Nr. 17

Jill

21. Jahrgang

Die Gleichheit

Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen

Mit den Beilagen: Für unsere Mütter und Hausfrauen und Für unsere Kinder

Die Gleichheit erscheint alle vierzehn Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Post viertelfährlich ohne Bestellgeld 55 Pfennig; unter Kreuzband 85 Pfennig. Jahres- Abonnement 2,60 Mart.

Inhaltsverzeichnis.

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Stuttgart  

22. Mai 1911

Feinde des Mutterschafts- und Säuglingsschutzes.- Die Erforschung der Vaterschaft. Von Otto Pohl  . Die wirtschaftliche Lage der Zigaretten arbeiterinnen. Bon E. F.- 3um Kapitel der übertriebenen Humanität" in der Arbeiterversicherung. Bon g. sch. Ein bedeutungsvoller Kampf im Holzgewerbe. Von gb. Für Mutter und Säuglingsschutz. Aus der Bewegung: Von der Agitation. Politische Rundschau. Von H. B. Gewerkschaftliche Rundschau. Genossenschaftliche Rund­schau. Von H. F. Notizenteil: Dienstbotenfrage. Fürsorge für Mutter und Kind.- Ver schiedenes: Kinderschutzbestrebungen und Kinderhilfstag in Hamburg  .

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Feinde des

Buschriften an die Redaktion der Gleichheit find zu richten an Frau Klara Zetkin  ( 3undel), Wilhelmshöbe Poft Degerloch bei Stuttgart  . Die Expedition befindet sich in Stuttgart  , Furtbach- Straße 12.

weltlichen und geistlichen Gutsherren höriger und leibeigener Bauern zugunsten der Schwangeren, Wöchnerinnen und Neu­geborenen soziale Maßregeln ab, welche die sonst geltenden Eigen­tumsrechte durchbrachen und die brüderliche Auffassung des Ur­fommunismus versunkener Zeiten durchschimmern ließen. Die bürgerliche Gesellschaft aber läßt ungezählte Mütter und Säug­linge sterben und verderben, obgleich sie in dem Reichtum zu ersticken droht, den die von der Wissenschaft gebändigten Natur­fräfte im Dienste der sozialen Gütererzeugung aufhäufen. Sie achtet die im Keime zertretenen menschlichen Produktivkräfte nicht, weil sie ihre Bedeutung nicht an dem Wohle der Gesamt­heit mißt, sondern lediglich an dem Vorteil der kleinen Kaste Besitzender und Ausbeutender. Von diesem erhabenen Stand­

Mutterschafts- und Säuglingsschutzes. punkt aus sind aber für die Gesellschaft nicht mehr menschliche

Die letzten parlamentarischen Verhandlungen über die Reges lung des Mutterschafts- und Säuglingsschutes durch die Reichs­versicherungsordnung sind unstreitig eine besonders unwürdige und verbrecherische Szene in der unwürdigen und verbreche rischen Komödie, welche die Mehrheitsparteien mitsamt der Reichsregierung gegenwärtig im Reichstag zu dem Zwecke auf führen, die werktätigen Massen um ihr gutes Recht auf eine durchgreifende soziale Fürsorge in Zeiten besonderer Hilfs bedürftigkeit zu prellen. In der Tat: wenn es eine Forderung gibt, deren Berechtigung in den verschiedensten Richtungen seit Jahren schon einwandsfrei durch die Wissenschaft erwiesen worden ist, so ist es die durchgreifenden Mutter und Säug­lingsschutzes. Wenn eine Aufgabe vorliegt, deren Erfüllung vom Interesse der gesamten Gesellschaft und ihrer Empor bewegung in der Zukunft diktiert werden müßte, so ist es die Gewährung solchen Schußzes. Eine Gesellschaft, die nicht alle ihre besten Kräfte dafür einsetzt, dem Kinde im nährenden, tragenden Mutterschoß und nach der Geburt die günstigsten Entwicklungsbedingungen zu sichern, eine Gesellschaft, die um gekehrt viele Hunderttausende von Müttern und ungeborenen Kindern und Säuglingen den schwersten Schädigungen preis gibt: macht sich des Mordes schuldig, wie zivilisiert" auch die Formen scheinen mögen, die ihr Verbrechen verhüllen.

