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Die Gleichheit
rung, wenn sie sich irgend freimachen kann, sich der Industriearbeit zuwendet, die verhältnismäßig günstige Lebensverhältnisse ermöglicht. An die Stelle der Männer, die von der Scholle flüchteten, traten die Frauen. Sie wurden um so mehr zur eigentlichen landwirtschaftlichen Arbeit gedrängt, als ihnen das Aufkommen der modernen Großindustrie und des Großhandels die meisten der früheren hausgewerblichen Arbeiten des bäuerlichen Haushaltes entzogen hat. Daß die Ersetzung der Männerarbeit durch Frauenarbeit keinen günstigen Einfluß auf die Lebensverhältnisse der Landarbeiter haben konnte, ist klar. Das um so mehr, als gerade die vorwärtsdrängenden Elemente nach den Städten ausgewandert sind. Diese und andere Gründe noch, so die Zersplitterung und ländliche Abgeschlossenheit, sind von Einfluß darauf, daß die werktätige Bevölkerung auf dem Lande der Agitation schwerer zugänglich ist als das industrielle Proletariat. Freilich sorgt die Politik der herrschenden Klassen dafür, daß auch auf dem Lande der Boden immer mehr für die sozialistische Ideensaat gelockert wird.
Frauenstimmrecht.
g. b.
Stimmrecht und Wählbarkeit zu öffentlichen Aemtern gewährt den Frauen im Kanton Zürich ein Zusatz zur Staatsverfassung, der vor kurzem vom Kantonsrat in zweiter Lesung einstimmig angenommen wurde.
Ein Jsländischer und ein Dänischer Frauenstimmrechts: verband sind dem Weltbund für Frauenstimmrecht beigetreten, der bekanntlich die Forderung des allgemeinen Wahlrechts nicht erhebt und seit seinem letzten Kongreß in London nur noch solche Organisationen aufnimmt, die sich damit begnügen, das Wahlrecht für Frauen unter den gleichen Bedingungen zu fordern, unter denen es die Männer besitzen.
Der nächste bürgerliche Internationale Frauenstimmrechtskongreß findet 1911 in Stockholm vom 12. bis 17. Juni statt.
Verschiedenes.
Das Spinnrad als modernes Kulturwerkzeug. Wer hat das Spinnen erdacht? Die Sagen der alten Kulturvölker schrieben es dem Erfindungstalent hoher und allerhöchster Wesen zu. Die Ägypter ihrer angebeteten Jfis, die Hellenen der göttlichen Athene, die Chinesen einer irdischen Majestät, der Kaiserin Jao. Die Spinnwerkzeuge Spindel und Kunkel- waren demnach auf alle Fälle Instrumente des Himmels. Trotzdem waren sie Jahrtausende recht unvollkommen geblieben, bis um das Jahr 1530 der brauns schweigische Bildschniger Jürgen in Watenbüttel das hölzerne, schnurrende Maschinchen des Spinnrads schuf, das den meisten unserer Leserinnen nur aus den Museen bekannt sein mag. Schon in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts begann die Erfindung der mechanischen Spinnerei mit ihren genialen Ma schinen, die keine Gottesgnadenintelligenz ausdachte, und die dem poetischen Flachsspinnen der alten germanischen Häuslichkeit mit seinen romantischen Lichtgängen verliebter Bauernjugend den Untergang verhieß. In unseren Zeiten der kapitalistischen Großproduktion mit ihren Wunderwerken von Spinnmaschinen, die von den schlechtest gelohnten Proletarierinnen bedient werden, fristet das poetische Rädchen mit dem Kunkelstock und der Spule nur noch ein platonisches Dasein in der Gerümpelkammer des Bauernhofs. oder unter den Requisiten eines Stadttheaters. Wenn Goethes verliebtes Gretchen nicht hier und da wieder einmal spänne und flüsterte: Meine Ruh' ist hin, mein Herz ist schwer", viele Tausende der Stadtbewohner hätten keine Ahnung von der vielbesungenen Schöns heit eines Spinnrädchens.
Es ist nicht etwa die Sehnsucht nach der Wiederkehr der alten Romantit, sondern das Bestreben eines gottesgnädigen Sozial reformertums, wenn im zwanzigsten Jahrhundert aristokratische Wichtigtuerei das altertümliche Schnurrädchen wieder eine Auferstehung feiern lassen will. Ein Dorado für diese geniale Sozial reform ist das Musterland Baden, wo Zeit mit Agitationen für die Wiederbelebung des Spinnradbetriebs vergeudet wird. Daß dies mit obrigkeitlicher Protektion geschieht, ist kein Grund dafür, das heiße Mühen für tugendsamen Spinnstubenbetrieb als eine nationalökonomische Klugheit zu lobpreisen.
