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Die Gleichheit
entgegen, deren rastloser Fleiß diese Rostbarkeiten erst geschaffen hat. Hier stehen allerliebste Spielsachen aller Art aus Holz, Metall, Papiermaché oder Fell gearbeitet. Aber die Arbeiter frau, unter deren emfigen Fingern sie erstanden sind, kann sie nicht für ihre eigenen Kinder kaufen; sie sind zu teuer. Dort ziehen die feinsten Leder und Galanteriewaren unser Auge auf sich. Wieder zum guten Teile Frauen und Mädchenarbeit. Aber dieselben Frauen und Mädchen müssen sich mit billiger Marktware begnügen. Da wieder werden wohlriechende Seifen und kostbare Essenzen aus duftenden Blumen oder andere kos metische Mittel vor unseren Augen bereitet, und wiederum haben Frauen und Mädchen an der Herstellung hervorragen den Anteil. Selbst in der ungeheuren Maschinenhalle, wo ge waltige eiserne Kolosse ihre Stählernen Fänge ausrecken und dicke ciferne Wellen zerschneiden oder abdrehen, als handle es sich um weiches Wachs, treffen wir auf die Frau; auch hier ist sie am Produktionsprozeß beteiligt.
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Keine Industrie ohne Frauenarbeit. In der Bearbeitung von Nahrungs- und Genußmitteln herrscht sie vor. Wir sehen, wie die feinsten Tafelschokoladen und hundert andere süße Leckereien vor unseren Augen entstehen, bis sie durch Mädchen in appetitliche Umhüllungen gepackt und dem Besucher zum Kaufe angeboten werden. Auch wer sonst kein Freund von Süßig feiten ist, nascht hier gern einmal. Für 5 oder 10 Zentimes ( 4 oder 8 Pf.) werden allerlei Proben" angeboten, und das Zeug schmeckt gut. Wer Luft hat, sich für eine Woche den Magen zu verderben, kommt hier zu diesem Bergnügen für billiges Geld. Nun sind wir doch in Details hineingekommen, was gar nicht beabsichtigt war. Aber die Erinnerung an die unerschöpf liche Fülle von Einzelheiten, die eine Weltausstellung uns bietet, ist eben zu mächtig. Und selbst die beredteste Feder müßte sich ohnmächtig fühlen, in furzen Zügen ein lückenloses getreues Gesamtbild alles deffen zu geben, was hier vor das Auge tritt. Nur noch einige Produktionsgebiete seien gestreift, in denen die Frau gleichfalls eine wesentliche Rolle spielt. Dazu gehört die Industrie der Musikinstrumente. Mit Deutschland traten auf diesem Gebiet Frankreich , Belgien , England, Italien und Spanien in Wettbewerb. Aber Deutschlands Ausstellung an Streich, Blas- und Zupfinstrumenten, an Pianos und Konzertflügeln, an Orgeln, Mund- und Ziehharmonikas, an Grammophonen, Phonographen und wie die Dinge alle heißen, ist am vollständigsten. Man ist erstaunt, wenn man erfährt, welche Massen von Musikinstrumenten jährlich in Deutschland hergestellt werden. Für 60 bis 70 Millionen Mark derselben werden allein jedes Jahr nach dem Ausland verkauft, ungerechnet den riesigen Bedarf in Deutschland selbst. 1909 gingen über 50000 Klaviere für mehr als 30 Millionen Mark aus Deutschland ins Ausland, fast 200000 Geigen für 2 Millionen Mart, etwa eine halbe Million Ziehharmonifas für 3 Millionen Mark, viele Millionen Mundharmonikas für 3 Millionen Mark, für 2 Millionen Mark Orchestrions und andere mechanische Spielwerke, für 4 Millionen Mark Klaviermechaniken und Klaviaturen, für 6% Millionen Mark Phonographen und Grammophone, für ben gleichen Betrag Walzen und Platten. Es handelt sich demnach um eine gewaltige Industrie. Und welche herrliche Tonfülle entfirömt den Instrumenten, wenn fundige Hand fie meistert. Jetzt zart und lind wie kosender Abendwind, dann wieder in leidenschaftlicher Glut, daß man sich versezt fühlt in eine Bußtaschente Ungarns , wo Zigeunerinnen in verzehrendem Feuer von ihren Tängern herumgewirbelt werden; dort ein frommes Adagio auf einer Orgel und da ein prickelndes Scher zando von Offenbach , ein leichtbeschwingter Walzer von Strauß, das in Töne verflüchtigte echte Wiener Blut. Man begreist, daß manche stundenlang in den weichen Sesseln dieser Abteilungen ruhen bleiben und im füßen Nichtstun den Weisen lauschen. Viele fleißige Frauenhände haben mitgewirkt, die Musikinstrumente aller Art zu schaffen.