Die tapitalistische Ordnung ist solch eine Gesellschaft über tünchten Massenmordes wie feine zweite, denn sie verfügt wie keine andere soziale Organisation vor ihr über die wissenschaft lichen Erkenntnisse und die materiellen Mittel, die gefahr­drohenden Einflüsse für das mütterliche und kindliche Leben zum Teil zu mildern, zum Teil ganz zu überwinden und außer ordentlich gesteigerte Möglichkeiten normaler, gesunder Entwick lung zu schaffen. In den primitiven, barbarischen und halb­barbarischen Gesellschaften finden wir die Kindestötung und Kindesaussetzung als Mittel sozialer Notwehr angesichts der mangelnden Erkenntnis und Beherrschung der Bedingungen, von denen die Produktion, die Sicherung des Lebensunterhaltes abhängt, die Lebensfürsorge", um mit dem Kulturhistoriker Lippert zu reden. Das Bedürfnis nach wertschaffenden Kräften zwang der feudalen Gesellschaft in dem Herrschaftsgebiet des zünftigen Handwerkes, den Städten, wie in den Domänen der

Produktivkräfte von Wert, als eben von den ausbeutenden Klassen mit Profit und zur Erzeugung und Steigerung des Mehr wertes verwendet werden können. Wie die triumphierende Bour geoisie Frankreichs   mit dem Code Napoléon  , so hat daher die erstartte fapitalistische Gesellschaft in Deutschland   mit dem wahn­witzig dünkenden Paragraphen des Bürgerlichen Gesetzbuchs  , daß das uneheliche Kind mit seinem Vater nicht verwandt sei, den Eigentumsbegriff auf Kosten gesunder Lebensentfaltung zahlloser Kleinen befestigt.

Soll damit etwa geleugnet werden, daß in der modernen Zeit die Ausgestaltung der öffentlichen und privaten Gesund heitspflege und viele andere Umstände noch der Schädigung und Vernichtung mütterlichen und kindlichen Lebens während der Schwangerschaft, des Wochenbetts und im Säuglingsalter entgegenwirken? Daß auch in bürgerlichen Bevölkerungskreisen ernste Bestrebungen ausgelöst worden sind, durch wirksame soziale Fürsorge für Mutter und Kind die Zukunft der Rasse zu sichern? Reineswegs. Die Massen des werktätigen Volles und insbesondere seine Frauen dürfen aber über diesen Tat­sachen zweierlei nicht übersehen. Zuerst, daß auch in bezug auf den sozialen Schutz der Mutterschaft in der heutigen Gesell­schaft der schärfste Gegensatz besteht zwischen dem, was ist, und dem, was in thr sein könnte und sein müßte. Des weiteren aber, daß auch die bestgemeinten Bestrebungen bürgerlicher Kreise ohnmächtig bleiben, die herrschenden Gewalten des kapi. talistischen Klassenstaats zu den nötigen sozialen Reformen zu­gunsten von Mutter und Kind zu überreden. Eine Macht ist es, an der sich in der bürgerlichen Gesellschaft die Tendenzen zu weitreichender sozialer Fürsorge für die Mutterschaft wie an einem gewaltigen, unerschütterlichen Granitblock brechen: das ist das Privateigentum an den Produktionsmitteln. Solange es fortbesteht, wird auch auf dem wichtigen Gebiet des Mutter­schaftsschutzes das Recht des lebendigen Menschen wieder und wieder durch die Gewalt des toten Besizes in die kuie ge­zwungen werden. Und diese Gewalt, die Gewalt der herrschen­den Klassen, läßt sich ebensowenig durch wissenschaftliches Be­meismaterial überzeugen, als durch einen Appell an mensch­liches Empfinden rühren. Sie muß gebrochen werden, und der zielbewußt geführte, revolutionäre Klassenkampf des Proletariats ist die einzige gesellschaftliche Macht, die sie zu brechen vermag.