Nr. 4
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Die Gleichheit
das Brandmal eines politischen Tendenzprozesses aufgedrückt worden. Der Prozeß soll nicht nur die Bestrafung der Angeklagten herbeiführen, sondern zugleich auch Waffen gegen die Arbeiterbewegung, Material für eine neue Zuchthausvorlage oder ein neues Sozialistengeset liefern. Die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft liest sich wie ein Flugblatt des Reichsverbandes zur Bekämpfung der Sozialdemokratie oder wie eine Rundgebung einer Scharf macherorganisation gegen Streifende. Der Widerstand der Firma Kupfer& Co. gegen die Forderungen der Kohlenarbeiter, ja selbst gegen Verhandlungen vor unparteiischen Instanzen wird in der entschiedensten Weise für gerechtfertigt erklärt ein Arbeitgeberein Arbeitgeber verband hätte es nicht besser machen können. Und schließlich behauptet die Anklageschrift, verschiedene Momente sprächen dafür, daß es sich um einen planmäßig organisierten Aufruhr handelte- leider kann das noch nicht ganz zweifelfrei erwiesen werden. Aber um so klarer ist es für die Staatsanwaltschaft, daß nur durch die jahrelange systematische sozialdemokratische Verhetzung die Masse zur„ Niederknüppelung der Arbeitswilligen" und zur Entladung thres Hasses" gegen die Arbeitswilligen gereizt worden ist. Sozialdemokratie und Gewerkschaften tragen wegen ihrer Heze gegen Arbeitswillige und Polizei die moralische Schuld an den Vorgängen in Moabit . Der Vorwärts" aber soll durch die fanatische Verfolgung von allem, was mit der Kirche und ihren Einrichtungen zusammenhängt, die Erbitterung geschaffen haben, die in einem Angriff einiger Tumultuanten gegen einen Pfarrer und gegen eine Kirche zum Ausbruch kam.
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Damit hatte die Staatsanwaltschaft aber noch nicht genug für die Scharfmacherzunft und die Junkerschaft getan, die eine Wahlparole aus diesem Prozeß schmieden möchten, die den Spießbürger auf die Beine bringt zur Rettung von Thron, Altar und Geldfact. Sie tat noch ein übriges. Durch ein verzwicktes, dem Geiste und den Paragraphen der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesehes widersprechendes Verfahren umging sie die Beftimmung, daß niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden barf. Sie brachte den Riesenprozeß- 35 Personen sind angeklagt vor die Straffammer des Berliner Landgerichts I . Diese Straffammer ist durch ihre drakonische Strenge und durch ihre Zuverlässigkeit" in politischer Hinsicht die Erbin der berüchtigten Brausewetterkammer der neunziger Jahre geworden. Der Vorsitzende der Rammer ist der Landgerichtsdirektor Lieber. Das Verfahren nahm feinen Anfang am 9. November, und die Verteidigung eröffnete es fofort mit einem hartnäckigen Kampfe um den gesetzlichen Richter, der schließlich bis zur Ablehnung des Gerichts wegen Befangenheit führte. Am Sonnabend den 12. November mußte die Verhandlung wegen Erkrankung eines Richters von neuem begonnen werden, und wieder nahm die Verteidigung denselben Kampf auf, allerdings ohne Aussicht auf unmittelbaren Erfolg. Denn die Beschlußkammer des Landgerichts hat den Kollegen von der Lieberfammer bereits im ersten Falle bestätigt, daß sie durchaus unbefangen seien. Und das trotz der Tatsache, daß die Staatsanwaltschaft darauf versessen ist, die Sache dem zuständigen Richter zu entziehen und vor einen zuverlässigen Richter zu bringen, und trotz der blutigen Härte, mit der der Gerichtshof die Untersuchungs, haft verhängt und sogar auf Angeklagte ausgedehnt hat, die wegen der ihnen zur Last gelegten Straftat zu nicht mehr als drei Monaten Gefängnis verurteilt werden können. Die Staatsanwaltschaft hat erklärt, daß sie gar nicht die Absicht gehabt habe, den Prozeß der Lieberkammer zuzuschanzen, und die Beschlußkammer glaubt ihr das ohne weiteres. Die Öffentlichkeit dürfte solch starken Glauben nicht aufbringen, und die Verteidigung hat am Sonnabend den Vertretern der Anklage trocken erklärt, ihre eifrigen Beteuerungen, daß fie gar nicht daran gedacht haben, sich zuverlässige Richter auszusuchen, könnten die Verteidiger nicht im mindesten überzeugen. Die Staatsanwaltschaft kam durch diese immer erneuten Borstöße der Verteidigung in eine schlimme Lage, und wenn es auch nicht gelingen wird, die Angeklagten vor andere Richter zu bringen, so haben doch die Verteidiger durch ihr Vorgehen den Prozeß von vornherein in einer Weise gekennzeichnet, die es den Reaktionären sehr verleiden wird, mit ihm krebsen zu gehen.