Zuletzt rasch noch einen flüchtigen Blick in die Abteilung für das Buchgewerbe, in dem Deutschland neuerdings tonangebend geworden ist. Unter den 103 000 Personen, die 1907 in der deutschen Papierfabrikation beschäftigt wurden und unter
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den 73 000 in den Buchbindereien Tätigen befinden sich mehr als die Hälfte Frauen und Mädchen. Fast scheint es, als habe sich die natürliche Zierlichkeit und Sauberkeit des weiblichen Geschlechts auf die Produkte ihrer Arbeit übertragen. Aber dort ist eine neue Falzmaschine in Betrieb. Sie falzt in einer Stunde 4000 große Bogen drei bis viermal. Das ist die Arbeit von sieben bis acht geübten Handfalzerinnen. Sehr gut, daß wieder durch eine Maschine geisttötende menschliche Handarbeit überflüssig gemacht worden ist. Doch was wird aus den sechs bis sieben Mädchen, die auf ihrer Hände Arbeit angewiesen sind und die nun gleichfalls überflüssig werden? Denn die Maschine bedarf zu ihrer Bedienung nur einer Arbeitskraft. Und welche Folgen hat die an sich zu begrüßende neue Erfindung für die Tausende von Falzerinnen, die in Be trieben stehen, deren Besizer nicht imstande sind, sich die zu Monopolpreisen verkaufte Maschine anzuschaffen? Sie werden erheblichen Lohndrückungen ausgesetzt sein, weil ihre Brot geber", die in Wirklichkeit ihre Brotnehmer sind, sonst nicht mit ihren befferbemittelten Ronkurrenten Schritt halten können.
Eine Weltausstellung ist eine große Lektion im Anschauung 3- unterricht, die für jeden, der verstehen will, den Sozialismus predigt. Wie unendlich wohl wird sich die Welt fühlen, wenn die Maschine und die mit ihrer Hilfe erzeugten Produkte aller Art nicht mehr der Profitmacherei ihrer Besitzer dienen werden, sondern wenn die technischen Fortschritte der Gesamtheit zugute fommen werden. Dann brauchte die tägliche Arbeitszeit noch feine sechs Stunden zu dauern und das Arbeitsjahr keine 300 Tage, und doch würde jeder alles reichlich haben fönnen, was er zu einem vollen Kulturleben braucht. Der französische Philosoph Voltaire schrieb einst:„ Ecrasez l'infâme!"( Ber schmettert die Verruchte!) Er meinte damit die Kirche und allen religiösen Wahnglauben. Auch der Besuch einer Weltausstellung drängt uns den Zornschrei auf die Lippen:„ Ecrasez l'infâme!" Berschmettert den Berruchten, den Kapitalismus, den Verderber des Menschenglücks, den schrecklichen Menschenfresser, den furchtbaren Vampir am proletarischen Blute.
A. Th.
Säuglingsernährung und SäuglingsSterblichkeit."
I.
Die Zahl der Kinder, die auf die Ernährung mit Muttermilch verzichten müssen, hat im Laufe der letzten zwei Jahr zehnte in sehr großem Maße zugenommen. So wurden zum Beispiel in Leipzig im Jahre 1890 beinahe 37 vom Hundert der Kinder sechs Monate lang gestillt, 1905 nur noch etwa 16 vom Hundert. In Solingen nährten im Jahre 1902 80 vom Hundert Frauen ihre Kinder nicht an der Brust; die Mütter aber dieser befragten Frauen hatten alle dies getan. In Köln stillten im Jahre 1902 mehr als 60 vom Hundert Frauen ihre Kinder nicht; die Mütter dieser befragten Frauen hatten mit Ausnahme von nur 6 vom Hundert ihren Kindern die Brust gereicht. Ahnliche Zahlen liegen auch für andere Städte vor. Die mitgeteilten Angaben mögen nur als Beispiele dienen.
Die Zahl der Frauen, die heute ihre Kinder selbst stillen, ist in den einzelnen Gegenden recht verschieden. Manchmal find es nur wenige Mütter vom Hundert, die ihren Kindern die Bruft nicht reichen, manchmal beträgt die Zahl der Nichtstillenden mehr als die Hälfte der Mütter.
Die Art der Ernährung, ob Muttermilch oder Kuhmilch, ist für den Säugling nicht gleichgültig. Untersuchungen, die an verschiedenen Orten angestellt worden sind, haben gezeigt, daß die Sterblichkeit der mit Muttermilch genährten Kinder sehr viel geringer ist als die Sterblichkeit der Säuglinge, die mit Kuhmilch ernährt werden. So starben in Berlin in den Jahren 1895 bis 1896 auf 100 Lebendgeborene bei Ernährung mit Brust milch... Kuhmitch
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