Nr. 4
Die Gleichheit
sinn, wenn Treitschke sagt, die Gesindeordnung Hardenbergs sei, nachdem der harte Gesindezwang kaum erst aufgehört habe, den Zeitgenossen als eine radikale Neuerung von unerhörter Kühnheit erschienen. Stein und Schön hatten jede Gesinde ordnung als ein Attentat auf das Oktoberedikt verworfen und dieser Überzeugung noch in dem von Schön verfaßten- politischen Testament, das Stein bei seinem endgültigen Austritt aus dem preußischen Staatsdienst unterschrieb, unum wunden Ausdruck gegeben.
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In der Tat war die neue Gesindeordnung auch unter den damaligen Verhältnissen nichts anderes als ein Ausnahme gesetz gegen die wehrlosesten Schichten der Arbeiterbevölkerung, und die Junker brauchten sie nicht bloß mit einem weinenden, sondern konnten sie auch mit einem lachenden Auge betrachten. Mit dem minderen Rechte des Gesindes gegenüber der Herrschaft, mit der häuslichen Versklavung des Gesindes, mit dem lieblichen Prügelparagraphen usw. hatten sie doch alles Wesent liche erreicht, was sie wollten, zumal da es bei der gutsherr lichen Polizei und der Patrimonialgerichtsbarkeit blieb.
Mit der preußischen Verfassung von 1850, die alle Preußen als gleich vor dem Gesetz erklärte, hörte die Gesindeordnung von Rechts wegen auf zu existieren, aber keineswegs von Gewalt wegen. Da es die heiligste überlieferung des preußischen Rechtsstaats" ist, daß in ihm allemal Gewalt vor Recht geht, so blieb es bei der Gesindeordnung, und es war eigentlich über flüssige Mühe, daß sich das seile Obertribunal noch im Schweiße seines Angesichtes abquälte, zu beweisen: die Verfassung sage zwar ausdrücklich, daß alle Preußen vor dem Gesetz gleich sein sollten, aber sie meine das Gegenteil. Die Gesindeordnung blieb nicht nur bestehen, sondern wurde noch verschönert durch das Gesetz vom 24. April 1854, betreffend die Verlegung der Dienstpflichten des Gesindes und der ländlichen Arbeiter, das unter anderem jeden Versuch des ländlichen Proletariats, seine Lebenshaltung durch Arbeitseinstellungen zu verbessern, mit Gefängnis strafe nicht unter einem Jahre bedroht.
So ragt diese feudale Ruine noch in die moderne Welt hinein, und es mag auch von ihr gelten, was Genosse Bebel jüngst von der Theaterzensur sagte: schwerlich wird sie eher verschwinden, ehe dem junkerlichen Unwesen im Deutschen Reiche der große Kehraus getanzt worden ist. Gleichwohl dürfen wir heute schon mit einiger Genugtuung sagen, daß die preußische Gesindeordnung an ihrem hundertsten Geburtstag als recht zerpluderte Mummelgreisin erscheint. Das„ Gesinde" ist sich längst seiner Menschenwürde bewußt geworden; es pfeift auf die Be scheidenheit“ und„ Ehrerbietung", womit es die" Befehle und Verweise der Herrschaft" annehmen soll; trotz Knigge hat es sich um den guten Ton große Verdienste erworben, indem es den„ Sauherdenton", den die Gesindeordnung zum Vorrecht der Herrschaft macht, in ganz nette Manieren abzudämpfen verstanden hat, und vor dent Prügelparagraphen haben selbst Herrschaften vom Temperament des Knuten- Ortel eine ganz ehrerbietige" Scheu. Wenn die häusliche Versklavung das Gesinde schlechter stellt als andere Schichten der arbeitenden Klaffen, so bietet sie ihm dafür desto reichlichere Gelegenheit, die„ Herrschaft" zu erziehen, und es soll am hundertsten Geburtstag der Gesindeordnung nicht verkannt werden, daß sie in dieser Beziehung eine recht wohltätige Wirkung gehabt hat.
Bei alledem aber bleibt auf diesem Gebiet noch viel zu tun übrig, und der Kampf gegen die Gesindeordnung als Produkt echt preußischer Gesetzgebung darf noch lange nicht aus der ersten Reihe des proletarischen Emanzipationstampfes verschwinden. Franz Mehring .
I.
