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Die Gleichheit

seit Jahrzehnten von der Bevölkerung ohne Schaden genossen wird. Aber alle diese bange Sorge um die Gesundheit von Menschen und Vieh ist ja nur durchsichtiger, heuchlerischer Vorwand. Die wahre Gorge gilt dem Profit der Großgrundbesizer. Mag das Volt den Hungerriemen enger schnallen, seine unzureichende Lebens­haltung noch tiefer herabdrücken; mögen Krankheiten unter dem Proletariat noch schlimmer wüten als sonst, weil der geschwächte Körper ihren Angriffen keinen Widerstand zu leisten vermag: wenn nur die notleidende Landwirtschaft" geschüßt bleibt! Nicht einmal auf furze Frist dürfen in der Zeit schlimmer Not die Zölle und Grenzsperren aufgehoben werden. Weil das der nationalen Wirt schaftspolitit" schaden tönnte. In der Tat, wenn das Volk einmal an einem praktischen Beispiel erfahren würde, wie sehr der Forts fall dieser Hindernisse selbst unter ungünstigen Verhältnissen, selbst zur Zeit einer allgemeinen Teuerung, die Lebensmittel verbilligte, so wäre allerdings ein starkes Anschwellen der Bewegung gegen das System des Zoll- und indirekten Steuerwuchers zu erwarten. Deshalb muß das deutsche Volt vor solch gefährlicher Erkenntnis dehütet werden, und sei es um den Preis der Hungersnot!... Etwas Aufreizenderes als diese Kanzlerrede ist dem deutschen Prole tariat faum jemals geboten worden. Fast scheint es, als habe der leitende Staatsmann mit fühler überlegung die schärfste Form für seine Erklärungen gewählt, so daß sie schier wie grausamer Hohn auf das Elend der Massen wirken. Ob er wohl glaubt, daß diese " Festigkeit der Regierung" die Bewegung gegen den Wucher der Zölle und indirekten Steuern eindämmen werde? Jedenfalls be­weist seine herausfordernde Haltung, mit welcher Nichtachtung die Herrschenden die Forderungen der Massen selbst in solch fritischen Beiten behandeln. Sie bauen darauf, daß die Massen mit Schafs. geduld zu unsäglichen Leiden auch noch den Hohn ertragen. Sehen sie nicht die Anzeichen, daß diese Geduld zu Ende geht, oder mimen fie die Sorglosen, um zu verbergen, daß ihnen die Angst vor dem Erwachen und Handeln der Massen in den Knochen sigt? Ein ganzes Regiment von Staatssekretären und Ministern marschierte zur Unterstützung des Kanzlers auf. Sie waren gehorsame Hand­langer des vorgesetzten Handlangers der besitzenden Klassen. Meist variierten die Herren das schon von ihrem Meister abgehandelte Thema, daß der Zwischenhandel und das unnötige Geschrei über bie Teuerung an der Teuerung schuld seien, daß Reich und Bundes staaten nichts tun könnten, wohl aber die Städte. Der Reichsschatz sekretär Wermuth spannte außerdem noch eine neue Saite auf die alte Fiedel der Wucherzöllnerei. Gegen eine zeitweilige Aufhebung ber Futtermittel- und Lebensmittelzölle machte er geltend, daß das Reich die Erträge der Zölle auch nicht für einige Monate ent behren könne, und das trotz des Goldes, in dem es angeblich dank der Finanzreform" schwimmt. Was besagt das? Den Massen muß das Leben verteuert bleiben, es darf ihnen selbst in Hungerzeiten feine auch nur vorübergehende Erleichterung der Last zuteil werden, weil erstens die Großgrundbesitzer ihren Tribut heischen, und weil zweitens die Besitzenden von direkten Steuern für das Reich ver­schont bleiben wollen. Das nennt sich ,, ausgleichende Gerechtigkeit" und ist eine glänzende Bestätigung dessen, was die Sozialdemokratie seit je gegen die volksfeindliche Zoll- und Steuerpolitik des Reiches behauptet hat. Diese ist eine Maßregel nacktester Klassenherrschaft der Besitzenden.

