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Die Gleichheit

unlöslich verbunden, der in seinem Goldhunger die Grenzen der Vernunft wie der Menschlichkeit überrennt. Ein zweiter Kreis schließt sich gegen den Feind, ein Kreis des Lebens!

Genossinnen! Ihr kennt die von uns geforderten sozialen Reformen, die sich Glied für Glied zu diesem Schutzkreis für Mutter und Kind zusammensehen. Für einen Teil von ihnen gilt es jetzt ernsthaft zu kämpfen. Es sind das die Forderungen, die in das Gebiet der Reichsversicherungsordnung fallen, welche in der nächsten Zeit zur Verhandlung im deutschen Parlament steht. Dürftig sind die Ansätze zu Mutter- und Säuglings schutz durch die Versicherungsgesetzgebung. Sie müssen vorwärts getrieben werden, und das kann nur das Werk der proleta rischen Massen sein. Die Sozialdemokratie ruft die Proletarie­rinnen in die ersten Reihen des Kampfes, der wir haben darauf hingewiesen bitter not tut und wie kaum ein zweiter eigenfte Angelegenheit der Frauen ist. Genossinnen, sorgt das für, daß der Ruf gehört und verstanden wird. Je bescheidener die Forderungen sind, um die jetzt zunächst gekämpft werden muß, um so dringlicher ist es, daß sie rasch ihre Erfüllung finden. Der gen Himmel schreiende kapitalistische Frevel an Mutter und Kind muß bald die Losung diftieren: Weiter!" Die katholische Kirche   hat Mutter und Kind in ihren Himmel erhoben; die kapitalistische Ausbeutungsordnung hat sie in ihre Hölle hinabgestoßen; der proletarische Klaffenkampf setzt sie auf Erden in ihre Rechte ein. Also will es sein gewaltiges ge­schichtliches Ziel, die Befreiung des Proletariats, die der Mensch heit Zukunft ist.

Eine feudale Ruine.*

Eben ist mit rauschendem Tamtam der hundertste Geburts­tag der Berliner   Universität gefeiert worden, und um so mehr überrascht es, daß die wehlgesinnten Patrioten mit schamhaftemt Schweigen an einem anderen hundertsten Geburtstag vorüber schleichen, der doch ein echt preußischer Geburtstag ist: wir meinen den hundertsten Geburtstag der preußischen Gesinde ordnung am 8. November 1810.

Aber vielleicht haben sie ihre guten Gründe dazu, denn der Glanz der Stein- Hardenbergschen Gesetzgebung, worin sie sich so manches Jahrzehnt gesonnt haben, ist mehr und mehr ver­blichen. Dank dem Fleiße deutscher und französischer Forscher wissen wir heute, daß der ruchlose Korse" in viel höherem Grade noch der Wohltäter namentlich des ostelbischen Deutsch  land gewesen ist, als durch die allgemeine Tatsache, daß er das vermoderte Reich und den nicht minder vermoderten Staat des alten Frizz zertrümmert hat. Indem Napoleon   aus den Ländern, die er im Tilsiter Frieden dem preußischen König ent­riß, im Osten das Herzogtum Warschau und im Westen das Königreich Westfalen   schuf, in beiden Ländern aber durch seine Vasallen moderne Einrichtungen schaffen ließ, setzte er dem preußischen König und dem preußischen Juntertum zwei Sporen in die Flanken, die diese edle Rasse, wenn auch unter heftigem Widerstreben und unter wütendem Geheul, auf die Bahn der Reformen trieben.

Die erste Reform war das vielberühmte Oftoberedift von 1807, das die bäuerliche Erbuntertänigkeit aushob. Es ver dankte sein Dasein der Angst vor den bäuerlichen Reformen des Herzogtums Warschau  ; der Kanzler Schrötter betrieb es, noch ehe der von Napoleon empfohlene Reformminister Frei­herr vom Stein die Zügel ergriffen hatte, unter dem einleuch tenden Gesichtspunkt, daß die oft und westpreußischen Bauern - und aus Ost- und Westpreußen   bestand damals im wesent­lichen der preußische Staat in Massen über die Grenze gehen würden, wenn sie im Herzogtum Warschau bessere Eri stenzbedingungen finden würden als unter der hohenzollernschen Herrschaft. Bekanntlich war das Edift nichts weniger als eine epochemachende Neuerung; es hinfte vielmehr mühsam der eng lischen, französischen, italienischen, holländischen, schweizerischen, dänischen, ja selbst der österreichischen, badischen und schleswig holsteinischen Gesetzgebung nach, und neuerdings haben sogar

* Aus Nr. 6 der Neuen Zeit".

