64

Die Gleichheit

Es ist eine bekannte Tatsache, daß die Konservativen ohne Unter­schied des Geschlechts für ein beschränktes Frauenwahlrecht schwärmen, weil sie in ihm einen Damm erblicken gegen die Einführung des allgemeinen Wahlrechts aller Großjährigen ohne Unterschied des Geschlechts. Möglich, daß unter dem Eindruck der bedeutsamen Massenbewegungen des englischen Proletariats die liberale Re­gierung dem Wahlrecht für den weiblichen Geldbeutel um seiner reaktionären Wirkungen willen steigende Gunst zuwendet.

Sozialistische Frauenbewegung im Ausland.

I. K. Von Fortschritten der sozialistischen   Frauenbewegung in Holland   kann berichtet werden. Ungefähr dreißig Parteis und Gewerkschaftsblätter haben dem Sozialdemokratischen Frauenverband" ihre Bereitwilligkeit erklärt, einen besonderen Teil für die Frauenbewegung einzurichten. Der Verband hat ein Pressekomitee eingesetzt, das die betreffende Rubrik der Blätter mit Beiträgen versorgt. Wie wir schon früher berichteten, redigiert die Vorsitzende des Verbandes, Genossin Wibaut, feit einiger Zeit die Frauenseite des Zentralorgans der sozialdemokra tischen Arbeiterpartei, Het Volk". Für die Verbreitung und Aus­gestaltung des Verbandsorgans" De Proletarische Vrouw" find die Genossinnen unablässig tätig.

Allmählich steht auch eine größere Zahl von Rednerinnen der sozialdemokratischen Frauenbewegung zur Verfügung. Um die Heranbildung solcher zu fördern, stellt der Verband den sozial­demokratischen Frauenklubs ausgearbeitete Leitsäße über ver­schiedene Themata zu, nebst der dazu gehörenden Literatur­angabe. Wir hoffen, daß dank dieses Mittels in den einzelnen Klubs selbst sich führende Genossinnen heranschulen werden, auch haben die Leitsätze den Vorteil, den bereits rednerisch tätigen Ge­nossinnen die Möglichkeit zu rascher und sicherer Orientierung über bestimmte Fragen zu geben. Das wird zumal solchen Frauenklubs zunuze fommen, die nicht über die Mittel verfügen, sich Rednerinnen von auswärts tommen zu lassen. Immer mehr Parteiorganis sationen fordern Genossinnen zu einem Vortrag über die Frauenarbeit und ähnliche Fragen auf. Die Parteileitung gewährte dem Verband einen Beitrag zu den Kosten seiner Agi­tation unter den Frauen, und auch sonst gewinnen die Genossinnen für ihr Wirken die steigende Sympathie und Unterstützung der Genossen. Alles in allem: die sozialdemokratische Frauenbewegung Hollands   ist in rascherem Fluß als früher, es geht vorwärts.

