicht hindern fönnen. Nötig ist natürlich, daß die proletarischen Eltern- be sonders die Mütter und die proletarischen Organisationen ihre Pflicht tun bei der Erziehung der Jugend und der Förderung der Jugendbewegung.
Der deutsche Freisinn will sich einigen. Ein Einigungs. programm und organisationsstatut sind ausgearbeitet worden und sollen die drei Richtungen Freifinnige Volkspartei, Freifinnige Vereinigung und süddeutsche Demokraten" unter einen Hut bringen. Die drei Gruppen sollen in Bälde auf ihren Parteitagen darüber beschließen. Wie vorauszusehen war, bedeutet das Einigungsprogramm einen weiteren Schritt nach rechts. Die wenigen demokratischen Forderungen, die sich noch auf der Plattform dieser oder jener Gruppe befinden, werden im Einigungsbrei verwässert. Praktisch bedeutet die Einigung das Aufgehen der beiden anderen Gruppen in die rückständigste und engherzigste von allen, in die Freisinnige Boltspartei der Müller, Kopsch, Eickhoff, Wiemer usw. Womit der neuen Gründung schon von vornherein die besten Aussichten auf ein Einmünden in den Nationalliberalismus eröffnet find.
Bei den Landtagswahlen in Sachsen- Weimar haben die Liberalen ihre bewährten Traditionen" aufrechterhalten, indem sie Agrarier und Antisemiten gegen die Sozialdemokratie heraushieben, die so trok starker Stimmenzahl kein Mandat mehr erlangen konnte.
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Der König der Belgier , Leopold II. , ist gestorben. Er war einer der gerissensten Geschäftsmänner und der Vertrauensmann der Kapitalisten seines Landes, deren Interessen er bei aller scheinbaren Respektierung der Verfassung stets trefflich zu wahren wußte. Mit allen Rapitalisten nahm er es darin auf, daß ihm die Quelle feiner Gewinne ganz gleichgültig war. Der Kongostaat war seine Gründung. An den Millionen, die ihm daraus auflossen, flebten das Blut und die Tränen der aufs grausamste mißhandelten, be drückten und gemordeten Neger. Leopold hat nie einen Finger gerührt, um diese Greuel zu beseitigen, die die Folge der Monopol wirtschaft großer Gesellschaften war, die der König begünstigte. Verdienstvoll an ihm ist, daß er die Heuchelei verschmähte. So hat er seine Mätreffenwirtschaft, seine Familienskandale, seine Hart. herzigkeit vor der Welt offen gezeigt und damit ein Stück mon archischer Legende zerstört. Die belgische Sozialdemokratie hat den Nachfolger, Albert I. , den einige französische Sensationsblätter als sozialistischen König" anpriesen, mit einer scharfen grundsätz lichen Kundgebung für die Republik empfangen.
In Osterreich drohte die Obstruktion einer Handvoll tschechischer Agrarier und Radikaler die Arbeit des Reichsrats dauernd zu verhindern und dem Absolutismus der Krone den Weg zu bahnen. Die Mehrheit suchte, gedrängt von der Sozialdemokratie, die frivole Obstruktion durch eine Dauersigung niederzuzwingen. 86 Stunden währte sie ununterbrochen Tag und Nacht; ein System der Ablösung ermöglichte es, die Beschlußfähigkeit des Hauses aufrechtzuerhalten. Die Sache nahin ein überraschendes Ende. Aus den Reihen der obstruierenden und die Obstruktion begünstigenden slawischen Parteien wurde ein Antrag gestellt, eine Notgeschäfts: ordnung zu erlassen, die für ein Jahr gelten sollte und die jeg liche Obstruktion unmöglich macht, indem dem Präsidenten weit