Ganz ist's doch nicht damit abgetan, daß man die Weltausstellungen spöttisch als Riesenjahrmärkte bezeichnet. Sie sind wesentlich mehr. Schon nach ihrer Ausdehnung. Die Brüsseler
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bedeckt nahezu 100 hektar. Das ist eine Fläche, auf der eine mittlere Stadt Platz findet. Aber auch ihrem Wesen nach. Die Weltausstellungen sind rein kapitalistische Unternehmungen, so sehr sie auch neuerdings mit sozialem Flitterkram verbrämt werden, weil das jetzt so Mode ist. Nicht Zufall war's, sondern es entsprang der inneren Natur des Kapitalismus, daß die erste Weltausstellung vor sechzig Jahren ins Leben gerufen wurde, also zu der Zeit, als die kapitalistische Produktion sich so weit entwickelt hatte, daß die heimischen Märkte nicht mehr die ganze Menge der erzeugten Waren zu verschlucken ver mochten und deshalb der Kapitalismus darauf bedacht sein mußte, den Weltmarkt sich aufzuschließen und zu erobern. Das ist der Zweck der Weltausstellungen von Anfang an gewesen; er ist es heute noch.
Gewiß! Die weitaus meisten der Millionen Besucher einer Weltausstellung wandeln nur von Halle zu Halle, von Pavillon zu Pavillon, um sich alle die zahllosen und verschiedenartigen Waren anzuschauen, die hier in erdrückender Menge aufgestapelt sind. Doch gibt es auch nicht wenige, die wochenlang fast ausschließlich in einer bestimmten Abteilung verweilen. Das sind die, welche für ihr spezielles Erwerbsgebict etwas Neues herausschnüffeln möchten, eine technische Verbesserung, eine neue gefällige Form, die weitere Verwendbarkeit eines Rohstoffes, ausgiebigere Betriebsmethoden oder dergleichen. Das alles ist auf einer Weltausstellung zu finden. Wer noch keine besucht hat, ist gänzlich außerstande, sich eine flare Vorstellung zu bilden über die unendliche Mannigfaltigkeit dessen, was da alles zu sehen ist.
Es gibt schlechterdings kein Naturprodukt, keine Industrie, fein Kunsterzeugnis, das nicht ausgestellt wäre. Neben riesigen Stämmen tropischer Nutzhölzer liegen duftende Gewürze aus Indien oder kostbare Minerale in rohem Zustande und in ver faussfertiger Bearbeitung. Gold aderförmig in Gesteine eingesprengt, aber auch in nußgroßen gediegenen Stücken. Dort schwimmt auf dem Quecksilber, mit dem ein großer eiserner Kessel gefüllt ist und das allein Zehntausende von Mark wert ist, eine massive Stahlfugel von wohl mehr als zwanzig Zentimeter Durchmesser. Sie kann nicht untersinken, weil das Quecksilber viel schwerer ist; leicht wie eine Feder schwimmt die Kugel auf dem silbernen flüssigen Metall. Da wieder funkeln, sorgsam behütet und unter festem Verschlusse, Edelsteine aller Art, Ru bine, Türkise, Smaragde, Topase, Diamanten- rot, grün, blau, gelb, weiß, das Auge schmerzt von dem feurigen Lichte, das sie ausstrahlen, und das manchem Mädchen, mancher Frau schon soviel Leid gebracht hat. Man darf gar nicht anfangen, alle die Schätze aufzuzählen, sonst wird man nicht fertig.
Und erst die Industriehallen! Was soll man da als das Wichtigste herausgreifen? Soll man die kostbaren französischen oder englischen Kostüme erwähnen, leicht und duftig wie Spinn gewebe oder auch aus schwerster Seide gefertigt, von denen jedes 1000 Mt. und mehr kostet? Oder die türkischen und perfischen Teppiche, von den kleinsten und feinsten an bis zu denen in Wandgröße? Oder die kunstvollen Stickereien? Ach, das sieht alles so herrlich aus. Aber ich gedente dabei des Elends der Heimarbeiterinnen in der Konfektionsbranche; ich erinnere mich an das Jammerleben der Spitzenklöpplerinnen im Erz gebirge , an die bleichen Mädchen und Frauen, die mir in den Hauptstädten der englischen Textilindustrie begegneten, an eine große Teppichmanufaktur, die ich bei Brussa in Kleinasien besuchte, in der über 200 Mädchen von 7 bis 17 Jahren ein wahres Gefangenenleben führen mußten. Außer fümmerlichster Kost erhielten sie wöchentlich nur 2 bis 3 Piaster( 1 Piaster gleich 18 Pf.) Lohn für täglich 12 bis 14 stündige angestrengteste Arbeit. Vor solchen Gedanken verblassen die feinsten Sticke reien und Gewebemuster, und man verliert die Lust, noch länger in den Räumen zu weilen, die so grell veranschaulichen, wie das elegante Prozentum mit dem Lebensglück Tausender Frauen und Mädchen des Proletariats erkauft wird.
Aber in welche Halle wir uns auch flüchten wollen, überall grinst uns aus den dunklen Ecken und Winkeln hinter den zur Schau gestellten Kostbarkeiten die Not und Entbehrung derer