N. Ankersmit, Amsterdam  .

I. K. Die Jahresversammlung des Internationalen Sozia­listischen Frauenrats für Großbritannien   hat in London   statt­gefunden. Die angeschlossenen Organisationen: Sozialdemokratische Partei  , Unabhängige Arbeiterpartei, Gesellschaft der Fabier, Liga für die Interessen der erwerbstätigen Frauen und verschiedene Ges werkschaften waren zusammen durch 17 Delegierte vertreten. Erster Gegenstand der Tagesordnung war die Neuwahl einer Leitung für die Körperschaft. Der alte Vorstand wurde einstimmig wiedergewählt, und an Stelle der leider verstorbenen Genossin Mac Donald trat Genossin Murby als Schriftführerin. Genossin Murby, die die Fabier vertritt, nahm das Amt an. Genossin Reeves- Norwich erstattete darauf ein Referat über Frauen und Kinder unter dem Armengesetz in Norwich  ". Die anschließende Diskussion wandte sich auch der Frage der sozialen Fürsorge für Schwachsinnige zu. Es wurde beschlossen, daß sich die nächste Quartalversammlung ein­gehend mit der Frage beschäftigen und womöglich eine Resolution ausarbeiten soll, die geeignet ist, als Grundlage für eine internatio= nale Erörterung der Frage durch die Genossinnen zu dienen. In den letzten Monaten wurde die Tätigkeit der englischen Genosfinnen vor allem durch die gewaltige Streitbewegung beherrscht, die auch die Arbeiterinnen ergriffen hatte, und durch die damit verbundene Aufgabe, diese der gewerkschaftlichen Organisation zuzuführen. Die ,, Liga für die Interessen der erwerbstätigen Frauen" arbeitet dabei Hand in Hand mit dem Landesverband der Arbeiterinnen"( Natio­nal Federation of Women Workers) und der Liga der Frauen­gewertschaften"( Women Trade Union League). Die erstgenannte Organisation ebnet dabei die Wege und bereitet den Boden für den gewerkschaftlichen Zusammenschluß der Arbeiterinnen. Es sind nicht die Arbeiterinnen eines Berufs oder eines Industriegebiets, die jetzt start das Bedürfnis nach gewerkschaftlicher Organisation empfinden. Nein, überall setzt sich dieses Bedürfnis unter ihnen durch. Jede Trade Union, die der Liga der Frauengewerkschaften" angegliedert ist, hat eine stattliche Zahl neuer Mitglieder gewonnen. Giner Gewertschaft von Weberinnen in Yorkshire   traten zum Beispiel binnen zwei Tagen 300 neue Mitglieder bei. Guten Zu wachs bekamen die Gewerkschaften der Schneiderinnen, der Schuh­arbeiterinnen und viele andere noch. Auch die Gewerkschaften, die

Nr. 4

Arbeiter und Arbeiterinnen eines Berufs zusammen organisieren, berichten von einem starken Zustrom der Arbeiterinnen. Mehr als 20 neue Zweigvereinigungen haben sich dem Landesverband der Arbeiterinnen" angeschlossen, der den Zweck verfolgt, die lokalen zerstreuten Arbeiterinnenorganisationen für ganz Großbritannien  zusammenzufassen und dadurch ihre Kräfte zu fonzentrieren. Es sind Arbeiterinnen der verschiedensten Berufe, die sich in den neuen Zweigvereinen organisiert haben: Konservenarbeiterinnen, Sack näherinnen, Zinnschachtelmacherinnen, Kabel-, Blei-, Korsett-, Zucker­warenarbeiterinnen, Salzverpackerinnen usw. Auch die Putz- und Scheuerfrauen in den Schulen des Londoner   Grafschaftsrats haben sich organisiert. Es gibt faum ein größeres Industriezentrum im Lande, in dem die Arbeiterinnen nicht in Bewegung geraten sind und sich zu organisieren beginnen. Es sind namentlich zwei Forde rungen, die allgemein von den Arbeiterinnen erhoben werden: höherer Lohn und kürzere, geregeltere Arbeitszeit. Eine besonders umfangreiche und kräftige Bewegung ist unter den Wäschereiarbei terinnen in Fluß gekommen. So in Cardiff  , Swansea  , Sunder­land, Acton, Hendon   und vielen anderen Orten noch. In Car  diff allein schlossen sich 1000 Wäscherinnen dem Landesverband der Arbeiterinnen" an, und von überallher wird gemeldet, daß große Versammlungen stattfinden, daß der Ruf nach Organisierung ertönt. Die Niedrigkeit des Lohnes und die unwürdige Tyrannei in den Betrieben treiben zusammen die Wäscherinnen zur Auf­lehnung und zum Zusammenschluß. Es versteht sich, daß die Liga für die Interessen der erwerbstätigen Frauen" diese Bewegung mit Rat und Tat fördert. Die Situation der letzten Monate hat ihr eine reiche Fülle von Arbeit gebracht, welche alle Kräfte aufs äußerste anspannt, aber auch gute Erfolge zeitigt. Sie konnte nicht weniger als acht neue Zweigorganisationen gründen, und die Konstituierung von vier weiteren steht bevor. Es ist eine Zeit der Aussaat, und der ausgestreute Samen schießt schnell in die Halme.

