Nr. 4

21. Jahrgang

Die Gleichheit

Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen

Mit den Beilagen: Für unsere Mütter und Hausfrauen und Für unsere Kinder

Die Gleichbett erscheint alle vierzehn Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Post vierteljährlich obne Bestellgeld 55 Pfennig; unter Kreuzband 85 Pfennig.

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Jabres- Abonnement 2,60 Mark.

Inhaltsverzeichnis.

Stuttgart  

21. November 1910

Für der Menschheit Zukunft. Eine feudale Ruine. Von Franz Mehring  . Eine Wanderung durch die Weltausstellung in Brüssel  . I. Von A. Th. - Säuglingsernährung und Säuglingssterblichkeit. I. II. Bon Dr. A. Lipfius. Aus den Erinnerungen einer Krankenschwester. Von Hannah Lewin- Dorsch. Kinderausbeutung auf dem Hotzenwald. Von t. h.­Wie können sich unsere Genossinnen am besten bilden? Von L. Radlof. Der Kampf der Frauen um Schutz für Mutter und Säugling. Von Luise Zietz  .

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Aus der Bewegung: Von der Agitation. Bericht der Genoffinnen von Mannheim  . Erste württembergische Frauenkonferenz. Nachtrag zud em Bericht über die Frauenkonferenz des westlichen Westfalens. Sophie Koenen+ Politische Rundschau. Von H, B. Gewerk schaftliche Rundschau.- Tarifabschluß in den Schmöllner   Knopffabriken. Von fk. Genossenschaftliche Rundschau. Von H. F. Notizenteil: Dienstbotenfrage. Frauenarbeit auf dem Gebiet der Indu strie, des Handels- und Verkehrswesens. Soziale Gesetzgebung. Landarbeiterfrage. Frauenstimmrecht. Verschiedenes.

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Für der Menschheit Zukunft.

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Wer eine Aussaat schneidet, die kaum in die Halme zu schießen beginnt; wer die Art an den gesunden Stamm eines Baumes legt, welcher Frucht tragen soll: der macht sich eines Wahnsinns schuldig. Darüber wird unter leidlich vernünftigen Menschen fein Streit sein. Nun wohl! Dieser Wahnsinn, zum Verbrechen gesteigert, ist tagtäglich die Schuld der kapitalistischen  Ordnung und ihrer Nuznießer. Oder sollte vielleicht mütter liches und kindliches Leben weniger wert sein als Getreide und Obstbäume? Schier will es so dünken, wenn man vergleicht, wie faltblütig, skrupellos der Kapitalismus Hekatomben von Müttern und Kindern opfert, und wie sorgsam bedacht er sein fann, um von Halm und Strauch reiche Ernte zu gewinnen, die Schweinewirtschaft und die Zucht edler Raffepferde zu heben. Und die Verwüstung lebendiger Kräfte da, die Schomung hier hat eine gemeinsame Wurzel: das Drängen nach Profit. Die kapitalistische Ordnung ist und bleibt die Gesellschaft der unvereinbaren Gegensätze auch im einzelnen, weil an ihrer Grundlage mit dem Privateigentum an den Produktionsmitteln der eine allgemeine, große Gegensatz liegt zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, der seine letzte und klassische geschichtliche Form in dem Klaffenantagonismus zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat gefunden hat. Dieser Grundsatz bewirkt es, daß der tote Besitz den lebendigen Menschen knechtet und mordet, und eine der scheußlichsten Arten dieses Mordes ist unstreitig die Hinschlachtung der Mütter und Kinder für den tapitalistischen Profit. Die Geschichte des Kapitalismus   ist mit Proletarierblut geschrieben, aber am reichlichsten von allem ist doch das von Frauen und Kindern geflossen. Warum? Weil Frauen und Kinder die billigsten und wehrlosesten der Opfer find. Die Blüte ganzer großkapitalistischer Industrien ist auf einem Boden gewachsen, den weibliche und findliche Gebeine gedüngt haben.

