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Die Gleichheit

aus der Schüchternheit unserer Frauen, als daraus, daß ihnen die behandelten Gegenstände noch fremd erscheinen. Das Eis der Zurück­haltung fann nur gebrochen werden, wenn die des Diskutierens gewohnten Genossinnen durch ihr Beispiel die Angstlichen und Un fundigen anzueifern suchen. Die Früchte werden sich bald zeigen. Wenn ich Genossin Wackwitz recht verstanden habe, hält sie auch das Bebelsche Buch:" Die Frau und der Sozialismus" für geeignet, als Grundlage der Schulung der Genossinnen bei Zusammenfünften zu dienen. Ich möchte dem widersprechen. Das schöne Buch ent­hält schwere und leichte Partien, auch Teile, die außerordentlich der Erläuterung und Ergänzung bedürfen, wie dies in einem treff­lichen Artikel der Gleichheit" hervorgehoben worden ist. Ganz abs gesehen davon glaube ich, daß niemals in einem Frauenleseabend das Buch von Anfang bis zu Ende durchgelesen worden ist. Dazu hätte man etliche Jahre nötig, zumal wenn an vielen Stellen die erforderliche gründliche Diskussion einsetzen soll. Das Herausgreifen einzelner Teile würde ich aber als eine Entweihung des schönen Werks betrachten. Auch würden sich die Genosfinnen nicht daran gewöhnen, ein Buch von Anfang bis zu Ende durchzulesen und durchzudenken. Diese Gewöhnung aber erstreben wir gerade! Das Herausgreifen dieses und jenes Kapitels und das spätere Beiseitelegen des Buchs führt nur zu leicht zur 3ersplitterung des Interesses, der Aufmerksamkeit. Wir müssen jedoch zur Konzentration der geis stigen Kräfte erziehen. Nach guter Vorarbeit sollten meines Er­achtens drei Vorträge über Bebels Buch gehalten werden: 1. Die Frau in der Vergangenheit, 2. Die Frau in der Gegenwart, 3. Die Frau in der Zukunft. An diese Vorträge müßten sich erläuternde Diskussionen fnüpfen. Vortragende darüber müßten auch für die Drte zu bekommen sein, wo sonst die Welt mit Brettern vernagelt ist. Wenn Genossin Wackwitz weiter empfiehlt, Vorträge über Mutter­schaftsversicherung, Säuglingsschutz, Recht des unehelichen Kindes usw. zu halten, schließe ich mich ihrer Anregung an. Halten wir uns aber ftets vor Augen, daß unsere Genossinnen das Wesen des Sozialis mus fennen lernen sollen. Deshalb ist es notwendig, daß solche Vorträge die Anknüpfungspunkte bieten sollen, um die Genofsinnen tiefer in die sozialistische Ideenwelt einzuführen. Die naheliegende Rritit am tapitalistischen Jammertal gibt guten Anlaß dazu. Aus bem unüberbrückbaren Gegensatz zwischen der kapitalistischen   Welt mit ihren Bettelpfennigen für die Massen und den sozialistischen  Forderungen und Idealen erwächst der bewußte Wille, für den Sozialismus zu leben und seine Saat auszustreuen. Auf dem Wege zum Sozialismus ersteht den Frauen kein Herr der Heerscharen, der sie durch die Schrecknisse und Abgründe der kapitalistischen   Ge­sellschaft geleitet. Ihre Stärke erwächst ihnen aus dem eigenen energischen Willen, der in dem sieggekrönten Worte seinen Ausdruck findet: Durch!

Und dann noch eins. Jch begreife es, daß die Genofsinnen die Abende dadurch fesselnder gestalten wollen, daß sie dieselben mit gemütlicher Unterhaltung verknüpfen. Man halte aber darin Maß. Die gut besuchten Veranstaltungen könnten das Gegenteil von dem bewirken, was erreicht werden soll. Wenn jedoch dem belehrenden Teile des Frauenabends noch ein literarischer oder fünstlerischer bei­gefügt wird, würde nicht bloß die Anziehungskraft, sondern auch der Wert der Veranstaltung steigen, vorausgesetzt, daß das Gebotene bildend auf Geist und Gemüt wirkt. In Breslau   haben wir mit solchen Abenden gute Erfahrungen gemacht.

Für nüßlich halte ich es, wenn die Genofsinnen unter Mit­wirkung der Genossen mindestens für ein Vierteljahr im voraus ein Programm für ihre Bildungsabende aufstellen, das streng durch geführt wird und den Genoffinnen ermöglicht, sich auf den einen oder anderen wichtigen Gegenstand vorzubereiten. Eine programm lose" Zeit ist von übel, erzieht nicht, sondern führt zur Trägheit, Gleichgültigkeit und schließlich zum Verlassen der Abende, die nicht genug bieten. 2. Radlof.

Der Kampf der Frauen um Schutz für Mutter und Säugling.