An der Spitze der Propaganda für diese Bewegung steht die badische Großherzogin Witwe, die Tochter Wilhelms I., die auch durch die Prämiierung des Beharrungsvermögens der Dienstboten auf dem Gebiet des sozialpolitischen Samariterdienstes für die notleidende Bourgeoisie unseren Leserinnen bekannt ist. Mit einer lächerlichen Aufdringlichkeit wendet die offiziöse Sozialpolitik ihre Aufmerksamkeit einer Wiederbelebung des Spinnradbetriebs zu. Es lassen sich die hohen Herrschaften wie trauliche Spinnen
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zum Volfe herab, um zu sorgen, daß man allüberall spinne. Aber König Ringans Töchterlein, Schön- Rotraut, trieb Besseres den ganzen Tag,„ dieweil sie nicht spinnen und nähen mag". So lesen wir in der bürgerlichen Presse Badens aus dem Schwarzwald :„ Von der Fürstin zu Fürstenberg wird in einem Schreiben an den Wunsch der Großherzogin Luise erinnert, es sollen in den Ges meinden Spinnkurse abgehalten und so die frühere heimische Beschäftigung wieder gepflegt werden. Auf diese Anregung hin wurden in verschiedenen Gemeinden Rädchen von der Bühne heruntergeholt, um sie für die bevorstehenden Kurse richten zu lassen. Mit dem Schlusse der Kurse wird im Frühjahr ein Spinnfest in Donaueschingen veranstaltet, bei welchem Preise zur Verteilung fommen."
Solche Spinnfeste wurden in den letzten Jahren schon in vielen Dörfern des Landes abgehalten. Sie kommen in ihrer Wirkung auf eine hurrapatriotische Variante fürstlicher sozialpolitischer Quacks falbereien hinaus, wobei jedesmal die Unentbehrlichkeit dieser gottes gnädigen Volkswirtschafterinnen für die Förderung des so herrlich wachsenden Volkswohlstandes mit Sang und Klang gefeiert werden muß. Ein Orden belohnt die eifrigen Beamten. In der Wirtlichkeit verschwinden die Bauernhöfe immer mehr und gehen in den Privatbesitz des Fürstenbergers ein, der ganze Gemeinden verschlingt. Auch andere adelige Nimmersatte enteignen die stroh dachbeschützten Bauernhütten, in denen dereinst die Spinnrädchen schöner Wälderinnen surrten. Die Bauerndirnen gehen in die Fabriken und weben an der sausenden Maschine das Garn und ihr eigenes Leichentuch. Mit Hungerlöhnen fertigen sie so billiges, so herrliches Getuch, daß selbst ein badischer Hofrat erkennen muß: der heutigen kapitalistisch- großindustriellen Produktion gegenüber ist die Errichtung altfränkischer Spinnstuben eine voltswirtschaftliche- Schnurre. Vielleicht gefällt dem Herrn Hofrat trog dem die eine, unbestrittene Wirkung des monotonen Spinnradbetriebes in der langen, langen Winterszeit: diese Beschäftigung tötet den Geist, hindert das aufkeimende Mädchenvölklein am Denken und Erwachen. Ein großer Vorzug!?
Soeben ist erschienen:
Berichte an die Zweite Internationale Konferenz Sozialistischer Frauen
zu Kopenhagen am 26. und 27. August 1910 Herausgegeben von Klara Zetkin . Preis 30 Pfennig. Einzeleremplare 10 Pfennig mehr für Porto. Stuttgart , Furtbach- Straße 12.
Expedition der Gleichheit.
Zur Versendung liegen bereit:
Einbanddecken zur Gleichheit
Jahrgang 1909/1910.
in einfacher, aber guter Ausstattung.
a. Die Decke in 4° für das Hauptblatt und die Beilage Für unsere Mütter und Hausfrauen.
b. Die Decke in 8° für die Kinderbeilage.
Preis zusammen 1 Mark.
Bei Einzelbestellungen 30 Pfennig mehr für Porto. Titelblatt und Inhaltsverzeichnis werden den Decken gratis beigegeben.
Es empfiehlt sich, die Bestellungen bald an den Verlag gelangen zu lassen. Die organisierten Genosfinnen sollten dafür sorgen, daß die Neuerung in den weitesten Lesertreisen bekannt wird.
Auch Decken des Jahrgangs 1908/1909 find noch vorrätig. Stuttgart , Furtbach- Straße 12.
Expedition der Gleichheit.
mg.