Gewiß: wo der Kapitalismus über den stürmischen über schwang seiner Flegeljahre hinaus ist, da hören wir nicht mehr

Zuschriften an die Redaktion der Gleichbeit find zu richten an Frau Klara Zetkin  ( 3undel), Wilhelmshöhe, Post Degerloch bet Stuttgart  . Die Expedition befindet sich in Stuttgart  , Furtbach- Straße 12.

von jenem bethlehemitischen Morden ausgebeuteter Kleinen, von jenem Massenwürgen weiblicher Leiber und Seelen, wie es der Triumphzug der Maschine und des Großbetriebs zum Beis spiel in der englischen, französischen und deutschen Textilindustrie begleitet hat. Das sich aufbäumende Menschentum der Aus­gebeuteten und die Furcht der Ausbeutenden vor dem Mangel an Maschinenfutter und Kanonenfutter sind endlich dem profit­trunkenen Kapital in den Arm gefallen. Jedoch, wie wenig ist fein Gelüften gezügelt! Noch geht eine Vernichtung mütterlichen und findlichen Lebens ihren entsetzlichen Gang, die die Zukunft der Arbeiterklasse, der Menschheit bedroht. Genossinnen, blättert die Berichte der Fabrikinspektion durch, die Statistik der Ar­beiterkrankenkassen, die umfangreiche fachwissenschaftliche Lite­ratur von Ärzten, Hygienikern, Sozialpolitikern. Häuft sich da nicht zu furchtbarer Höhe das Anklagematerial, das den Würger Rapitalismus seines Verbrechens überführt? Wandert durch die Hütten der Arbeit und sucht die Armenkirchhöfe auf! Klingt es da nicht von Siechbetten und Gräbern: Wir klagen an!"

Da sind Frauen, die die Fruchtbarkeit ihres Leibes qual­voll verhehlend bis furz vor ihrer schweren Stunde bei harter Fron für Bettelpfennige aushalten. Müde Wöchnerinnen, die ungepflegt und fiebernd sich bald nach der Niederkunft erheben, weil sie weinende Kinder und einen Haushalt versehen müssen. Bresthafte Weiber, die nie das tückische Leiden überwinden, das Überbürdung während der Schwangerschaft und mangelnde Fürsorge während des Wochenbettes über sie verhängt haben. Unglückliche, die ihre Liebe und ihres Leibes Frucht verfluchen, denn sie denken all der Pein, die ein Esser, ein Pflegebedürf tiger mehr bedeutet. Da sind Geschöpfchen, die schwächlich und frant nur geboren werden, um bald dahinzuwelfen oder schmerz­beladen zu vegetieren. Säuglinge, denen der Hunger von Ge schlechtern die mütterliche Nahrungsquelle versiegen ließ, denen die Natur der Arbeitsstoffe, mit denen die Mutter hantiert, sie in Gift verwandelt. Da ist ein trostloser Zug kindlicher Verdammter, die sterben und verderben, weil die mütterliche Betreuung fehlt, weil der Zwang des Verdienenmüssens ihren Körper und Charakter meuchelt, ehe sie zur Reife kommen. Am Schlusse das junge Mädchen, das, ohne das Recht der Kindheit auf Freude und Erziehung genossen zu haben, dank der Aus­wucherung seiner Kräfte physisch gebrochen, seelisch unvorbereitet der Mutterschaft entgegengeht. So schließt sich der Ring, ein Ring des Todes!

Kann die kämpfende Arbeiterklasse ihn unangetastet lassen? Mit nichten! Das hieße den Wahnsinn der kapitalistischen   Ord­nung selbstmörderisch übergipfeln. Der würgende Ring muß um der Befreiung der Klasse willen gesprengt werden, und nur des Proletariats eigene Kraft vermag ihn zu sprengen. Die Zukunft ist der Acker, auf dem die Saaten der Arbeiterklasse reifen. Die Zukunft aber liegt in einer förperlich, geistig, fitt­lich gesunden proletarischen Jugend beschlossen. Eine solche Jugend bedarf der Mütter, die fraftstrogenden Leibes Kinder tragen, gebären und nähren, die hellen, kühnen Geistes und starten, treuen Herzens Nachkommen erziehen. So sind Mutter und Kind in ihrer Schußbedürftigkeit gegen den Kapitalismus