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und die Rechte doch die Versicherung nicht zu unterdrücken, daß sie die Zölle nur ganz allmählich herabsehen würden. Die Herab­segung darf den Satten und übersatten nicht wehe tun, auch wenn dadurch Hungrige geschaffen werden. Die Stimme des Voltes, sein Schrei nach Brot, sein empörter Protest gegen die schändliche Politik ber Stockprügel auf den Magen fam nur in den Reden der sozial­demokratischen Sprecher Scheidemann und Südekum zum Ausdruck.

Die Wahlparole des Reichskanzlers ist inzwischen stilgerecht durch die Forderung nach Knebelgesehen für die Arbeiterklasse ergänzt worden. Der Junkerführer Heydebrand tat dies folge­richtig auf einem sogenannten Parteitag der Konservativen Schlesiens. Ausplünderung und Knebelung gehören zusammen. Die Nationalliberalen wollen es ihrerseits mit dem Appell an den Flottenkoller versuchen. Die Magdeburgische Zeitung" for berte dieser Tage die Regierung auf, die Verstärkung der Marine zur Wahlparole zu machen.

Die amtliche Wahlbeeinflussung zugunsten der Blau­schwarzen wird bei dem eingeleiteten Wahlkampf üppig ins Kraut schießen. Die Frankfurter Zeitung " konnte melden, daß die preu ßische Regierung die Landräte angewiesen habe, ihr Mitteilung von Angriffen auf die Regierungspolitik zu machen. Dergleichen " Sünden" soll mit Flugblättern entgegengewirkt werden. Und das ist dabei das Lehrreiche: die Herkunft dieser Wische soll von den Landräten als holdes Geheimnis behandelt werden. Bis jetzt hat noch kein offiziöses Organ Zeit zur Beantwortung der Frage ge funden, aus welcher Kasse diese amtliche Agitation bezahlt wird. Entweder deckt die Regierung die Aufwendungen zur Unterstützung des blauschwarzen Blocks durch öffentliche Gelder, die von allen Steuerzahlern aufgebracht werden müssen, gleichviel welcher poli tischen Farbe sie sind. Oder aber sie nimmt dafür Trinkgelder der interessierten Parteien. Beides ist schlimmste Korruption. Was Wunder? Eine Regierung gegen das Volk kann sich nur durch Gewalt und Niedertracht erhalten. Die Sache hat auch noch eine andere Seite. Die offizielle Aneiferung der Landräte zur Unter stüßung der blauschwarzen Agitation muß auf ihre Amtsführung, auf die Auslegung des Vereinsgesetzes und anderes mehr einwirfen. Das ist an den fünf Fingern abzuzählen. Die bayerische Res gierung bleibt hinter ihrer preußischen Kollegin an Dienstwilligleit für den Block der Junker und Pfaffen kaum zurück. Jm Landtag hat der Ministerpräsident Podewils es als selbstverständlich hin gestellt, daß ein Beamter nicht Sozialdemokrat sein darf. Es zer­rinnen die Träume von der staatsbürgerlichen Gleichberechtigung der Sozialdemokratie in Bayern ! Der Kriegsminister hat zur all­gemeinen Warnung mitgeteilt, daß das Ehrengericht einem Reserve offizier die Epauletten aberkannt hat, der in der Stichwahl zur Wahl eines Sozialdemokraten aufgefordert hatte. Kurz, die Spitzen der bayerischen Staatsbehörden bekennen sich offen als beslissene Lakaien des Zentrums. Aber all das ist dieser Partei für Wahrheit, Freiheit und Recht noch nicht genug. Nicht einmal die Warnung hat ihr Genüge getan, die der Eisenbahnminister vor dem Süd­deutschen Eisenbahnerverband ausgesprochen hat. Das Zentrum hat im Landtag erneut das Verbot des verhaßten, angeblich sozial demokratischen Verbandes gefordert, der der schwarzen Aucharbeiter. organisation gar zu starke Ronkurrenz macht. Nieder mit dem Roas

parole in Bayern .