Wie es übrigens mit dem Anklagematerial aussieht, das sei an einem einzigen Falle gezeigt, der auch die Gleichheit vor dem Gesez, beziehungsweise vor der Justiz in Preußen grell beleuchtet. In den Sizungen vom Mittwoch und Donnerstag erlitt die Angeflagte Frau Reinhardt mehrere Ohnmachtsanfälle und Herz- und Weinfrämpfe. Ein Arzt war nicht zugegen, obgleich die Frau eine Leidende ist, obgleich sie die sechs Wochen ihrer Untersuchungshaft im Lazarett des Gefängnisses verbracht hat. Die Unglückliche mußte sich mit der unzulänglichen Hilfe der Gerichtsdiener begnügen- am ersten Tage kam endlich nach langem Warten ein Gerichtsarzt
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auf einige Minuten, am Donnerstag war er bis zum Schlusse der Verhandlung noch nicht erschienen. Die Frau Reinhardt ist eben eine Proletarierin, die sich nicht wie der Fürst Eulenburg und die Frau v. Schönebeck- Weber einen Stab von Ärzten mit in den Gerichtssaal nehmen kann, und von Gerichts wegen wurde ihr fein ärztlicher Beistand während der Verhandlungen gestellt, der für die beiden obengenannten Angeklagten in überreichlichem Maße vorhanden war. Die Frau Reinhardt wurde- obgleich sie verheiratet ist und zwei Kinder im Alter von acht und zwei Jahren hat für fluchtverdächtig gehalten, weil sie angeblich eine hohe Strafe zu gewärtigen habe. Sie soll nämlich eine brennende Petroleumlampe auf eine Schar von Schuhleuten geschleudert haben sie ist die fürchterliche„ Petroleuse", mit der die Ordnungspresse die guten Bürger in Schrecken gesetzt hat. Sie selbst versichert, daß sie die Lampe fallen ließ, als sie vor Schrecken über das Eindringen der Schußmannschaft in ihre Wohnung eine Ohnmacht anwandelte. Das flingt mehr als glaubhaft angesichts des Gesundheitszustandes der Frau. Aber die Anklagebehörde versteifte sich darauf, in ihr eine ganz gefährliche Petroleuse zu sehen, und erklärte sie auf Grund der sachverständigen Gutachten der Polizisten für eine Simulantin. Endlich, am Sonnabend, ist die Staatsanwaltschaft zu der Einsicht gekommen, daß die unglückliche Kranke die anstrengende Verhandlung, die drei bis vier Wochen dauern dürfte, nicht auszuhalten vermag und daß sie in ihrem Zustand nicht wird fliehen können. So wurde die Frau endlich aus der Haft entlassen auf Gründe hin, die, wie ihr Verteidiger bitter bemerkte, schon am ersten Tage ihrer Inhaftierung bestanden!
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Die Ausschlachtung der Moabiter Vorgänge gegen die Arbeiterbewegung dürfte den Reaktionären durch den Verlauf des Prozesses eher versalzen denn erleichtert werden. Sie haben auch sonst kein Glück. Kleine Zusammenstöße, die im Norden Berlins am Wedding anläßlich eines partiellen Fleischerstreits vorkamen, suchte die Scharfmacherpresse zu einer neuen Moabiter Revolution" umzulügen der Schwindel brach alsbald kläglich zusammen.
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Die Regierungen Badens, Elsaß - Lothringens , Württembergs und Bayerns haben sich genötigt gesehen, da die Fleischteuerung ihnen zu brenzlig wird, die Grenzen für die Vieheinfuhr wenigstens ein ganz flein wenig zu öffnen- Preußen und seine Trabanten aber verharren nach wie vor in Untätigkeit.
Ein erfreuliches Resultat hat der Schnapsboykott gehabt. Der Schnapsverbrauch ist etwa um ein Viertel zurückgegangen, cs find rund 500 000 Hektoliter Schnaps weniger getrunken worden als vor dem Boykott. Wenn auch die Verteuerung des Schnapses durch die neue Steuer und die Not der Zeit zu diesem Ergebnis mit beigetragen haben, so ist doch sicherlich der Rückgang zu einem erheblichen Teil dem Boykott zu verdanken. Die Liebesgabe der Junker ist durch diesen Konsumrückgang in Gefahr geraten, weil diese Liebesgabe nur dann sich einstellt, wenn der Verbrauch an Branntwein größer ist als das Kontingent, das heißt die bevorrechtete Menge des Branntweins, von der 20 Mt. weniger Steuer gezahlt wird, die aber zu demselben Preise verkauft wird wie der um 20 Mt. höher besteuerte Schnaps. Der Kontingentbranntwein aber ist vornehmlich auf die Brennereien der Junker im Osten verteilt, die von der bei dem früheren Konsum sich auf 45 Millionen Mark belaufenden Liebesgabe den Löwenanteil erhalten. Der Bundesrat hat nun schleunigst, um den Junkern wenigstens etwas zu retten, das Kontingent herabgesetzt; dadurch wurde aber immerhin die Liebesgabe an die Junker um jährlich 10 Millionen Mark ver.urzt. Dieser Erfolg muß die Arbeiterschaft aneifern, dem Boykott immer weitere Ausdehnung zu verschaffen.
In Frankreich ist es gekommen, wie wir es in der vorigen Rundschau als wahrscheinlich annahmen. Briand hat trotz seiner Staatsstreichdrohung die Mehrheit in der Kammer erhalten, nur ein kleiner Teil der Radikalen trat auf die Seite der gegen ihn fämpfenden Sozialisten. Herr Briand bleibt weiter am Ruder. Weil er am unbedenklichsten in der Wahl seiner Mittel ist, gilt er der Bourgeoisie zurzeit als der starke Mann, der den Umsturz am besten zu bändigen vermag. Selbst die sozialistischen Renegaten Millerand und Viviani halten es für besser, aus der Gemeinschaft mit Briand auszutreten, da er nun an die Erdrosselung des Koalitionsrechtes der Eisenbahner gehen will. Aber Briand ersetzt sie durch Bürgerliche und behält die Mehrheit der Kammer.
In der Schweiz hat die Forderung der Proportionalwahl zum Nationalrat einen großen Fortschritt gemacht. In der Volksabstimmung unterlag sie zwar noch mit 238928 Stimmen gegen 262066 gegen frühere Abstimmungen bedeutet das jedoch eine so gewaltige Vermehrung der Anhänger des Proporzes, daß ihr naher Sieg in Aussicht steht.