Jm kommenden Winter wird im Reichstag das Schicksal der " Reichsversicherungsordnung" entschieden. Außer den allgemeinen Fragen, als das find: Erhaltung des Selbstverwaltungsrechts der Arbeiter in den Krankenkassen, Erweiterung dieses Rechts und übertragung auf die übrigen Versicherungszweige, Reform der Invaliden- und Unfallversicherung, sind es vor allem zwei Pro­bleme, die das besondere Interesse der Frauen beanspruchen: die Mutterschaftsversicherung und die Witwen und Waisenversicherung. Um die Agitation für beide Materien in den weitesten Schichten des weiblichen Proletariats zu fördern,

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find vom Parteivorstand zwei Flugblätter herausgegeben worden, die unsere Forderungen präzisieren und begründen und sie dem gegenüberstellen, was in der Regierungsvorlage geboten wird. Gleichzeitig wurde eine besondere Agitation unter den Frauen an­geregt. In einer Reihe von Orten hat man diefer Anregung be­reits Folge gegeben. So fanden fürzlich in Leipzig   zwei start besuchte Versammlungen statt, in denen Genoffin Zieh die Frage der Mutterschaftsversicherung eingehend erörterte. Borher war das Flugblatt verbreitet worden, das sich mit der Frage befaßt.

Im September schon hatte dieselbe Rednerin in Frankfurt am Main   das Thema in einer Frauenversammlung behandelt. Der sechste Berliner   Wahlkreis entfaltete Mitte Oktober eine umfassende Agitation zur Propagierung der Mutterschaftsversiche­rung. Das oben erwähnte Flugblatt ward zusammen mit einer Versammlungseinladung in 305 000 Exemplaren von Haus zu Haus verbreitet, und am Tage danach fanden acht große Frauenversamm­lungen statt, in denen die Frage der Mutterschaftsversicherung mündlich behandelt wurde. Alle Versammlungen waren sehr start besucht, zum Teil abgesperrt. Es haben insgesamt 10 bis 12000 Frauen an ihnen teilgenommen. Die Genofsinnen Baader, Matschke, Friedländer, Wurm, Weyl, Hanna, Greifen­ berg   und Zieh hatten die Referate übernommen. Außer unseren Forderungen an die Versicherungsgesetzgebung wurden natürlich auch jene erörtert, die wir betreffs der Arbeiterinnen- und Kinderschutz­gesetzgebung stellen, sowie jene dritte Gruppe, deren Verwirklichung Aufgabe der Gemeinde ist. Weil jedoch im Moment die bevorstehende parlamentarische Verhandlung die Forderungen an die Versiche rungsgesetzgebung aktueller macht, wurden diese zunächst heraus­gehoben und in einer Resolution zusammengefaßt, die in allen Ber sammlungen zur einstimmigen Annahme gelangte. Im nachstehen den bringen wir die Resolution im Wortlaut:

" Die steigende Teilnahme der Frau am Berufsleben, die durch das Ergebnis der letzten Berufs- und Gewerbezählung wiederum klärlich beleuchtet wird, bringt schwere Gefahren mit sich für Leben und Gesundheit der Frauen und Kinder der Arbeiterklasse und des Kleinbürgertums.

Die Vereinigung von Berufs- und Hausarbeit für die Frauen zur Zeit der Mutterschaft führt häufig zu Unterleibsertranfungen, Erschwerung der Schwangerschaft und Entbindung, Fehl- und Frühgeburten, früher Sterblichteit und Siechtum der Kinder.

Die soziale Not zeitigt die gleichen Erscheinungen in weiten Kreisen der unbemittelten Volksschichten, auch wenn die Frau nicht erwerbstätig, aber aus Mangel an Mitteln der Ruhe und Pflege entbehrt zur Zeit der Mutterschaft.

Im Interesse der Erhaltung von Leben und Gesundheit der Mütter und Kinder fordern deshalb die Versammelten, daß die Krankenversicherung wie folgt ausgestaltet wird:

1. Ausdehnung der Versicherungspflicht auf alle lohnarbeitenden Frauen, auch auf die landwirtschaftlichen Arbeite rinnen, Dienstboten, Heimarbeiterinnen sowie überhaupt auf alle Frauen, deren Familieneinkommen 5000 Mt. nicht übersteigt.

2. Obligatorische Gewährung einer Schwangerenunter stügung im Falle der durch die Schwangerschaft verursachten Er­werbslosigkeit auf die Dauer von acht Wochen.

3. Freie obligatorische Gewährung der Hebammen­dienste und freie ärztliche Behandlung der Schwangerschafts­beschwerden.

4. Ausdehnung der Wöchnerinnenunterstützung von sechs auf acht Wochen. Falls das Kind lebt und die Mutter fähig und willens ist, es selbst zu stillen, ist ein Stillgeld auf die Dauer von 26 Wochen zu gewähren in der Höhe des gesetzlichen Kranken­gelbes.

5. Erhöhung des Pflegegeldes an Schwangere und Wöchnerinnen für die Dauer der Schuhfrist auf die volle Höhe des durchschnittlichen Tagesverdienstes.

6. Obligatorische Ausdehnung der unter 8 bis 5 an geführten Bestimmungen auf die weiblichen Angehörigen der Rassenmitglieder.

7. Vereinheitlichung der Krankenkassen und Sicherung des Selbst­verwaltungsrechts."

Hoffentlich folgen im Laufe des Spätherbstes und Winters die übrigen Bezirke dem Beispiel dieser Agitation. Daß die finanz schwachen Kreise die betreffenden Flugblätter auf An trag gratis erhalten, wollen wir hiermit nochmals in Erinne rung bringen. Mit der Verbreitung des Flugblatts zu den Ver sammlungen erreichen die Drganisationen zweierlei: die Voragitation ist eine bessere und wirkungsvollere und danach auch der Besuch der Versammlungen ein stärkerer; außerdem werden durch das Lesen des Flugblatts auch jene Frauen mit der Frage vertraut, die