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junkerliche Schriftsteller, die es immer noch nicht verdauen fönnen, mit nicht ganz unebenem Hohne gesagt, indem das Edikt den Bauern zwar die Freiheit der Person, aber nicht auch die Freiheit des Eigentums gewährte, habe es die bäuer liche Klasse in eine viel üblere Lage gebracht, als in der sie sich vorher befunden hätte.

Immerhin hatte das Editt aber, wenn es den Bauern auch nur erst die Freiheit der Person gab, doch einen reellen Vor teil für fie. Es beseitigte mit dem Zwangsgesindedienst eine it dem Zwangsgesindedienſt eine ihrer größten Plagen. Und es ist nun höchst charakteristisch, daß derselbe Kanzler Schrötter, der zuerst das Edikt aus Angst vor dem Auswandern der Bauern angeregt hatte, auch der erste war, der trotz des Edikts die Aufrechterhaltung des Zwangs­gesindedienstes durch eine Gesindeordnung befürwortete. Ganz im Stil der Junterklasse, die ihre unsaubersten Interessen durch salbungsvolle Redensarten zu verkleiden sucht, wurde der edle Junker zu seinem edlen Vorschlag nur durch die Sorge um das geistige und leibliche Heil der Bauernkinder veranlaßt. Er stellte den Gesindezwang auf dieselbe Stufe mit dem Schul­zwang; wie die Eltern gezwungen würden, ihre Kinder in die Schule zu schicken, damit sie nicht ohne die allernotwendigste Bildung aufwüchsen, so müßten sie auch gezwungen werden, ihre Kinder in den Junkerdienst zu geben, damit nicht die bo­russische Herrlichkeit in einem allgemeinen Müßiggang versumpse.

Stein jedoch, der nun im Sattel saß, hatte fein Ohr für diese Forderungen, in denen sich Albernheit und Frechheit so glücklich das Gleichgewicht hielten. Er fertigte sie furzweg mit der Bemerkung ab:" Die bisherige Neigung zum Müßiggang fann nur als eine Folge des Zwanges betrachtet werden und wird sich eben dann verlieren, wenn dieser Zwang und die davon unzertrennliche schlechte Bezahlung aufhört." Natürlich hörten deshalb aber die Junker nicht auf zu wühlen; sie vers langten mindestens einen fünfjährigen Dienstzwang für den gesamten männlichen und weiblichen Nachwuchs der ehedem erbuntertänigen Bevölkerung, Marimal, aber keineswegs Mini mallöhne nicht nur für die Knechte und Mägde, sondern auch für die Taglöhner und ähnliche schöne Dinge mehr. Jedoch auch Stein und sein Mitarbeiter Schön blieben fest; fie ver­warfen jede Art von Gesindeordnung, die immer, sei es in dieser, sei es in jener Form, auf die Wiederherstellung der Erbunter tänigkeit hinauslaufe.

Es ist bekannt, durch welches infame Mittel dann die Junker mit diesem hartnäckigen Menschen aufcäumten; sie denunzierten Stein wegen seiner franzosenfeindlichen Tendenzen in Paris  . Aber mit Stein wurden sie die Sporen nicht los, die Napoleont in ihre Flanken gesezt hatte. Hatten die Reformen im Herzog, tum Warschau   den Anstoß zu dem Oktoberedift von 1807 ge­geben, so gaben nach der Räumung der Mark Brandenburg durch die französischen   Truppen und der Rückkehr des Königs von Königsberg   die Reformen des Königreichs Westfalen  , die sich vor den Toren Berlins   vollzogen, den Anstoß zu der Gesetz gebung Hardenbergs. Ihre Urheber selbst sagten ganz ehrlich, man müsse dem gefährlichen westfälischen Nachbarn in der Gunst der Opinion( der öffentlichen Meinung) den Rang ab laufen", und selbst wenn er es nicht gesagt hätte, so offenbarte sich seine ganze Gesetzgebung, als sie sich gerade vor hundert Jahren in einer ersten großen Welle zu ergießen begann, als ein feineswegs verbesserter Abklatsch der Gesetze, mit denen der König Morgen- Wieder- Lustik diejenigen Deutschen   beglückte, die seinem Zepter untertan waren. Freilich mit der einen Aus­nahme, die jede Regel bestätigen muß: die Gesindeordnung Hardenbergs war echt preußisches Gewächs. 510

Es ist richtig, daß in ihr nicht alle Blütenträume der Schrötter und Genossen reiften. Das verbot die gefährliche" westfälische Nachbarschaft. Den Zwangsgesindedienst konnte die Gesindeordnung nicht wieder einführen, auch nicht die Maximallöhne, die zu überfordern nach der biederen kurmär fischen Gesindeordnung vom 11. Februar 1769 dem Gesinde bei Buchthausstrafe verboten war. Auf diese Proben christlich­germanischer Gesinnung mußten die Junker tränenden Auges verzichten. Auf der anderen Seite ist es jedoch blühender Un­