Die Konservativen und Zentrümler waren selbstverständlitionsrecht, wenn es nicht den Schwarzen dient, das ist Zentrums­lich von der überagrarischen Rede des Kanzlers hoch entzückt. Grollend hat die alldeutsche und maroffotolle, Rheinisch- Westfälische Zeitung" eine ihr höchst unliebsame Folge festgestellt, welche die Rede des Kanzlers gehabt hat. Seitdem sie den Großgrundbesizern die liebs liche Botschaft von der Sicherung ihrer Zollprofite verkündete, ist die Kritik an der Marokkopolitik der Regierung in den Blättern der Blauschwarzen ganz verstummt. Die Redner der Ritter und Pfaffen waren natürlich ein Herz und eine Seele mit dem Kanzler. Nach seiner Weisheit blieb ihnen eigentlich kaum noch etwas zu tun übrig. Das Zentrum griff daher zu einem jener demagogischen Kniffe, in denen es Meister ist. Es ließ den Bauerndoktor" Heim reden, der wohl ein strammer Agrarier ist, aber im Gegensatz zur Mehrheit seiner Partei die Bauerninteressen mehr betont wissen will als die Junkerinteressen. Er schreckt daher vor einer zeitweiligen Aufhebung der Futtermittelzölle nicht zurück, die die Großgrund­besitzer entrüstet ablehnen, weil die Bauern die Futtermittel von ihnen kaufen müssen. Die Nationalliberalen stehen natürlich auch fest auf dem Boden der nationalen" Wucherzollpolitik. Dennoch fühlten sie sich von der Angst vor den Wählern getrieben, den Mund so zu spitzen, als ob sie darin nicht ganz so weit gingen wie die Blauschwarzen. Wenn es aufs Pfeifen ankommt, werden die Herren diese Grimasse lassen. Und die Freisinnigen, die Bollen und Ganzen", vermochten bei allen Angriffen gegen die Regierung

In Konstanz ist inzwischen die Niederlage des Zentrums voll endet worden. Mit 14045 Stimmen unterlag sein Kandidat in der Stichwahl dem Liberalen, der 15114 erhielt. Die Zentrumsgefolgs schaft stieg zwar gegen die Hauptwahl um 800 Stimmen, erreichte aber doch nicht die Höhe von 1907. Stärker noch als seine Wählers scharen nahmen die Stimmen der Liberalen zu, denen die Sozial­demokratie Hilfe leistete, nachdem sich der liberale Kandidat auf die sozialdemokratischen Stichwahlbedingungen von Jena verpflichtet hatte. Günstiger für das Zentrum ist das Ergebnis der ersten Wahlen zum Landtag Elsaß - Lothringens . Doch da das all­gemeine und gleiche Wahlrecht zum erstenmal zur Anwendung fam und die Wahlkreiseinteilung neu war, so fehlt ein Vergleichsmaß­stab. Das Zentrum erhielt in dem überwiegend katholischen Gebiet 24 Size, die Liberaldemokraten, die mit den Sozialdemokraten im zweiten Wahlgang gegen Zentrum und Nationalisten zusammen gingen, 13, die Sozialdemokraten 11. Das Zentrum wird eine Mehrheit zusammenbringen, da sich ihm sicher die 10 Abgeordneten des Lothringer Blocks anschließen, eine landsmannschaftliche Gruppe von politisch unbestimmter, aber überwiegend klerikaler Färbung, sowie einige Unabhängige, die ihm ebenfalls nahe stehen. Die Sozial demokratie darf mit ihren Erfolgen, besonders in der Stimmenzahl zufrieden sein.