Frauenbewegung.

Frau Minna Caners fiebzigster Geburtstag, am 1. Novem ber, ist mit Recht als ein Ehren- und Freudentag von den Frauen­rechtlerinnen gefeiert worden, die zum linten Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung Deutschlands   zählen. Und auch über diesen engen Kreis hinaus werden viele mit großer Anerkennung und Sympathie der tapferen und selbstlosen Vorkämpferin der Frauenrechte gedacht haben. Es ist ein arbeits- und kampfreiches Leben, auf das diese frauenrechtlerische Führerin zurückblickt und mit Befriedigung zurück blicken darf, das Leben eines Menschen, der immer strebend sich bemühte". Unter inneren Schwierigkeiten, unter inneren Kämpfen hat Minna Cauer   um Erkenntnis gerungen, hat sie sich den Willen zur Tat gestählt, hat sie gehandelt. Die Ideale, denen ihr Lebens. werk dient, und die es gestalten, hat sie mit heiliger Inbrunst durch alle Stürme getragen. So ist die Greisin glaubensstark und jugendfrisch im Kampfe für sie geblieben, wo viele des nachrücken­den Geschlechts fleinmütig, wankend die Ziele niedriger und näher gesteckt haben. Minna Cauer   steht auf der äußersten Linken der bürgerlichen Frauenbewegung, die ihr viele wertvolle Anregungen, manche kräftigen Impulse verdankt. Sie muß insbesondere an erster Stelle unter denen genannt werden, die den Kampf für das Frauen wahlrecht zum Hauptziel der bürgerlichen Frauenbewegung erheben wollen, die unablässig bemüht sind, die frauenrechtlerischen Kräfte für diesen Kampf zu sammeln und zu schulen. Eine echt demokra tische Gesinnung ist es, die Minna Cauer   zur konsequenten, treuen Berfechterin der Frauenrechte macht. Daher bringt diese frauen­rechtlerische Führerin dem Vorwärtsdrängen des Proletariats zur politischen Demokratie und nach sozialen Reformen mehr Verständnis entgegen als die meisten ihrer Gesinnungsgenossinnen. Neben der Forderung gründlichen Arbeiterinnenschußes ist es namentlich die Losung des allgemeinen Wahlrechts, für die sie auf dem Boden einer bürgerlichen Auffassung kämpit. Daß sie den Weg zum wissen­schaftlichen Sozialismus nicht finden konnte, daß sie noch immer den Traum von einer Wiedergeburt der bürgerlichen Demokratie in Deutschland   träumt: ist bei ihrem Entwicklungsgang und ihrer Wefensart erklärlich. Minna Cauer   ist jedoch trotz allem ungebeugt durch die Bürde der Jahre vorwärts gegangen, auch dann, wenn sie nur kleine Gefolgschaft fand oder allein blieb. Sie wird in der Schönheit einer aufrechten liberalen Welt- und Lebensanschauung alten Stils sterben, aber wir wünschen zugleich, daß sie ihr zunächst noch viele Jahre dienen möge. Denn so oft wir mit ihr die Klingen freuzen mußten und vielleicht auch in Zukunft noch freuzen müssen: ihr Wesen und ihr Wollen ehren auch wir aufrichtig.

Berantwortlich für die Redaktion: Frau Klara Bettin( Bundel), Wilhelmshöhe, Post Degerloch bet Stuttgart  .

Druck und Berlag von J. H. M. Dtez Nachf. G.m.b.8. in Stuttgart  .